Joachim Mathes, Chief Technical Officer der Business Group Comfort & Driving Assistance bei Valeo im Interview.

Beim Umstieg auf neue E/E-Architekturen benötigt es einen harten Switch, erklärt Joachim Mathes, Chief Technical Officer der Business Group Comfort & Driving Assistance bei Valeo. (Bild: Valeo)

Herr Mathes, die zonale E/E-Architektur ist seit Jahren in aller Munde. Ist die Aufteilung in Domänen nicht mehr zeitgemäß?

Zunächst stellt sich die Frage, ob zonale Architektur und Domänenarchitektur wirklich Widersprüche sind. Ich halte die Erzählung ein Stück weit für irreführend, dass es sich hierbei um eine lineare Entwicklung handeln würde. Was tatsächlich passiert und was natürlich Zeit braucht, weil es so stark in die Architektur der Fahrzeuge und die Geschäftsmodelle der Unternehmen eingreift, ist eine Entwicklung zum software-defined Vehicle. Bei der traditionellen Herangehensweise wurde versucht, Basisausstattungen günstig in den Markt zu bringen und alle Sonderausstattungen über eigene Anschlüsse an die bestehende Architektur anzubinden. Durch diese Kapselung hat es weder richtige Zonen noch Domänen gegeben. Das hat jahrzehntelang gut funktioniert. Inzwischen haben sich aber die Anforderungen der Kunden verändert. Auf die Hersteller kommt ein immenser Aufwand bei der Systempflege zu. Deshalb muss die Hardware standardisiert und die Anzahl der Varianten dramatisch reduziert werden. Ob dafür nun eine zonale Architektur genutzt wird, ist erstmal zweitrangig. Das wichtigste Merkmal der aktuellen Entwicklung ist die Zentralisierung der Rechenleistung. Unter anderem lässt sich dies im Infotainment oder bei der Einbindung in Kommunikationsnetzwerke und Cloud-Systeme beobachten.

Wie unterscheidet sich der zonale Ansatz denn von einer Domänenarchitektur?

Es besteht kein Widerspruch zwischen den beiden Architekturen. Ob die Zentralisierung der Rechenleistung in einer zentralen Box oder in mehreren Domänen geschieht, ist zunächst einmal nicht so relevant. Anhand eines Extrembeispiels lässt sich der Unterschied aber gut erklären: Wenn ein Kerncomputer alle Funktionen zusammenfasst, müssen alle Funktionen, Sensoren und Displays an diese Box angeschlossen werden. Wenn an dieser Box etwas nicht mehr funktioniert, wäre das ein großes Problem. Man muss also genau überlegen, wie Informationen aggregiert werden und wie die notwendige Leistung für die Komponenten intelligent verteilt wird. Das kann nach Funktionen erfolgen wie bei der Domänenarchitektur oder eben nach Lokation im Fahrzeug. Und damit wären wir bei der zonalen Architektur angelangt.

Hat die Autoindustrie das Thema zu lange stiefmütterlich behandelt?

Seit Jahren wird über solche Architekturen geredet, aber auf der Straße ist noch nicht viel davon zu sehen. Der Ansatz von Tesla wird bei solchen Diskussionen als erstes herangezogen, da er den Stein bei der SDV-Architektur ins Rollen brachte. Bei den anderen Herstellern werden sowohl Ansätze mit Domänen als auch mit Zonen vorangetrieben. Bei einer Trennung des Fahrzeugs in geografische Teilbereiche sind völlig unterschiedliche Systeme involviert, die unterschiedliche Anforderungen haben – etwa hinsichtlich der Stromversorgung oder der Informationsverarbeitung. Deshalb gibt es OEMs, die diese Ebenen getrennt voneinander abbilden. Andere verstehen die zonale Architektur als Konzept, um Signale mit großer Bandbreite zu aggregieren und durch wenige Übergänge gute Latenzen zu erreichen. Es gibt eigentlich keine zwei Autohersteller, die denselben Ansatz nutzen.

Existieren bei der Anzahl der Zonen und Rechner bereits Standards?

Zonale Architektur bedeutet für mich die Aggregation der Signale und die Verteilung der elektrischen Leistung. Dabei darf man nicht den Fehler machen, zu glauben, dass ein zonaler Aufbau eine dezentrale Rechenleistung bedeuten würde. Die Signal- und Leistungsverteilung ist zonal, aber die Rechenleistung ist zentral, weshalb ich häufig den Begriff „zonal/zentral“ benutze. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Teilung des Fahrzeugs in eine hintere Zone und zwei Zonen an der Front. Auch mehrere Zonen wären denkbar. Das ist immer abhängig vom Modell und seinen Features.

