Anna-Theresa Korbutt HVV

Anna-Theresa Korbutt: "Die Stigmatisierung für oder gegen Auto/ÖPNV muss aufhören. Beide Systeme sind gleichwertig und aus unterschiedlichen Perspektiven richtig." (Bild: HVV)

Frau Korbutt, eine der zentralen Beobachtungen im Mobility Services Report 2023 ist eine zunehmende Konsolidierung des Marktes für Mobilitätsdienste. Als Lösung für Anbieter sieht Studienleiter Stefan Bratzel „Super-Apps“, die zahlreiche Angebote bündeln und Kunden im eigenen Ökosystem halten. Was ist die Super-App des HVV?

Der HVV möchte alle seine digitalen Leistungen perspektivisch innerhalb einer App abbilden. Dafür ist das Angebot der HVV switch-App unser Leitmotiv. Dort bieten wir schon jetzt sowohl integrierte Mobilität als auch das populäre HVV Deutschlandticket an. Weitere fahrgastrelevante Features werden schrittweise hinzugefügt. Es geht jedoch nicht um eine Super-App – es geht darum, Leistungen so zu vereinfachen, dass eine App in der Lage ist, diese abzubilden.

Die Autohersteller und der ÖPNV gelten nach wie vor eher als Konkurrenten im Mobilitätsmarkt. Welche Maßnahmen halten Sie für notwendig, damit sich dies ändert und die beiden Branchen eher als multimodale Partner gesehen werden?

Für mich gehört das Auto zum ÖPNV. Was beide Branchen schaffen müssten, ist die Sharing-Quote von privaten Pkws zu erhöhen – und das als integralen Bestandteil im ÖPNV. Die gefühlt gelebte Konkurrenz der Sektoren ist für mich eher schädigend und führt zu silo-artigen Denkstrukturen. Ich glaube, dass auf beiden Seiten jeder seinen Gewinn daraus erzielen kann, seine Geschäftsmodelle weiter zu entwickeln. Der primäre Schlüssel zum Erfolg sind jedoch die Kunden aus beiden Branchen – das Teilen muss gelernt und gewollt sein. Die Stigmatisierung für oder gegen Auto/ÖPNV muss aufhören. Beide Systeme sind gleichwertig und aus unterschiedlichen Perspektiven richtig. Eine Verzahnung wird aber nur gelingen, wenn alle Parteien über ihren eigenen Schatten springen. 

Im Kontext des Neun-Euro-Tickets und dessen Nachfolgers ist die Profitabilität des ÖPNV stärker in den Fokus der Diskussion gerückt. Würden Sie sich manchmal wünschen, der ÖPNV würde stärker oder sogar komplett aus Steuergeldern finanziert?

Ich sehe hier keine Vor- oder Nachteile für das System. Der ÖPNV muss sich – wie auch jedes andere Unternehmen auch –am direkten Kundenerfolg messen. Der einzige Unterschied ist, dass der ÖPNV mehrheitlich bestellte Leistungen bedient, die durch Drittgelder finanziert werden. Das führt automatisch zu einem Mitspracherecht der Finanzgeber. Am Ende haben wir jedoch zwei Parteien, die uns heute finanzieren – Kunden und Aufgabenträger. Wichtig ist immer: Es muss klare Einigkeit darüber bestehen, was die unmittelbaren Ziele sind und darauf muss zugearbeitet werden. Ich glaube nicht, dass ein Gratis-ÖPNV noch mehr Menschen vom ÖPNV überzeugen würde – daher ist es sinnvoll, für die Nutzung des Systems auch ein Entgelt zu verlangen. Das Deutschlandticket ist preislich schon sehr attraktiv und bildet eine gute Einstiegsplattform.

Anna-Theresa Korbutt spricht auf dem Mobility Circle 2023

Logo Mobility Circle

Am 08. und 09. November 2023 finden im Hochhaus Süddeutscher Verlag, München der automotiveIT car.summit sowie der Mobility Circle statt. Neben Anna-Theresa Korbutt sprechen auf dem Mobility Circle unter anderem Audis Entwicklungschef Oliver Hoffmann, Sebastian Lasek, Head of Vehicle&Systems Autonomous Driving bei Volkswagen, Moia-CEO Sascha Meyer und Franz Reiner, Vorstandsvorsitzender der Mercedes-Benz Mobility AG. Zudem stellt Co-Host und CAM-Direktor Stefan Bratzel die zentralen Ergebnisse des diesjährigen Mobility Services Report vor.

Im Kontext mit dem ÖPNV wird öffentlich häufig über die Nutzer, aber selten über die Mitarbeitenden der Verkehrsbetriebe gesprochen. Welche Kompetenzen müssen diese beim HVV in Zeiten der vernetzten Mobilität mitbringen?

In erster Linie Passion für ihre Aufgabe – das ist das, was jedes Geschäft gut und fruchtbar macht. Natürlich werden viele Aufgaben zunehmend digitaler und vernetzter. Das fordert uns alle in allen Lebenssituationen täglich heraus. Wie jede andere Branche auch müssen wir in unsere Mitarbeiter*innen investieren und sie fortbilden. Neues erklären und vorzeigen – am Puls der Zeit bleiben. Wenn wir das schaffen, können wir auch weiterhin das Beste für unsere Kund*innen erreichen. 

Zum Abschluss vielleicht noch eine persönlichere Frage von jemandem, dessen Weg ins Office rund 20 Minuten mit dem Auto, aber rund 70 Minuten mit dem ÖPNV dauert: Was sind Ihre zukünftigen Pläne dafür, die ruralen Gebiete besser an den städtischen Raum anzubinden?

70 Minuten im ÖPNV kann man grundsätzlich auch sehr sinnvoll und produktiv nutzen. Meine persönliche Erfahrung mit langen Pendlerzeiten ist: Mails, Telefonate, Vorbereitungen für Termine etc. – alles gut möglich und sinnvoll investierte Zeit. Das kann ich von den 20 Minuten Reisezeit mit dem Auto nicht immer behaupten. Aber wird der ÖPNV auch im ländlichen Gebiet überall präsent sein können? Das ist eine Frage der Finanzierung – auch die öffentlichen Haushalte können jeden Euro nur einmal ausgeben. Ich glaube deshalb nicht, dass wir alle Gebiete in Deutschland mit einem 10-Minuten-Takt versorgen können. Umso wichtiger wird es sein, den privaten Pkw zu einem Teil des ÖPNV zu machen – wenn Sie auf Ihrem Weg zum Büro noch zwei oder drei weitere Personen in die Stadt mit rein nehmen, dann ist uns allen schon sehr geholfen!

Nagel/Tiedemann der Interviewpodcast von den Chefredakteuren der automotiveIT
In der "Was mich bewegt"-Folge vom 03.11.2023 diskutieren Pascal und Yannick über Daten und Mobilität.

Ein Mehrwert für die Mobilität der Zukunft könnte ein komplett aus Steuergeldern finanzierter öffentlicher Nahverkehr sein. HVV-Geschäftsführerin Anna-Theresa Korbutt ist dagegen. Auch die Chefredakteure der automotiveIT Pascal und Yannick besprechen das Thema in ihrem wöchentliche Podcast-Format "Was mich bewegt" und sind nicht restlos überzeugt von der Idee des Gratis-ÖPNV. Jetzt reinhören zum Thema kostenloser ÖPNV (ab Minute 11:50).

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