Herr Claesson, Sie sind seit 2017 CIO bei Daimler Truck. Was waren in den zurückliegenden sechs Jahren die größten Herausforderungen?
Bevor ich 2017 zu Daimler stieß, war ich einige Jahre Group CIO bei Electrolux – einer etwas kleineren Firma als Daimler Truck (lacht). Als sich die Gelegenheit bei Daimler ergab, war ich sehr interessiert, denn IT, Digitalisierung, Technologie – all das spielt speziell in der Autoindustrie eine erfolgskritische Rolle. Und wenn man ein Unternehmen, eine Branche, wechselt, dann ist das eine Herausforderung an sich. Der Kern des Jobs als CIO ist überall mehr oder weniger der gleiche. Doch natürlich musste ich erst die Industrie kennenlernen, die Unternehmenskultur verstehen, ein Netzwerk aufbauen und nicht zuletzt die Potenziale für die Wertschöpfung des Unternehmens erkennen.
Welche waren das?
Schon früh habe ich große Chancen beim Thema Konnektivität gesehen, das in unserem B2B-Kontext ein wichtiger Aspekt für unsere Kunden ist. Dabei sprechen wir vor allem über Services jenseits des Fahrzeugs wie zum Beispiel Fleetboard (Flottenmanagement-Tool, Anm. d. Red.). Mein Team hat große Anteile daran, solche digitalen Services beziehungsweise Produkte zu entwickeln. Mir selbst ist es schon früh gelungen, Vertrauen zu unseren Stakeholdern aufzubauen und eine bestimmte Richtung zu skizzieren. Das hat dazu geführt, dass ich neben meiner Funktion als CIO eine zusätzliche Rolle übernommen habe, um das Thema Connectivity aus Businesssicht in eine produktorientierte und funktionsübergreifende Organisation zu überführen, die Funktionen vom Vertrieb über Aftersales bis hin zur Fahrzeugentwicklung verbindet.
Mitten in einer Pandemie und Chipkrise wurde Daimler Truck in die Selbstständigkeit entlassen, für die tausende Systeme entflochten oder neu aufgesetzt werden mussten. Wie sah Ihr Plan für dieses Mammutprojekt aus?
Für mich war relativ früh klar, dass ein solches Spin-off Sinn ergibt. Unser Unternehmen und das Business mit Nutzfahrzeugen sind doch so grundlegend anders gelagert als das Geschäft mit Pkw, dass eine Abspaltung der richtige Schritt war. Als klar war, dass das Spin-off kommen würde, war eine der drängendsten Aufgaben, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine Ausgliederung IT-seitig in wirklich sehr kurzer Zeit möglich gemacht werden kann. Ab Startschuss im Jahr 2021 haben wir es dann in rekordverdächtigen zehn Monaten geschafft, dies umzusetzen. Und das in wirklich extremen Zeiten, wie Sie sie angesprochen haben. Vor allem der Halbleitermangel hatte natürlich Auswirkungen speziell im IT-Bereich. Doch es ist ja gewissermaßen im Leben häufig so, dass Sie den schwierigen Alltag mit übergreifenden Visionen, Strategien ausbalancieren müssen, um nicht das Momentum zu verlieren und sich für die Zukunft vorzubereiten. Für uns bedeutet das Spin-off daher eine einmalige Gelegenheit: Wir konnten ein Unternehmen ganz und gar auf die spezifischen Anforderungen der Märkte und unserer Kunden hin ausrichten. Uns war dabei schnell klar: Wenn wir nur das eins zu eins kopieren, was wir bisher hatten, und es in den neuen Kontext einfügen, betreiben wir keine Wertschöpfung. Daher wollten wir dem Carve-out ein transformatives Moment geben, um die vorhandene Energie in den Teams zu nutzen, gleich in Richtung Zukunft zu gehen.
Bis wann wollen Sie einen Haken hinter den Carve-out gemacht haben?
