Lina Eddisi und Thomas Buck

In finanziell anspruchsvollen Zeiten komme der IT eine entscheidende Enabler-Rolle zu, sind Lina Eddisi und Thomas Buck überzeugt. (Bild: Vitesco Technologies)

Herr Buck, unser letztes Interview ist über drei Jahre her. Damals war der Spin-off von Continental noch frisch und die Herausforderungen für einen CIO besonders groß. Wie weit sind Sie mit dem Carve-out der IT-Infrastruktur?

Buck: Der Carve-out liegt für uns weit in der Vergangenheit. Das Besondere am Spin-off der Vitesco-Technologies-IT bestand ja darin, dass wir frühzeitig eigenständig unterwegs sein wollten. So erlebten wir den ersten Tag der Vitesco Technologies gerade einmal mit sieben Transactional Service Agreements mit der Continental, die wir schon bereits ein Jahr später beenden konnten. Natürlich existieren noch ein paar Hinterlassenschaften aus der Übergangsphase wie zum Beispiel unserer „Interims Client“, der so designt ist, dass er sowohl bei Vitesco Technologies als auch bei Continental – in beiden Active Directories – existieren kann. Aber mit dem Rollout des Windows 11 Clients, der bis Ende 2024 abgeschlossen sein soll, wird auch dieses besondere Konstrukt als letztes Überbleibsel des Spin-off Geschichte sein.

Wie würden Sie den Aufbau des heutigen IT-Backbones von Vitesco Technologies skizzieren?

Buck: Das lässt sich tatsächlich in wenigen Worten zusammenfassen. Unser Backend folgt ein paar einfachen Prinzipen: Es ist plattformorientiert, cloud-prefered, security-embedded und hyper-automated.

 Frau Eddisi, Sie verantworten seit dem Spin-off die IT-Strategie von Vitesco. Wie würden Sie die wesentlichen strategischen Säulen definieren?

Eddisi: Aufbauend auf den Punkten, die Thomas schon zur Cloudstrategie und Cybersecurity genannt hat, würde ich die Standardisierung und das Rightsizing der IT-Infrastruktur durch Zurücksetzen und Neugestalten von Prozessen und Tool-Landschaften als wesentliche Aufgaben ergänzen. Mit dem Spin-off von Continental sind wir ja sozusagen von einem großen Haus in ein kleineres umgezogen und müssen nun schauen, welche Kisten wir mitnehmen und welche wir in der Garage lassen, um in dem Bild zu bleiben. Darüber hinaus experimentieren wir gerade sehr erfolgreich mit Automatisierungsthemen wie Low Code, Robotic Process Automation oder auch Process Mining. Hier haben wir im Unternehmen schon zahlreiche Use Cases etablieren können. Nicht zuletzt ist ein weiteres strategisches Fokusthema die Entwicklung einer, wie wir es nennen, Digital Seamless User Experience. Wenn die Zahl der digitalen Tools in einem Unternehmen so rasant zunimmt, gilt es auch, die Bedienung zu vereinfachen und vor allem zu vereinheitlichen. Zu guter Letzt das Hauptthema von Thomas’ Keynote auf dem diesjährigen automotiveIT-Kongress: künstliche Intelligenz durch Entwicklungsplattformen und Verwendung in den Unternehmensanwendungen.

Wie sehr hat Ihnen beim Aufbau einer übergreifenden IT-Strategie eigentlich die Coronakrise einen Strich durch die Rechnung gemacht?

Eddisi: Natürlich stand zu Beginn der Pandemie auch weiterhin das Credo „make spin-off happen“ ganz oben auf der Agenda. Das bedeutete, dass es zunächst im Kern darum ging, das Rightsizing der IT-Infrastruktur und das Kopieren der wichtigsten Tools und Systeme umzusetzen. Aber zugleich haben wir vor allem in der Coronaphase die wesentlichen Säulen der IT-Strategie aufgebaut – und da hat uns Corona sogar eher einen zusätzlichen Push gegeben. Wenn man beispielsweise auf Themen wie Modern Workplace und mobiles oder hybrides Arbeiten schaut, waren die Pandemie und deren Auswirkungen eine Art Katalysator.   

In Krisen wird die IT schnell wieder vom Enabler zum Kostenfaktor. Konnten Sie Ihre Budgets auch in schwierigen Zeiten aufrechterhalten?