Was sind die Vorteile und Herausforderungen im Vergleich zum Status Quo?

Der Vorteil beim Status Quo ist natürlich, dass Systeme nur verbaut werden, wenn sie entweder benötigt oder vom Kunden bezahlt wurden. Demgegenüber bieten neue Architekturen ein höheres Maß an Standardisierung im Layout und bei der Hardware im Allgemeinen. So können Funktionen einfacher und kosteneffizienter per Software-Update implementiert und entsprechend monetarisiert werden. Nur so lassen sich Architekturen kostendeckend über einen langen Zeitraum pflegen. Bis zum Lebensende eines Fahrzeugs vergeht eine lange Zeit. Es nützt wenig, wenn Autobauer zu Zeiten der Entwicklung weiterhin die modernsten Chips einkaufen, dann aber in einer dezentralen Architektur jedes Mal eine neue Konfiguration erzeugen. Es wäre ein unvorstellbarer Aufwand, diese Modelle auf dem aktuellen Stand zu halten. Im Falle zentralisierter Rechenleistung ist es deutlich einfacher, Hardware auszutauschen, wenn Software-Updates an ihre Grenzen stoßen. In Kombination mit dezentralen zonalen Subsystemen können bei Beschädigungen an diesen Subsystemen – etwa durch Unfälle – über das Ethernet-Backbone des Fahrzeugs entsprechende Signale umgeleitet werden. So entstehen resilientere und zuverlässigere Architekturen.

Aus welchem Grund sind die Autohersteller dann so zaghaft?

Die Fahrzeuge müssen komplett neu dimensioniert und auslegt werden. Jedes Auto benötigt die entsprechende Verkabelung und den jeweiligen Zentralrechner – vielleicht in unterschiedlichen Ausbaustufen. Insbesondere im Einstiegssegment würden die höheren Preise zu Erklärungsbedarf beim Kunden führen. Dieser hat vielleicht nicht gleich den gesamten Lebenszyklus seines Neuwagens vor Augen.

Wären die neuen E-Plattformen nicht der ideale Anlass für eine Umstellung gewesen?

Viele Hersteller nutzen diesen Umstand, allerdings weniger in Europa. Vor allem junge chinesische Unternehmen wie Nio, Xpeng oder Li Auto sind bei dem Thema vorgeprescht und den europäischen Konkurrenten inzwischen deutlich voraus. Diese Player hängen nicht so stark an ihren Legacy-Systemen und sind zugleich deutlich mutiger. Während hiesige Autobauer meistens im Detail planen, gehen die chinesischen Hersteller teilweise mit mehreren Parallel-Architekturen in den Markt, nur um zu sehen, was sich bewährt.

Sie hatten das Backbone-Ethernet bereits angesprochen. Was passiert mit den bestehenden CAN-Netzen und kann Ethernet die zeitkritische Arbeitslast überhaupt bewältigen?

CAN hat nach wie vor seine Berechtigung im Fahrzeug. Wir haben im unteren Geschwindigkeitsbereich auch LIN beibehalten – für die Verbindung einfacher Komponenten mit dem Zonenrechner. Im Bereich des Automotive-Ethernet tut sich technisch nach wie vor sehr viel, sodass wir davon ausgehen, dass die Technologie die künftigen Herausforderungen lösen kann. Besonders zeitkritische Systeme wie Kameras, Radar oder Lidar können aber auch aus der Zonenarchitektur herausgenommen und direkt mit dem Zentralrechner verbunden werden. Die Architektur besteht vielmehr aus verschiedenen Ebenen: Ganz unten stehen die Komponenten, also unterschiedliche Sensoren oder Aktuatoren, die in erster Linie mit Strom versorgt und entsprechend abgesichert werden müssen. Diese Verteilung von Energie und Informationen wird über einen zonalen Anschluss realisiert, der eine Verbindung zur Batterie hat und einen Teil der Datenverarbeitung direkt im Zonenrechner übernehmen kann. Auf der höheren Ebene übernimmt ein zentraler Rechner die Bearbeitung komplexerer Aufgaben – etwa die Analyse einer Sensorik-Punktewolke, die über die Zonenrechner aggregiert wird.

Wie ist es um die Cybersicherheit bestellt? Lassen sich komplexe Systeme durch die Zentralisierung einfacher angreifen?