Die komplette Abspaltung unserer Businesssysteme soll bis Mitte 2025 abgeschlossen sein. Wir starteten mit 1.500 gemeinsam genutzten Anwendungen die es zu trennen galt. Bis zum Ende dieses Jahres sollen noch 300 übrig sein, darunter einige sehr große, herausfordernde Systeme. Das betrifft den Betrieb in den Bereichen Sales, Aftersales, Engineering, Produktion, Finanzen, HR und andere Funktionen in unserem Headquarter, die wir bis dahin ja nicht hatten.
An welchen Stellen der Transformation sind die Pain Points am größten?
Ich würde ehrlich gesagt keinen Bereich herausstellen wollen. Ich hatte bereits erwähnt, dass wir nicht alles einfach nur kopieren wollten – und das gilt vor allem für die Komplexität im Unternehmen. Diese galt es mit dem Spin-off drastisch zu reduzieren, sprich, uns deutlich schlanker, schneller und mit klarem Fokus auf unser Business aufzustellen. Wir kamen zu dem Schluss, dass wir 40 Prozent unseres Applikationsportfolios reduzieren wollen. Anfang dieses Jahres lagen wir schon bei 22 Prozent, am Ende kommen wir vermutlich auf 43 Prozent weniger Anwendungen. Wenn man also gewohnt ist, ein reichhaltiges, historisch gewachsenes Spektrum an Applikationen zur Verfügung zu haben und nun zu einem eher standardisierten Setup wechselt, ist das natürlich manchmal schmerzhaft. Aber das gehört zu einer Transformation dazu.
Wie würden Sie den wesentlichen Treiber dieses Wandels beschreiben?
Unser Ansatz ist eindeutig technologiegetrieben. Jeder, der schon ein paar Tage in der IT-Branche unterwegs ist, weiß, dass IT-Abteilungen seit jeher ihre Agenda aus der Unternehmensstrategie abgeleitet haben. Ich habe diese Logik auf den Kopf gestellt und dem Vorstand die erfolgreichsten Unternehmen der Welt vor Augen geführt, die allesamt „digital native“ sind und Technologie nutzen, um ihr Geschäftsmodell voranzutreiben. Dann haben wir uns mit den führenden Köpfen aus Supply Chain, Sales, Product Lifecycle Management und Aftersales zusammengesetzt und diskutiert, wo die größten Probleme, aber auch die größten Chancen liegen. Natürlich steht ganz oben auf der Agenda, die vollständige Unabhängigkeit zu erreichen. Dabei hatten und haben wir jederzeit einen klaren Blick auf einen technologiegetriebenen Ansatz, der Hand in Hand geht mit dem Business. Das kann teilweise eine schmerzvolle Reise sein. Es ist ein bisschen so, wie ins Fitnessstudio zu gehen: Es tut weh, aber Sie kommen in besserer Form heraus.
Auf welchen weiteren Säulen fußt Ihre IT-Strategie?
In der IT selbst haben wir ein spezifisches Mission Statement: „connect, unlock, drive“. Wie Sie sicher wissen, finden Siein der IT typischerweise sehr analytische, hochqualifizierte Menschen, die jedoch nicht unbedingt die extrovertiertesten sind. Es geht für mich daher erstens darum, dass wir aus der Komfortzone rauskommen, in andere Fachbereiche gehen und mit den Verantwortlichen dort reden, uns mit den Kollegen vernetzen. Dabei geht es nicht nur um Technologie, sondern vor allem darum, ein besseres Verständnis des jeweiligen Businesskontextes zu erlangen. „Connect“ bedeutet aber auch, bestehende Prozesse zu verbessern und zu vernetzen. Unter dem Stichwort „unlock“ verstehen wir alles, was durch die Kraft der Technologie möglich wird, welchen Mehrwert wir mit Technologie bei Daimler Truck generieren können. Und nicht zuletzt das Wort „drive“, bei dem es vor allem um die Ergebnisse unserer Arbeit geht. In der Vergangenheit hat sich die IT häufig eher als Zulieferer gesehen: Sobald hinter die spezifischen Anforderungen im Lastenheft ein Haken gemacht werden konnte, war die Arbeit getan. Für eventuelle Fehler im Endergebnis fühlte man sich nicht unbedingt verantwortlich. Diese Zeit ist vorbei. Wir müssen heute zusammen mit dem Business die Verkäufe und Umsätze voranbringen und gleichzeitig unternehmensintern Effizienzen schaffen. Es ist wichtig, über den Tellerrand zu schauen und zu begreifen, dass wir so sehr Teil des Business sind, wie jeder andere auch.