Buck: In schwierigen Zeiten müssen alle mithelfen. Natürlich legen wir in der IT Kostenbewusstsein an den Tag. Eine Investition in die IT kann zu deutlichen Effizienzsteigerungen im ganzen Unternehmen führen, das sieht auch unser Executive Board so. Es ist ganz einfach: Je mehr Sie sparen müssen, desto mehr IT ist oft gefragt. Sei es in Sachen Automatisierung oder Data Analytics, in finanziell anspruchsvollen Zeiten kommt der IT eine entscheidende Rolle zu. Um die Frage also konkret zu beantworten: Nein, ich hatte bislang nie ein Problem, das nötige Budget zu bekommen, um das Unternehmen IT-seitig voranzubringen.

Wie sieht Ihre Cloudstrategie aus und was sind die nächsten Schritte? Gehört On-Premises komplett der Vergangenheit an?

Buck: Nicht ganz, momentan hosten wir noch die gesamte SAP-Landschaft on-premise. Das war beim Spin-off der Vitesco Technologies IT-seitig das Einzige, was wir eins zu eins ins Rechenzentrum unseres Dienstleisters kopiert haben. Aber auch da sind wir gerade in einem Projekt dabei, die SAP-Systeme über den sogenannten SAP-Rise-Ansatz in die Cloud zu heben. Die restliche IT-Infrastruktur ist bei uns in der Cloud, wir haben beim Spin-off mit AWS nur auf einen Cloudanbieter gesetzt. Für all das haben wir eine eigene Plattform entwickelt, die Vitesco Cloud Foundation. Die soll sicherstellen, dass Cloud-Accounts sicher sind und unseren Standards entsprechen. Die Plattform ist mittlerweile erweitert auf die Microsoft Azure Cloud, so dass man bei Vitesco Technologies auf zwei verschiedene Cloudangebote mit den entsprechenden Services zurückgreifen kann. Wir denken aktuell darüber nach, die Plattform auch für einen dritten Cloudanbieter zu öffnen.

Sprechen wir über KI: Spätestens seit ChatGPT sind intelligente Algorithmen in aller Munde. Wo ist KI heute schon bei Vitesco Technologies im Einsatz?

Buck: Operativ im Einsatz befindet sich künstliche Intelligenz bei uns vor allem in der Fertigung. Auch hier haben wir eigens eine Plattform geschaffen, die die Werke mit den entsprechenden KI-Frameworks für die Implementierung entsprechender Use Cases unterstützt. Dazu gehört beispielsweise die End-of-Line-Inspection, bei der smarte Algorithmen kamerabasiert entscheiden, ob ein Teil qualitativ den Anforderungen entspricht oder nicht. Das sind sozusagen die klassischen Machine-Learning-Szenarien, bei denen wir in der Umsetzung schon am weitesten sind. Beim Blick auf Generative AI – und Sie haben das Thema ChatGPT angesprochen – sehen wir gerade unter anderem großes Potenzial im Engineering-Umfeld. Hier denke ich beispielsweise an die Analyse und den Vergleich von Anforderungen verschiedener Kunden bei der Erstellung der passenden Test-Cases bis hin zur Unterstützung bei der Softwarenentwicklung. Dabei diskutieren wir auch den Faktor Human-in-the-Loop. Sprich: Am Ende muss immer noch ein Mensch die KI-erzeugten Ergebnisse kontrollieren und überprüfen. Aber grundsätzlich wird uns vor allem die generative KI im Entwicklungsumfeld mehr Geschwindigkeit einbringen und damit die immer wichtiger werdende Time-to-Market verkürzen.

Thomas Buck spricht auf dem automotiveIT Kongress 2023

Thomas Buck
(Bild: facesbyfrank)

Auf dem automotiveIT Kongress 2023 am 20. September in Berlin spricht Vitesco-CIO Thomas Buck über die Potenziale künstlicher Intelligenz für Automobilunternehmen. In der Post-Pandemie-Wirtschaft liegt der Fokus auf Technologie, Talentakquise und Gewinnsteigerung. Künstliche Intelligenz erlebt den stärksten Aufschwung, doch viele Führungskräfte zögern bei ihrer Implementierung. Dies könnte im globalen Wettbewerb zum Nachteil werden. Thomas Buck diskutiert in seinem Deep-Dive-Vortrag aktuelle KI-Trends und ihre Anwendung zur Wertsteigerung in Unternehmen.

 

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Mit welchen KI-Szenarien planen Sie für die Zukunft? Wo geht die Reise hin?

Eddisi: Bislang wird künstliche Intelligenz meiner Ansicht nach noch viel zu wenig in der Interaktion mit dem Kunden eingesetzt. Wir kennen das aus dem B2C-Bereich, dort ist der Einsatz von Chatbots schon längst an der Tagesordnung. Aber auch im B2B-Bereich sehe ich großes Potenzial für die Kommunikation mit den Kunden und die Verbesserung der allgemeinen Customer Experience. Dazu kommen noch Bereiche wie Verwaltung oder Finance, wo Generative AI einen deutlichen Effizienzgewinn einbringen kann.

