CIO Alexander Stamm im Interview mit der automotiveIT

"Ich bin viel zu bescheiden, zu behaupten, der CIO sei der Navigator in unserem Unternehmen. Vielleicht passt das Bild des Lotsen besser", sagt Mann+Hummel-CIO Alexander Stamm. (Bild: Mann+Hummel)

Herr Stamm, Sie sind seit 2019 CIO bei Mann+Hummel. Seit 2020 gibt es im Grunde nichts außer Krisenzeit. Wie sehr haben Sie die letzten Jahre in Ihrer Arbeit beeinflusst?

Um das zu beantworten, muss man sich nur einmal bewusstwerden, wie wir drei gerade kommunizieren (Anm. d. Redaktion: Interview wurde virtuell geführt.). Die Anzahl der physischen Meetings ist weniger geworden, ob mit Kunden, Lieferanten oder Partnern, wir reisen einfach deutlich weniger. Darüber hinaus haben wir in der Coronaphase sehr deutlich vor Augen geführt bekommen, wie sich die Art und Weise, wie wir heute arbeiten und kollaborieren, in Unternehmen wie dem unsrigen spürbar verändert hat. Dabei wurde klar, wie wichtig in diesem Kontext der Faktor Mensch im direkten Zusammenspiel untereinander ist und wie Kreativität auch dann entsteht, wenn Menschen zum Beispiel vor einem weißen Blatt Papier auf dem Flipchart stehen und das auch direkt bearbeiten können. Darüber hinaus habe ich in dieser Phase zwei wesentliche Herausforderungen gesehen: Wir haben beispielsweise beim Aufbau unserer IT-Landschaften auf die harte Tour lernen müssen, wie viel bedeutsamer Speed ist und vor allem, dass alles, was wir in der IT bauen und gestalten, unbedingt anpassungsfähig sein muss. Beide Werte waren in den zurückliegenden Krisenjahren extrem wichtig und, wenn Sie mich fragen, wird die Bedeutung künftig noch zunehmen.

 

Wie schnell und anpassungsfähig war bei Mann+Hummel die IT, als Sie vor vier Jahren dort angefangen haben?

Die Situation damals war nicht einfach. Vor meiner Zeit war in der IT nicht alles glatt gelaufen. Das betraf unter anderem den Aufbau interner Shared Services und eines End-to-End-Servicedesigns. Mein Start bei Mann+Hummel war daher ein Start auf einer Baustelle. Das birgt einige Nachteile, kann aber auch eine Reihe an Chancen bieten. Denn überall dort, wo disruptiv etwas eingerissen wurde, besteht viel Raum für Neues. Sozusagen Glück im Unglück. Wir haben dann ab 2019 mit den Teams begonnen, im Rahmen einer großangelegten Transformationsinitiative die gesamte IT umzukrempeln. Wir waren zu Beginn der Pandemie ohnehin schon im Veränderungsmodus, daher ist es uns eventuell auch leichter gefallen, auf die Krise zu reagieren.

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In Zeiten von Corona, Materialmangel und logistischen Herausforderungen kommt dem CIO als Navigator eine zentrale Rolle zu. Wie konnten Sie und Ihr Team Ihr Geschäft unterstützen in dieser Zeit?

Zunächst einmal: Ich bin viel zu bescheiden, zu behaupten, der CIO sei der Navigator in unserem Unternehmen. Vielleicht passt das Bild des Lotsen besser, denn wir begreifen uns in der IT vor allem als geschäftsprozessunterstützend. Stolz bin ich darauf, dass wir es als Familienunternehmen mitten in einer Pandemie geschafft haben, massiv in das Thema Daten zu investieren und zu überlegen, wie wir hier neu denken und gestalten können. Ganz zentral dabei war unsere Initiative zum Process Mining (zusammen mit den Partnern Celonis und Accenture, Anm. d. Redaktion), die uns heute schon gute Ergebnisse liefert und uns dabei hilft, Optimierungspotenziale für unsere Abläufe zu identifizieren.

Dennoch war es doch angesichts der Baustellen und überlappenden Krisen sicher schwierig, ausreichend Raum für Innovation zu schaffen.