Der Neustart sollte also auch als Window of Opportunity genutzt werden. Wie stark konnten Sie Prozesse und Methoden neu denken, beispielsweise mit Blick auf Agilität und datengetriebenes Denken?
Die Art und Weise, wie IT-Organisationen in der Vergangenheit versucht haben, Wandel herbeizuführen, war nie wirklich erfolgreich. Das lag vor allem an den langen Entwicklungszyklen in der Automobilbranche. Das Umfeld hat sich mittlerweile aber geändert, wir entwickeln digitale Produkte in Richtung des Kunden viel schneller und auch agiler mit klarer technischer Verantwortung innerhalb von DevOps-Teams. Wir arbeiten also schon in vielen Bereichen weltweit sehr agil mit unterschiedlichen Frameworks, jedoch immer mit einem modernen Entwicklungsansatz.
Wollen Sie in Ihrer gesamten Organisation auf einhundert Prozent agil umstellen?
Ich bin grundsätzlich ein großer Freund davon, im Business mit allen Stakeholdern zusammenzuarbeiten und wirklich ein einheitliches Verständnis davon zu haben, was wir tun und wie wir es tun. Wissen Sie, in der IT geht es immer u um Wertschöpfung, aber sie kann auch leicht als reiner Kostenfaktor missverstanden werden. Man muss aber beide Seiten der Gleichung im Auge behalten. Für mich steht bei allem, was wir tun, die Wertschöpfung an erster Stelle. Und wenn uns agile Methoden an unser Ziel bringen, nutzen wir sie. Aber wir setzen keine Methodik um der Methodik willen ein.
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Twin4Trucks“ wollen Sie unter anderem mit dem DFKI einen digitalen Zwilling für die Produktion entwickeln. Wie wichtig sind solche Initiativen auf dem Weg zu einer Data-driven Company?
Schon als ich 2017 zum Unternehmen stieß, diskutierten wir viel über Industrie 4.0. Wir haben eine eigene Smart-Factory- Initiative ins Leben gerufen und verfügen mittlerweile weltweit über 50 wirklich gute Use Cases im Fertigungsumfeld. Dazu gehören unter anderem die Inspektion von Schweißpunkten mithilfe von Computer Vision oder die Messung derAnlagenleistung im Produktionsumfeld, dem sogenannten Machine Heartbeat. Das geht alles über in die Technologiebereiche Predictive Maintenance und künstliche Intelligenz, deren Potenziale wir gerade erschließen. All diese Use Cases führen schon heute zu deutlich effizienteren Prozessen in unserer Produktion.
Solche digitalen Lösungen generieren Unmengen an Daten. Wie vermeiden Sie, dass in den von Ihnen neugeschaffenen Umgebungen neue Datensilos entstehen?