 Können Sie uns vielleicht ein konkretes Beispiel nennen?

Eddisi: Da kann ich direkt bei meiner persönlichen Erfahrung anknüpfen. Ich habe ChatGPT gefragt, wie eigentlich eine IT-Strategie aussehen könnte und ich war einigermaßen baff, wie gut das Resultat war (lacht). Die Antwort berücksichtigte zahlreiche Best Practices, fokussierte sich auf Technologien und Ökosysteme und umfasste ein Marktverständnis, was schon sehr beeindruckend war. Das Einzige, was gefehlt hat, war der Rückbezug zum Unternehmen und die menschliche Komponente, also all das, was Kultur-, Leadership- oder New-Work-Themen tangiert. Von daher würde ich zum heutigen Stand der Entwicklung nicht sagen, dass generative KI in jeglichem Kontext den Menschen ersetzen könnte – eine wichtige Unterstützung ist sie allemal. Dennoch sollten wir KI nicht nur als Technologie verstehen: Es wird unsere Gesellschaft und was es bedeutet, Mensch zu sein, verändern.

Hilft künstliche Intelligenz auch im Zusammenhang mit den immer strenger werdenden Nachhaltigkeitsanforderungen?

Buck: Davon bin ich mehr als überzeugt. Bei uns und auch bei vielen anderen Unternehmen kommt der überwiegende Anteil des CO2-Footprints nicht aus dem Unternehmen selbst, sondern aus der Supply Chain. Und hier können wir mit künstlicher Intelligenz an einigen Stellen den CO2-Footprint spürbar optimieren. Dazu haben wir auch schon einen Prototyp entwickelt, bei dem wir zeigen konnten, dass das Mapping von Bauteilen in der Lieferkette mit den gängigen CO2-Tabellen von einer KI übernommen werden kann. Sie kann meiner Meinung nach aber auch hervorragend dafür genutzt werden, Handlungsszenarien für das schnellere Erreichen unserer CO2-Ziele aufzusetzen.

Sprechen wir über New Work und den War for Talents: Herr Buck, Ihnen liegt ein modernes Führungsverständnis besonders am Herzen. Das haben Sie im vergangenen Jahr auch auf dem automotiveIT-Kongress deutlich gemacht. Was macht die Führungskraft Thomas Buck aus?

Buck: Ich bin schon etwas länger in Führungsverantwortung und habe mich dahingehend auch weiterentwickelt. Über die Jahre haben sich zwei zentrale Werte herauskristallisiert: Zum einen ist dies Authentizität. Für das Team ist es immer besser zu wissen, dass die eigene Führungsperson verlässlich und berechenbar ist. Das hilft allen, besser zu planen und so entsteht Vertrauen. Und dazu gehört zum anderen auch das Thema Empathie. Ich habe mittlerweile ein gutes Gespür, wie es meinen Mitarbeitern in ihren Projekten geht und habe Wege entwickelt, wie ich auf sie zugehen und Themen offen ansprechen kann. Das hilft, einen Rahmen zu schaffen, in dem die Mitarbeiter ihre Skills voll zum Tragen bringen und ihre bestmögliche Arbeit abliefern können. Dieses Umfeld schafft dann wiederum Vertrauen.

Wie präsent sind Sie selbst als CIO in der täglichen Arbeit, in den Projekten?

Buck: Das ist mir trotz Homeoffice und Trend zur mobilen Arbeit sehr wichtig. Ich bin täglich im Büro und in den Teams vor Ort unterwegs. Ich habe das den Mitarbeitern auch klar kommuniziert, dass sie mich jederzeit direkt ansprechen können. Das funktioniert hier am Standort in Regensburg sehr gut, international sieht es logischerweise etwas anders aus. Da bin ich dazu übergegangen, Kollegen mehr oder wenig zufällig anzurufen, was am Anfang erst einmal Verwirrung gestiftet hat (lacht). Neben dem gar nicht so unwichtigen Smalltalk stelle ich dabei immer eine für mich sehr wichtige Frage: Was kann ich tun, um deinen Job zu vereinfachen? Daraus haben sich schon viele Dinge ergeben, auch wenn man logischerweise nicht jeden Wunsch umsetzen kann. Aber das trägt dazu bei, dass ich als CIO – und das ist meine Wahrnehmung – als sehr nahbar gelte.