Tatsächlich – und diese Erkenntnis überrascht mich immer wieder – war für uns in den letzten Jahren der etwas abgegriffene Spruch „Not macht erfinderisch“ ziemlich passend. Das können wir intern ganz gut im Kontext unseres IT Innovation Awards sehen. Hier zeigen die Teams, welche kleinen und großen Innovationen zuletzt umgesetzt wurden und wir stellen fest, dass sich gerade zuletzt der Erfindungsreichtum enorm vergrößert hat. Ich könnte daher nicht behaupten, dass bei uns Innovation während der Krisenjahre auf der Strecke geblieben ist. Vielleicht wäre das eher eingetreten, wenn die Fahrwasser etwas ruhiger gewesen wären.

 

Frage an die IT im Maschinenraum: Wie geht es mit der Cloudifizierung voran und was sind die nächsten Schritte?

Keine Frage, der Zug in die Cloud ist nicht mehr zu stoppen. Bei Mann+Hummel ist dieser Zug etwas verspätet aus dem Bahnhof gerollt, wie dies für andere Unternehmen unserer Größenordnung auch gilt. Aber ich kann behaupten, dass wir ordentlich an Fahrt aufgenommen haben. Wir verfolgen eine sehr klare Cloud-Plattformstrategie in Richtung Software as a Service (SaaS) und im Bereich IT-Infrastruktur setzen wir auf Multi-Hybrid-Cloudumgebungen. In der zweiten Jahreshälfte wird unser Konzernrechenzentrum außer Betrieb gehen und einige Umfänge davon in eine Colocation wandern. Bei aller Cloudifizierung sollte jedoch nicht die Bedeutung von Edge Computing für das Zusammenspiel von IT und OT außer Acht gelassen werden. Da müssen wir gerade im Blick auf unsere dezentralen Werke weiterhin alle Zügel in der Hand behalten, von der Security, Steuerung über Architektur bis zum Tagesbetrieb. Daher braucht es für mich unbedingt eine Balance zwischen Cloudifizierung und Edge.

 

Das Portfolio von Mann+Hummel hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert – vor allem im Kontext der Antriebswende. Welche Auswirkungen hatte das auf die IT?

Das muss man differenziert betrachten. Die Veränderungen des Produktportfolios in unseren Transportation Units spüre ich in der IT nur bedingt. Alles, was im Bereich Filtration in Kraftfahrzeugen passiert, folgt schlichtweg den alten Geschäftsmodellen. Für uns in der IT ist es irrelevant, ob ein Fahrzeug einen Luft- oder Ölfilter benötigt oder ein E-Auto Filtration für die E-Achse. Spannender wird es für uns an dem Punkt, wo wir uns als Spezialist für Filtrationstechnologien außerhalb der Automobilindustrie bewegen. Im Geschäftsbereich Life Sciences & Environment kümmern wir uns generell um saubere Luft und sauberes Wasser und bedienen damit eine Vielzahl an Industrien und Kunden mit völlig anderen Regelwerken und Prozessen. Hier müssen wir uns als althergebrachter Autozulieferer komplett neu erfinden. In der Konzern-IT versuchen wir diesen Prozess mit teils ganz unterschiedlichen maßgeschneiderten Lösungen zu unterstützen.

Wie eng sind Sie und Ihr Team an der Entwicklung smarter, digitaler Produkte beteiligt?

Wie üblich in der Automobilindustrie sind auch bei uns Produkt-IT und Business-IT relativ stark voneinander getrennt. Doch auch wir müssen feststellen, dass das Netzwerk an Berührungspunkten dichter wird, beispielsweise wenn wir über Security-Themen sprechen. Spannend wird es für mich, wenn wir den Automobilsektor verlassen und uns dort die Produkt-IT anschauen. Da haben wir heute schon wesentlich mehr Berührungspunkte, um Plattformen, Konnektivität, Technologien oder Security zur Verfügung zu stellen.

Wo liegen die spezifischen Herausforderungen für die IT, wenn man sich neuen Industrien zuwendet?

Ein Beispiel wäre das Thema E-Commerce oder das Bedienen von Online-Marktplätzen. In unserem Erstausrüstungsgeschäft war das bis jetzt weniger interessant. In unserem Aftermarket-Geschäft und unserem Life Sciences & Environment Business wird dies jedoch immer interessanter. Heutzutage gehört das zum Rüstzeug in der IT-Welt einfach dazu. Wir müssen unsere gelernten Denkmuster manchmal einfach hinter uns lassen und mehr aus der Perspektive unserer Kunden denken. Aber das ist eine Herausforderung, der wir uns gerne annehmen.

 

Welche Rolle spielen hier die neuen Digital Hubs?

