Die Elektronikarchitektur der Autos befindet sich in einem radikalen Umbruch. Domänen- und Zentralarchitekturen lösen die zahlreichen über das Fahrzeug verstreuten elektronischen Steuergeräte ab. Diese Transformation speist sich aus zwei Wurzeln: Einerseits ist sie getrieben von dem Wunsch, die Komplexität der Elektronik zu reduzieren. Andererseits ist eine leistungsfähige Rechnerinfrastruktur die Vorbedingung für funktionale Flexibilität. Denn damit sich gemäß den Zukunftsvisionen der Autohersteller die Funktionen im Fahrzeug auch nach Produktion und Verkauf an den Kunden noch anpassen, modifizieren und freischalten lassen, ist es notwendig, sie in Software zu implementieren - als virtuelle Steuergeräte. Doch das Software-defined Car setzt erst einmal eine entsprechende Hardware voraus.
Die Herzen dieser Domänenrechner sind leistungsfähige Prozessorcluster, von den Ingenieuren als „SoC“ (System-on-a-Chip) bezeichnet. Um dieser SoCs habhaft zu werden, zeigen die Daimlers und Volkswagens der Welt neuerdings ein auffälliges Flirtverhalten gegenüber einer Kategorie von Unternehmen, die sie bisher eigentlich als schnöde Zulieferer mindestens zwei Stufen tiefer in der Lieferkettenhierarchie verorteten. Unabhängig voneinander haben beispielsweise BMW, Stellantis und VW-Softwaretochter Cariad langfristige strategische Kooperationen mit dem Chiphersteller Qualcomm abgeschlossen. Letzterer spielte bisher vor allem im Smartphone-Markt eine dominierende Rolle, ist aber seit einiger Zeit auch im Automobilsektor auf Kundensuche. Und zwar durchaus mit Erfolg: Auch General Motors, BYD und Honda haben „Qualcomm Inside“, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen. Mercedes dagegen hat sich mit Haut und Haaren Nvidia verschrieben, einem Chiphersteller mit tiefen Wurzeln im Gaming und erheblichem Knowhow in der künstlichen Intelligenz. Auch bei anderen Herstellern hat Nvidia einen Fuß in der Tür – bislang etwa bei Audi und Volvo. Die Intel-Erwerbung Mobileye ist ebenfalls in den Entwicklungslabors zahlreicher Autohersteller gut vertreten, unter anderem bei Audi.
Fahrzeuge entwickeln sich zu Computern auf Rädern
Woher rührt diese plötzliche Zuneigung der PS-Branche zu den Silizium-Nerds? Das hat mit der gestiegenen Bedeutung von Handy und Computer im Alltag der Auto-Kunden zu tun. „Die Fahrzeuge entwickeln sich zunehmend zu 'Computern auf Rädern'“, sagt Thomas Kirschstein, Principal und Elektronik-Experte beim Beratungsunternehmen Roland Berger. „Die Kunden wollen Apps, Streaming, aktualisierbare Funktionen. Das erfordert eine massive Veränderung der Elektronikarchitekturen. Den Halbleitern wächst damit eine zentrale Funktion für die Fahrzeughersteller zu, um sich vom Wettbewerb differenzieren zu können.“
Differenzierung ist daher ein wichtiger Pfeiler in der Halbleiterstrategie der Autohersteller. Ein zweites wichtiges Kriterium ist die Zeit. „Für mich ist das der entscheidende Faktor: Es ist eine Frage der Kompetenzen, es geht darum, Zeit zu gewinnen“, sagt Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM). „Time-to-Market ist enorm wichtig.“ Denn wer als erster mit neuen Hightech-Features auf den Markt kommt, kann sein Markenimage leichter damit verknüpfen als ein Nachzügler. Längerfristig, so Bratzel, werde es der Industrie auch darum gehen, die auf diesen Rechnern installierten Betriebssysteme so weiterzuentwickeln, dass man damit auch als Fahrzeug-OEM einen relevanten Wertschöpfungsanteil erzielen kann.
Markenbildung findet nicht über Chiphersteller statt
Die Chips sind dabei im Grunde nur Mittel zum Zweck. „Für die Kunden ist es nicht ersichtlich, welche Chips in einem Auto verbaut sind – die Markenbildung findet nicht über Chiphersteller statt“, gibt Peter Fintl zu bedenken, Leiter Technology and Innovation beim Beratungsunternehmen Capgemini: „Es ist für die OEMs wichtig, dass sie entscheidende Teile der Value Chain kontrollieren“, sagt Fintl. Time-to-Market sei ein wichtiger Faktor, aber es ist zu berücksichtigen, dass es bei diesen Kooperationen durchaus unterschiedliche Sichtweisen der Kooperationspartner auf das Geschäft gibt. Neu ist, dass die Autohersteller den Chipunternehmen einen Anteil an der Wertschöpfung zugestehen – ein Aspekt, der vor allem bei der Kooperation zwischen Mercedes und Nvidia sichtbar wird. Im Gegensatz dazu gehe es Qualcomm vorrangig darum, mit den Fahrzeugbauern Stückzahlen zu erzielen. „Qualcomm baut auf seiner bewährten Snapdragon-Plattform auf und profitiert vom Skaleneffekt“, sagt Fintl. Das Interesse der Fahrzeugindustrie liegt vor allem auf den Aspekten Differenzierung. „Alle OEMs setzen sich intensiv mit dem Thema Customization auseinander“, so der Capgemini-Experte. Die Triebkräfte dieser Entwicklung sieht Fintl in den Aspekten Zeit, Funktion und Kosten.
