Mercedes Benz innenraum

Anwendungen wie ChatGPT können dabei helfen, die Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug noch natürlicher zu gestalten. (Bild: Mercedes-Benz, Adobe Stock / Design Science Tech)

Wer derzeit über generative KI stolpert, landet unweigerlich bei ChatGPT, dem Large-Language-Modell der US-Firma OpenAI. Seit dem Launch im November 2022 fasziniert der Chatbot nicht nur KI-Spezialisten, sondern begeistert dank einfacher Nutzbarkeit auch die breite Masse. Viele sprechen bereits von einer Demokratisierung künstlicher Intelligenz. Die Welle des Hypes um GenAI reiten mittlerweile auch zahlreiche Unternehmen aus der Automobilindustrie. Das wundert nur wenig angesichts der disruptiven Verheißungen in Sachen Prozesseffizienz oder Produktsicherheit - das zeigen Anwendungen in Fahrzeugentwicklung, Produktion oder für die Customer Experience.

„GenAI kann tief in jeden Bereich der Automotive Operations integriert werden, egal ob vor- oder nachgelagert“, erklärt Shagun Sachdeva vom Beratungsunternehmen GlobalData. „Sie kann dabei helfen, Nachfrage vorherzusagen, Bestände zu verwalten, Einkaufsstrategien zu verbessern sowie die Kundenansprache im Aftersales zu revolutionieren.“ Besonders laut- und ankündigungsstark hat sich diesen Sommer Bosch gezeigt: Bis spätestens Ende des Jahres wolle der weltgrößte Autozulieferer ein eigenes Sprachmodell namens BoschGPT auf die Beine gestellt haben und den Mitarbeitern freischalten, wie es Geschäftsführerin und CDO Tanja Rückert im Handelsblatt ankündigte. Der auf der Technologie des Heidelberger Startups Aleph Alpha basierende Chatbot soll sich Informationen aus firmeneigenen Datenbanken ziehen und diese den Bosch-Mitarbeitern besser und schneller zugänglich machen. Bosch gehört einem Industriekonsortium an, das rund eine halbe Milliarde US-Dollar in Aleph Alpha investiert hat. „Generative KI ist ein Innovationsbooster und kann die Industrie verändern, ähnlich wie bei der Erfindung des Computers“, betont Rückert.

Gros der Autoindustrie will GenAI-Potenzial nutzen

In einer Studie des Capgemini Research Institute geben 73 Prozent der befragten Unternehmen aus der Autobranche an, dass sie den Einsatz von GenAI planen oder diese bereits nutzen. Knapp ein Drittel hat längst Budgets oder gar ganze Teams für die Integration entsprechender Technologien in zukünftige Entwicklungsprozesse abgestellt. Potenzial besteht auch für die Unternehmens-IT selbst: Demnach sehen fast 70 Prozent aller Führungskräfte den größten potenziellen Nutzen der generativen KI für die IT in ihrer Rolle als Innovations-Enabler in allen Funktionen, angeführt von Vertrieb, Marketing und Kommunikation. Virtuelle Assistenten im Vertrieb und Kundenservice werden dabei laut Capgemini-Erhebung als naheliegendstes Zukunftsszenario und Booster für die Kundenzufriedenheit und Kundenbindung bewertet.

Doch während klassische KI-Anwendungen an vielen Stellen wie zum Beispiel in der Automobilfertigung schon heute faktisch zur Wertschöpfung beitragen, wird es wohl nach Einschätzung einiger Experten noch dauern, bis generative KI in der Industrie breitflächig eingesetzt werden kann. „Generative KI kann zwar die Effizienz und Effektivität in verschiedenen Bereichen der automobilen Wertschöpfungskette steigern, ist aber kein Wundermittel, das alle Probleme der Automobilindustrie auf einmal lösen kann“, schränkt auch GlobalData-Expertin Shagun Sachdeva ein. Automobilunternehmen sollten bedenken, dass viele Fragen der Security, des Datenschutzes und der Ethik noch längst nicht ausreichend geklärt seien. Und dennoch: „Es ist kaum möglich, die Auswirkungen dieses Wandels in vollem Umfang zu quantifizieren, aber GenAI ist ein mächtiges Werkzeug, das die menschliche Kreativität und Intelligenz erweitern kann“, betont Sachdeva. Das zeigen die verschiedenen Anwendungsbereiche im Fahrzeug, in der Entwicklung, der Produktion sowie in Vertrieb und Handel.