Im Kern geht es dort um die Entwicklung neuer digitaler Produkte und Geschäftsmodelle. Das ist freilich keine besonders neue Idee, aber sie ist für ein Unternehmen wie Mann+Hummel dennoch erfolgskritisch. Die Hubs sind Inkubatoren, in denen mit modernsten Methoden und Skills, nahe angesiedelt an Universitäten und der Startup-Szene, möglichst schnell Neues und Innovatives erschaffen wird. Dort existieren einfach Freiheitsgrade, die für Innovation enorm wichtig sind, und die auch in mittelgroßen Unternehmen nicht unterdrückt, aber schon abgedämpft werden. Ein Unternehmen mit über 80-jähriger Geschichte und mehr als 22.000 weltweiten Mitarbeitern hat seine Prozesse und Strukturen. Diese haben uns erfolgreich gemacht, können aber auch zu niedrigen Innovationsgeschwindigkeiten führen. Die digitalen Inkubatoren, die wir geschaffen haben, bewegen sich zunächst einmal im Innovationsspektrum von null bis eins. In dem Moment, da sich entwickelte Ideen bewährt haben, erfolgt die Rückkopplung ans Mutterschiff und das Zurverfügungstellen der Lösung für die Skalierung und Industrialisierung im Konzern. Daher ist es wichtig, dass die Hubs möglichst nahe am Kerngeschäft arbeiten, dennoch über die nötigen Freiheitsgrade verfügen, neu zu denken.

Über die Hubs erhoffen Sie sich vermutlich auch, die richtigen Digitalexperten an den Konzern zu binden?

Zunächst ist es für junge Digital-Talente nachvollziehbarerweise viel attraktiver, in solchen Digital Hubs innovativ sein zu können, als in der Zentrale eines Fünf-Milliarden-Euro-Unternehmens zu arbeiten, in dem die Prozesse wesentlich statischer ablaufen. Ich hatte ja bereits erwähnt, dass wir die Inkubatoren ganz bewusst nahe an den Universitäten und Hochschulen angesiedelt haben, um die Talente anzusprechen und sie zu überzeugen, bei einem Unternehmen wie Mann+Hummel anzufangen. Ein großer Pluspunkt ist sicher der Gestaltungsspielraum, den wir bieten und der in der Form vielleicht in noch größeren Konzernen nicht so stark ausgeprägt ist. Das könnte im War for Talents ein entscheidender Vorteil sein.

Kommen wir noch einmal zurück zum Kerngeschäft: Einige CIOs haben in Gesprächen mit uns ein Zeitalter der Automatisierung in der Informationstechnologie vorausgesagt. Stimmen Sie zu?

Grundsätzlich befinden wir uns bekanntlich im Zeitalter der Digitalisierung. Die vielen Facetten der Digitalisierung können wir auch in Automatisierung übersetzen und das betrifft natürlich stark die Kernwertschöpfung, die eine IT in einem Unternehmen wie Mann+Hummel zu leisten hat. Die Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung ergeben, gelten dabei nicht nur im Produktkontext, sondern sollten auch spürbaren Einfluss auf die Prozesse innerhalb der IT haben. Wir müssen selbst effizienter werden und das funktioniert eben genau durch Automatisierung. Ob ich das jetzt als Zeitalter bezeichnen würde, weiß ich nicht. Es ist in jedem Fall ein Trend, der uns einige Chancen bietet.

Eine Diskussion, die immer wieder geführt und je nach Umständen immer wieder anders beantwortet wird, ist die um Kerneigenleistung und Sourcing. Was macht die IT bei Mann+Hummel selbst und was geben Sie an Partner?

Wenn wir über Outsourcing sprechen, dann über die typischen Themen wie Commodity-IT beziehungsweise transaktionale Aufgaben. Gerade bei Letzterem haben wir uns jedoch dazu entschieden, einen internen IT-Service-Hub in Indien und Tschechien aufzubauen und diesen stark zu skalieren. Hätten wir diese Option nicht, würde ich diese Themen ins Outsourcing geben. Wir haben heute eine Best-Cost-Country-Rate von knapp 50 Prozent. Dieser Anteil wird in den kommenden Jahren noch ein Stück weit ansteigen.

 

Was sind denn Umfänge, die Sie nie nach draußen geben würden?