Frau Eddisi, ist das Vor-Ort-Sein in einer hybriden Arbeitswelt für Sie genauso wichtig?

Eddisi: Ich sitze schon immer in Berlin, jeder aus meinem Team sitzt in Regensburg. Seit vier Jahren leite ich mein Team komplett virtuell und das funktioniert ziemlich gut. Ich bin zwar auch regelmäßig in Regensburg vor Ort, dennoch bin ich nicht der Meinung, dass eine Teamleitung zwingend auch physisch beim Team präsent sein muss. Das liegt vielleicht auch ein wenig an der Altersstruktur: Ich bin Mitte dreißig, alle anderen in meinem Team sind um die dreißig. In dieser Generation lässt sich eine empathische, offene Führungskultur auch virtuell gut umsetzen.

Der nachwachsenden Generation sagt man nach, besonders stark nach dem Purpose im Unternehmen zu fragen. Kommt einer klaren IT-Strategie damit auch eine Schlüsselrolle im Recruiting zu, um junge Talente für sich zu gewinnen?

Eddisi: Das ist auf jeden Fall so. An erster Stelle steht dabei aber Flexibilität. Menschen aus der Generation Y oder Z ist es zunehmend wichtig, dass sie im Prinzip von überall auf der Welt arbeiten können und sie fordern dies auch von Arbeitgebern ein. Da, habe ich das Gefühl, sind wir in der Automobilindustrie noch zu unbeweglich, das muss sich schneller ändern. Was das Thema Purpose anbelangt, sind wir bei der Vitesco Technologies schon ziemlich gut aufgestellt, da das Unternehmen ganz klar für eine saubere Mobilität der Zukunft steht. Aber es geht dabei auch darum, Mitarbeitenden ein Arbeitsumfeld und Arbeitsinhalte zu bieten, die sie weiterbringen und die eigene Lernkurve hochhalten lassen. Demnach ist das Stichwort „Employability“ für uns auch sehr entscheidend.

Herr Buck, Sie verstehen sich stark als Evangelist der Digitalisierung im eigenen Unternehmen. Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang dem Tandem-Konzept aus CIO und CDO gegenüber, wie es in vielen Unternehmen praktiziert wird?

Buck: In den letzten Jahren haben sich einige Unternehmen für ein solches Modell entschieden, einige haben auch wieder Abstand von der Trennung von CIO und CDO genommen. Um es klar zu sagen: Für mich ist die Trennung kein tragfähiges Konzept. Der CIO ist qua Definition eine Schnittstellenfunktion und die Digitalisierung letztlich ein IT-Thema. Bei uns liegen die entsprechenden Ressourcen und das Knowhow, digitale Technologien zu antizipieren und auch umzusetzen. Neue Digitaleinheiten mit einem CDO als Kopf sind oft schmaler besetzt und benötigen dann häufiger wieder das Backup aus der IT. Bei Vitesco Technologies sind wir in der IT sehr nah am Business und tauschen uns intensiv über Digitalisierung aus, weswegen eine eigene Digital Unit bei uns nicht existiert.

Das Interview führten: Pascal Nagel und Yannick Tiedemann

Zur Person: Lina Eddisi

Lina Eddisi
(Bild: Vitesco Technologies)

Nach ihrem Master-Abschluss in Strategy & Entrepreneurship arbeitete Lina Eddisi zunächst in der PR bei Estée Lauder Companies und bei Walt Disney. 2014 wechselte sie in die Autoindustrie als Senior Manager M&A and Strategy bei Elektrobit und drei Jahre später als Head of Incubation bei Continental. Seit dem Spin-off der Vitesco Technologies verantwortet sie dort IT-Strategiethemen und ist seit 2023 Head of IT Strategy beim Antriebsspezialisten. Sie wohnt und arbeitet in Berlin.

Zur Person: Thomas Buck

Thomas Buck
(Bild: Vitesco Technologies)

Seit Januar 2019 ist Thomas Buck CIO bei Vitesco Technologies. Er begleitete die Abspaltung der Antriebssparte vom Mutterkonzern Continental, wo er zuvor als CIO der Automotive-Sparte tätig war. Der Diplom-Ingenieur (FH) für Maschinenbau kam nach seinem Berufseinstieg bei einem mittelständischen IT-Dienstleister sowie diversen Funktionen bei Siemens VDO als Leiter Engineering Data Management zu Continental Automotive. Im Juli 2011 wurde er zum Leiter der Abteilung Unternehmensinfrastruktur im Bereich Corporate IT ernannt. Die Position bekleidete er bis Juni 2016.

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