Die Zahl der Angriffspunkte erhöht sich durch die neuen Architekturen auf jeden Fall nicht. Die unterschiedlichen Zonen sind zudem voneinander abgetrennt. Gleichzeitig lässt sich die Sicherheitsstruktur über die stärkere Standardisierung besser managen. Über den zentralen Connectivity Hub des Fahrzeugs kann kontrolliert werden, welche Signale wie und wo weiterverbreitet werden. Kommt es zu Anomalien durch Angriffe, können diese schneller adressiert werden.

Inwiefern beschäftigen neue E/E-Architekturen die Zulieferer? Gibt es ein akutes Kundeninteresse?

Wir werden chinesische und europäische OEMs sowohl mit Zentralrechnern als auch mit zonalen Rechnern beliefern. Konkrete Projekte laufen zwischen 2024 und 2027 an. An BMW liefern wir etwa Domaincontroller für die Neue Klasse und treiben somit konkret die Zentralisierung voran. Nach der Einführung müssen solche Systeme die bestehende Fahrzeugflotte natürlich erst einmal durchdringen und bestehende Architekturen verdrängen. Das wird einige Zeit dauern.

Welche Komponenten kann Valeo bereits für eine moderne E/E-Architektur liefern und was ist in absehbarer Zukunft geplant?

Was heute bereits unsere Bänder verlässt sind entweder ADAS-Steuergeräte oder ab nächstem Jahr die ersten Zonenrechner. Fast zeitgleich werden dann echte Domänenrechner produziert. Bei Letzteren werden wir künftig stärker standardisieren können, weil die Anforderungen über Kundenprojekte hinweg ähnlich sind – etwa hinsichtlich der Leistung oder Kühlung. Bei den Zonenrechnern ist der rein physische Unterschied momentan deutlich größer. Hier wird sich in Zukunft eine Menge bewegen – vor allem im Hinblick auf neue Halbleiter, die bei Sicherung und Verteilung der Leistung eine größere Rolle spielen werden.

Nehmen damit auch die Chiphersteller eine noch wichtigere Rolle ein?

Durch die zentrale Aggregation benötigt es leistungsfähigere Chips. Insbesondere was die zentrale Datenverarbeitung auf oberster Ebene angeht, hat sich der Markt im Wesentlichen auf Nvidia und Qualcomm reduziert. Diese Anbieter haben ein Interesse daran, auch Software-Komponenten für die eigene Hardware mitzuliefern. An dieser Stelle spielt sich im Moment der große Interessenkonflikt ab. Ein Fahrzeughersteller möchte selbstverständlich die Möglichkeit haben, eigene Software in die Systeme einzubringen. Ich denke, die Zukunft wird in dieser Hinsicht wesentlich offener, sodass Hard- und Software sich zunehmend entkoppeln. Außerdem gehe ich davon aus, dass es neue Kooperationsnetzwerke zwischen OEMs, Zulieferern und Chipherstellern geben wird. Es macht keinen Sinn für die Autohersteller, alle Entwicklungskompetenzen selbst aufzubauen – allein aufgrund des Fachkräftemangels. Es wird eine sehr viel flexiblere und modularere Form der Zusammenarbeit entstehen, die von „built to print“ bis hin zur völligen Autonomie der Zulieferer bei der Ausgestaltung bestimmter Systeme reichen kann.

Zum Abschluss ein kleiner Ausblick: Wann kommen die neuen E/E-Architekturen in der Breite an?

Wir haben Vereinbarungen mit Volumenherstellern, die ihre neuen Architekturen im Zeitraum 2027/2028 auf den Markt bringen wollen. In diesem Moment kommt das Ketchup aus der Flasche, um es bildlich auszudrücken. Das wird der Tipping Point für den Einsatz in anderen Fahrzeugen und Modellfamilien sein. Dann gibt es keinen Weg mehr zurück. Die Marktdurchdringung wird sich je nach Region vermutlich unterschiedlich darstellen. In China gehen die Hersteller sehr aggressiv voran, andere Länder wie Japan sind deutlich vorsichtiger. Gerade bei der Umstellung von Architekturen ist es aber nicht mit inkrementellen Veränderungen getan. Es benötigt einen harten Switch.

Zur Person:

Joachim Mathes, Valeo
Joachim Mathes, Valeo

Joachim Mathes ist seit Juli 2019 als Chief Technical Officer der Business Group Comfort & Driving Assistance beim Zulieferer Valeo tätig. In dieser Funktion verantwortet der studierte Elektrotechniker unter anderem Themen wie vernetztes und automatisiertes Fahren, User Experience im Innenraum und digitale Dienste. Auf dem automotiveIT car.summit 2023 in München wird er über ganzheitliche Architekturlösungen referieren.

 

Sie möchten gerne weiterlesen?