Das lässt sich klar beantworten: geschäftsprozessnahe Business-IT, gerade in den differenzierenden Kernbereichen wie beispielsweise Produktentwicklung, Produktion oder Logistik. Alles, was wir dort in der IT leisten, um die entsprechenden Prozesse zu unterstützen, sind Differenzierungsfaktoren. Die werden wir niemals nach draußen geben. Auf der anderen Seite des Spektrums befindet sich die IT-Bebauung, die Architektur, bei der wir in der IT ebenfalls die Kompetenzen haben müssen, diese Themen selbst zu gestalten. Natürlich holt man sich an der ein oder anderen Stelle Hilfe von außen, aber bei den Kernthemen, bei den Säulen unserer Konzern-IT, müssen wir ganz klar Benchmarking betreiben.

Bei knappen IT-Ressourcen kann der Blick in die Fachbereiche schweifen. Wie stehen Sie zu Low Code/No Code?

Da hat sich in den vergangenen Jahren unheimlich viel getan. Citizen Developer und Citizen Analysts sind für uns längst keine Fremdworte mehr. Wir versuchen uns daran auch, doch ein Selbstläufer ist das nicht. Obwohl Low Code/No Code ja einen Effizienzvorsprung verspricht, stellen wir fest, wie hoch der Aufwand in Sachen Governance, Steuerung und Security ist, entsprechende Plattformen und Anwendungen in der Spur zu halten. Wir müssen in der IT in der Konsequenz begleitend steuern und Leitplanken setzen, so dass wir ressourcenseitig am Ende des Tags wirklich profitieren und wir uns mit Low Code/No Code nicht in den Fuß schießen.

Ein wichtiges Thema ist der digitale Zwilling. Sind Ihre Werke bereits komplett in virtuelle Welten überführt?

Schön wär’s. An diesem Punkt sind wir noch nicht und es ist auch immer noch ein langer Weg. Das liegt zum einen an dem sehr heterogenen Ursprung unserer Fabriken und den langen Investitionszyklen der Technologie, die dort im Einsatz ist. Das verlangsamt Standardisierung enorm und es bleibt noch unendlich viel zu tun. Wenn es darum geht, Maschinen, die teilweise schon 30, 40 Jahre alt sind, im Retrofit smarter und vernetzter zu machen und damit die Voraussetzungen für einen digitalen Zwilling zu schaffen, dann sind wir schon auf einem sehr guten Weg. Aber auch dort trifft wieder einmal Geist auf Materie, auf Heavy Metal, und ist daher schwer zu bewegen. Während ich auf der grünen Wiese viel einfacher eine Durchgängigkeit herstellen kann, ist es bei uns beinharte und langwierige Arbeit, die Technologien entsprechend zu befähigen oder an manchen Stellen auch auszutauschen. Dennoch: In Sachen „connect the unconnected“ haben wir bis heute schon ein sehr hohes Niveau erreicht.

 

Zum Schluss ein Blick zurück und nach vorn: Ausgehend von der Baustelle, die Sie vor vier Jahren bei Mann+Hummel vorgefunden haben, wie zufrieden sind Sie heute mit dem Baufortschritt?

Die Antwort auf diese Frage hat mehrere Facetten: Zum einen bin ich sehr stolz auf die Teams, die es in den schwierigen Krisenjahren geschafft haben, sowohl die IT-Transformation als auch den Wandel im Business voranzutreiben. Wenn ich auf die angesprochenen Baustellen blicke, fühlt es sich für mich schon noch so an, als seien wir mittendrin im Umbauprozess. Das betrifft das ganze Unternehmen Mann+Hummel, aber natürlich auch die gesamte Industrie. Als IT werden wir auch in naher Zukunft die Gummistiefel nicht ausziehen können.

Zur Person

CIO Alexander Stamm von Mann+Hummel
"Wir müssen unsere gelernten Denkmuster manchmal einfach hinter uns lassen und mehr aus der Perspektive unserer Kunden denken." (Bild: Mann+Hummel)

Alexander Stamm schaut inzwischen auf mehr als 20 Jahre Erfahrung in Automotive & IT zurück. Nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens stieg er beim Zulieferkonzern Magna ins globale IT-Projektgeschäft ein und übernahm ab 2002 die IT-Leitung in einem der Geschäftsbereiche. Anfang 2013 wechselte er als CIO zum Zulieferer Benteler und zeichnete dort für die IT und alle Digitalisierungsinitiativen der Unternehmensgruppe verantwortlich. Seit Beginn 2019 ist Alexander Stamm in der Konzernleitung bei Mann+Hummel als CIO tätig und leitet dort die weltweite IT und darüber hinaus alle Shared Business Services.

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