Eine günstige Lösung für diese Problematik bietet die Plattformstrategie der Hersteller, wobei Qualcomm offenbar besonders flexible Möglichkeiten zur Anpassung seiner SoC-Strukturen an die Erfordernisse spezifischer Applikationen und an die Wünsche der Autohersteller bietet – abzulesen an den Erfolgen dieses Chipherstellers in jüngerer Zeit. So haben neben BMW unabhängig voneinander die Volumenhersteller Volkswagen und Stellantis eine solche Kooperation mit dem Chiphersteller Qualcomm abgeschlossen. Diesen Aspekt bestätigt auch die Softwaremarke des VW-Konzerns, Cariad: „Maßgeschneiderte SoCs sind für uns ein entscheidendes Element, um wettbewerbsfähige automatisierte Fahrfunktionen für alle Pkw-Marken des Volkswagen-Konzerns bereitzustellen“, teilt das Unternehmen mit. Bei den asiatischen Herstellern hingegen hat traditionell der japanische Chipbauer Renesas gute Karten, der mit seiner R-Car-Plattform einen ähnlichen Ansatz verfolgt wie Qualcomm. Wobei, wie Capgemini-Experte Fintl anmerkt, in all diesen Plattformen im Kern die Prozessorarchitektur von ARM drinsteckt, wenn auch mit unterschiedlichen applikationsspezifischen Hardwarebeschleunigern.
Entwicklung eigener Halbleiterbausteine unwahrscheinlich
Das Auf und Ab im Zusammenspiel zwischen Auto- und Halbleiterindustrie führt immer wieder zu Gerüchten und Spekulationen, ob der eine oder andere Autobauer womöglich Pläne zur Entwicklung eigener, komplett maßgeschneiderter Chips verfolgt. Diese könnte man dann bei einem der bekannten Auftragsfertiger bauen lassen. Bei Tesla, dem Angstgegner der deutschen Autoindustrie, ist genau das ein wesentlicher Teil seines Erfolgsrezepts. „Tesla ist schon sehr weit in dem Thema drin“, gibt Bratzel zu bedenken. Die komplette Entwicklung eigener Halbleiterbausteine in Eigenregie halten Marktbeobachter jedoch für unwahrscheinlich. Völlige Neuentwicklungen wie bei Tesla kann sich eigentlich niemand vorstellen. „Es geht darum, vorhandene Halbleiter für eigene Zwecke zuzuschneiden“, sagt Bratzel. „Man muss erhebliches Knowhow besitzen, um das Innovationspotenzial von Chips ausreizen zu können.“
Im weltweiten Vergleich ist die Affinität der Autobauer zur Software- und Chipbranche durchaus nicht gleichmäßig verteilt. In China ist sie nach Auffassung von Beobachtern am größten – aber das muss nicht bedeuten, dass die dortigen OEMs in jeder Hinsicht die Nase vorne haben. „In China sind Vernetzung und Plattformökonomie ein sehr großes Thema“, erläutert Professor Bratzel. „Dort fördert der Staat die Entwicklung starker Player.“ Doch bei der Beschaffung von Halbleitern ist die chinesische Industrie ebenso wie im Rest der Welt auf die bekannten Lieferanten angewiesen. „Was die Technologie anbelangt, so wird es noch einige Jahre dauern, bis die chinesische Halbleiterindustrie die aktuell neuesten Strukturbreiten fertigen kann“, sagt Peter Fintl von Capgemini. In den USA dagegen sind die großen Player im Datengeschäft seit einiger Zeit auch im Automobilbau tätig – wobei sie, wie die Google-Tochter Waymo, im Wesentlichen noch im Entwicklungsstadium stecken, während die großen traditionellen OEMs in Sachen Halbleiter eine ähnliche Strategie verfolgen wie ihre Gegenspieler in Europa.
Angesichts der anhaltenden Lieferkrise im Halbleitermarkt stellt sich auch eine andere Frage: Spielt für die Fahrzeughersteller auch die Sicherung der Liefersituation eine wichtige Rolle, wenn sie solche Allianzen eingehen? Die Antwort lautet: Teils, teils, aber eher nicht so sehr. Um sich einen konstanten Zufluss der erfolgskritischen Siliziumteile zu sichern, gehen sie dazu andere Wege. Sichtlich genervt von der Lieferknappheit gab GM-Chefin Mary Barra im vergangenen September Pläne bekannt, die begehrten Chips künftig direkt ab Fabrik einzukaufen und sich langfristige Fertigungskapazitäten in den Foundries zu sichern. Unklar ist bislang, mit wem GM dazu im Geschäft ist. Konkurrent Ford schloss Ende vergangenen Jahres einen Liefervertrag mit dem Chip-Auftragsfertiger GlobalFoundries ab. Hier schließt sich der Kreis: Das Lieferprogramm umfasst in erster Linie Chips, die von Qualcomm entwickelt wurden.