So optimiert GenAI die Sprachassistenz im Fahrzeug

Das potente Werkzeug, das mit Large-Language-Modellen einhergeht, wollen auch die Autobauer nutzen – und das in erster Linie im Fahrzeug selbst. General Motors hat sich mit Googles Cloudsparte zusammengetan und will nun Generative-AI-Anwendungen im Fahrzeug weiter ausrollen. Der seit 2022 eingesetzte OnStar Interactive Virtual Assistant setzt Google Clouds Algorithmensets zur Absichtserkennung ein, die dem Fahrer Unterstützung unter anderem bei der Routenplanung oder Navigation geben soll. Ebenfalls mit Google arbeitet seit kurzem Continental: Der Zulieferer will Anwendungen des Internetriesen im Fahrzeugcockpit mittel generativer KI leichter zugänglich machen.

Ähnliches hat Mercedes-Benz vor: Die Schwaben wollen der Sprachsteuerung im hauseigenen Infotainmentsystem MBUX ein ChatGPT-Upgrade geben. Mittels generativer KI soll die Kommunikation mit dem Fahrzeug „noch intuitiver“ werden – sogar längere Dialoge sollen so möglich werden. Wie beim GM-Anwendungsfall soll die Funktionalität Navigation oder einfache Anfragen nach Wetter oder Sportereignissen optimieren. Mercedes hat den Chatbot zunächst in eine Betaphase mit der US-Kundschaft geschickt – ein Rollout in Europa könnte wohl durch die hohen Datenschutzanforderungen deutlich länger auf sich warten lassen. Einen vergleichbaren Feldversuch hat auch Stellantis über die Premiummarke DS mit 20.000 Kunden in Europa gestartet.  Die Beispiele deuten darauf hin, wie groß das Potenzial von Large-Language-Modellen für die direkte Interaktion mit dem Kunden sein kann – und welche neuen Geschäftsmodelle sich künftig entlang der Customer Journey auftun.

Auch der chinesische Autobauer Nio kündigte kürzlich die Integration von Microsofts Azure OpenAI-Service für ein optimiertes Nutzererlebnis in seinen Elektrofahrzeugen an. Nios Sprachassistentin Nomi soll durch diesen Schritt zur Nomi GPT (Generative Pre-Trained Transformer) weiterentwickelt werden und komplexere Anfragen sowie die Anwendung natürliche Sprache besser meistern. Damit ist No,i eines der weltweit ersten serienmäßigen Systeme für künstliche Intelligenz im Fahrzeug, das die GPT-Technologie als Standardfunktion in seiner gesamten Produktpalette aktiv einsetzt. Der Rollout der GPT-Funktion für alle in Europa verfügbaren Fahrzeugmodelle von Nio auf der NT2.0-Plattform startet am 05.04.2024 und wird über Firmware-Over-the-Air-Updates (FOTA) zunächst auf Englisch, Deutsch und Norwegisch bereitgestellt.

Entlang der Customer Journey ist der GenAI-Hype am größten

Der Customer Service sei bereits heute ein beliebtes Einsatzszenario für generative KI, erklärt Jan Pilhar, Executive Director & GenAI Lead bei IBM iX DACH. Seit dem Launch von ChatGPT beflügele GenAI die Fantasie vieler Marketing- und Sales-Verantwortlicher, man sehe eine ausgeprägte „Fear of missing out“ im Markt. Entsprechend seien viele auch etwas „blauäugig“ in erste Projekte gestartet. „Die disruptiven Entwicklungen generativer KI haben die Lücke zwischen der existierenden IT-Infrastruktur und der Verfügbarkeit marktreifer Technologien vergrößert“, konstatiert auch Daniela Rittmeier, Leiterin des Data & AI Center of Excellence bei Capgemini. Der Druck der Technologie-Integration entlang der Wertschöpfungskette komme nicht mehr von den internen Tech-Experten, sondern über die Kundenerwartungen, so Rittmeier.

Typische Fehler: Generative Modelle werden genutzt, obwohl bestehende Machine-Learning-Ansätze ausreichen – oder es werden falsch dimensionierte Modelle gewählt. „Es gibt nicht nur OpenAIs GPT, sondern aktuell auch rund 120.000 Open-Source-Modelle wie etwa Llama 2 von Meta, die viele Aufgaben ebenso gut und kostengünstiger erledigen können. Es geht immer auch darum, das richtige Modell in der richtigen Größe in der richtigen Infrastruktur zu betreiben“, so Pilhar. Die Art und Größe des Modells wirken sich direkt auf die Kosten je Anfrage (Inferenz) aus. Bei Millionen von Kunden entstünden durch Anfragen schnell hohe Kosten. Pilhar: „Wir erleben zahlreiche OEMs, die erst jetzt realisieren, wie teuer das schnell gebaute Feature auf der Website oder im Car Configurator wirklich ist. Hier sollte das richtige Setup für maximale Effizienz gewählt werden, was teilweise auch komplexe Technologieentscheidungen beinhaltet.“