Einer der großen Effekte, die das Spin-off mit sich bringt, ist die Erkenntnis, wie fragmentiert unsere Stammdaten sind. Um nun einen sogenannten Golden Record, einen einheitlichen und vollständigen Blick auf unsere Kunden herzustellen, müssen wir anders mit Daten umgehen, als wir es bisher getan haben. Jetzt, da wir durch den Carve-out all unsere Systeme anfassen müssen, haben wir die einmalige Gelegenheit, Kundendatensätze über die gesamte Wertschöpfungskette nutzen zu können – und das ist gewaltig. Dazu kommt, dass für fortschrittliche Technologien wie KI und Machine Learning die eigenen Daten in Ordnung gebracht werden müssen. Das gilt auch für die Vernetzung unserer Fahrzeuge untereinander und mit dem Backend. Für unsere Kunden ist es die größtmögliche Disruption, wenn es zu Ausfällen von Fahrzeugen kommt, die zu Beeinträchtigungen der Lieferketten und am Ende sogar zu Strafen führen können. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass der Lkw auf der Straße bleibt. Wir arbeiten seit Jahren an prädiktiven Algorithmen, die dabei helfen, festzustellen, was und wann etwas zu tun ist. Das ist ein zentrales datengetriebenes Geschäftsmodell, für das es sehr wichtig ist, Daten zu strukturieren und zu wissen, wie man damit umgeht.
Wie stark setzen Sie dabei auf Inhouse-Kapazitäten und wie viel externe Expertise holen Sie sich dazu?
Es gibt natürlich Bereiche mit starker Geschichte, in denen die Bewegungsfreiheit limitiert ist. Was ich auf jeden Fall behaupten würde, ist, dass unser Weg in die Cloud sehr stark durch das Spin-off beschleunigt wurde. Wir haben mittlerweile unser eigenes Innovationszentrum in Indien, welches eine Schlüsselposition für die Entwicklung und IT gleichermaßen einnimmt. Darüber hinaus haben wir schon vor der Eigenständigkeit von Daimler Truck mit tb.lx eine Einheit in Portugal gegründet, die sich mit Themen wie Open Source und ganzheitlichen Ökosystemen für E-Fahrzeuge beschäftigt. Ich denke, es kommt sehr auf den Mix aus inhouse und externer Expertise an. Dabei ist es vor allen Dingen wichtig, dass wir in der Lage sind, in Sachen Architektur unsere eigene Zukunft zu gestalten. Für die Ausführung werden wir immer wieder auch abhängig sein von Partnern. Angesichts dieses riesigen Wandels der Branche können Sie nicht alles alleine bewältigen.
Wie gelingt es Ihnen, in den täglichen Wirren und Anstrengungen des Carve-out sich selbst Freiräume zu schaffen, sich über Innovation Gedanken zu machen und informiert zu bleiben?
In erster Linie ist für mich die Außenperspektive entscheidend. Anderen zuhören, von ihnen zu lernen, sich in Netzwerken mit Kollegen austauschen und sich manchmal auch mit Dingen zu beschäftigen, die auf den ersten Blick nicht mit der eigenen Rolle zu tun haben – das eröffnet neue Perspektiven und wirft neue Fragen auf. Gleichzeitig versuche ich in Form zu bleiben, Sport zu treiben, auch das triggert den Geist auf andere Art und Weise. Als Hobbypilot ist das Fliegen zudem mein persönlicher Freiraum. Über den Wolken, wenn nur das Fliegen zählt, vergisst man eine Zeitlang die Probleme des Alltags und kann dann wieder mit freiem Kopf landen. Und nicht zuletzt ist es für die eigene Kreativität wichtig, Zeit mit der Familie zu verbringen, zu reisen. All das hilft mir dabei, die Herausforderungen im Arbeitsalltag besser zu bewältigen.
Zur Person:
Marcus Claesson begann seine Karriere bei der AGA Gas AB in Schweden als IT Operations Manager. Nach einem Merger mit der Linde AG war er dort über sieben Jahre in verschiedenen Führungspositionen mit globaler Verantwortung tätig. Im Jahr 2007 wechselte der studierte Informatiker zu AB Electrolux, wo er 2010 zum Group CIO und CEO von Electrolux IT Solutions AB ernannt wurde. 2017 wechselte Marcus Claesson zur ehemaligen Daimler AG und wurde CIO für die Nutzfahrzeugsparte. Seit der Ausgliederung ist er CIO der Daimler Truck AG.