Ein echter Hemmschuh für die Integration und Skalierung von GenAI sind aus Sicht von Daniela Rittmeier die bestehende Infrastruktur und derzeitige Datenqualität. „Die IT-Infrastruktur ist heterogen gewachsen, weitestgehend mit der Zielsetzung einer optimierten Produktion von Hardware. Sie ist ebenso wie die Fahrzeugarchitektur begrenzt ‚AI ready‘ für die fachbereichsübergreifende Verarbeitung von maschinenlesbaren Daten“, so die Expertin. Noch stünden die für KI wichtigen Prozess-, Fahrzeug- und insbesondere Kundendaten nur begrenzt zur Verfügung.

Proactive Care von BMW im Fahrzeug
Digitale Reifendiagnose, Fehlermeldungen & Servicebedarf: Durch Datenanalysen und hinterlegte Kundenpräferenzen soll der KI-basierte, digitale Concierge "Proactive Care" von BMW individuelle Lösungsvorschläge liefern. (Bild: BMW)

Ein weiteres aktuelles Praxisbeispiel für den Einsatz von generativer KI entlang der Customer Journey präsentiert Toyota mit der neuen ToyoGPT Plattform. Die Anwendung wird seit Februar 2023 getestet und die entsprechende mobile App steht Kunden als Sprachassistenz zu allen Fragen rund um das Handbuch ihres Fahrzeuges zur Verfügung. Des Weiteren unterstützen GPT-Agenten die Beschäftigten im Sales-Bereich basierend auf internen Trainingsunterlagen bei der Verbesserung ihrer Verkaufsgespräche.

Da die Verwendung der frei zugänglichen ChatGPT-Anwendung enorme Risiken für schützenswerte Unternehmensdaten bedeuten kann, wenn diese auf die Server des Anbieters OpenAI fließen, nutzt der Autobauer stattdessen die UGPT-Technologie von Objective Partner. Mit dieser können Mitarbeiter gewohnte ChatGPT-Funktionen nutzen, ohne dabei sensible oder vertrauliche Unternehmensdaten preiszugeben, da die Daten zu jeder Zeit im Unternehmen bleiben.

Deutlich schnellere Fahrzeugentwicklung dank GenAI

In der Fahrzeugentwicklung wie auch bei der Ausarbeitung des Fahrzeugdesigns sorgt generative KI für deutlich mehr Geschwindigkeit. „Im Idealfall könnte sich die Entwicklungszeit zukünftig halbieren. Zudem können mit generativer KI die Funktionsumfänge mittels Software im gesamten Lebenszyklus des Fahrzeugs effizient erweitert werden“, erklärt Elmar Pritsch, Partner und Global Lead Software-Defined Vehicles bei Deloitte. Neben der Geschwindigkeit kann auch die Kraftstoffeffizienz oder Leichtbauweise eines Designs optimiert werden. Darüber hinaus ermöglicht die künstliche Intelligenz im Rahmen der Materialwissenschaften einen Prozess, der als inverses Design bezeichnet wird. Dabei werden zunächst die erforderlichen Eigenschaften wie Leitfähigkeit oder Korrosionsbeständigkeit definiert, bevor im Anschluss mithilfe der KI nach einem geeigneten Material gesucht wird.

Besonders die Zusammenarbeit zwischen KI und Entwickler wird in naher Zukunft einen interessanten Schwerpunkt bilden. Laut dem Marktforschungsunternehmen Gartner wird bis 2025 mehr als die Hälfte aller Rollenbeschreibungen für Software Engineering Leader explizit die Betreuung von generativer künstlicher Intelligenz beinhalten. Die Aufgabe der Engineering Leader wird dann vor allem darin bestehen, zu verdeutlichen, dass die KI-Technologie die Produktivität der Entwickler steigert und sie nicht ersetzt. „Generative KI wird Entwickler in naher Zukunft nicht ersetzen“, sagt Haritha Khandabattu, Senior Director Analyst bei Gartner. „Sie ist zwar in der Lage, bestimmte Aspekte der Softwareentwicklung zu automatisieren, kann aber die Kreativität, das kritische Denken und die Problemlösungsfähigkeiten des Menschen nicht ersetzen.“

GenAI dient als Innovationstreiber in der Produktion

Im Produktionskontext ermöglicht generative KI eine Verbesserung der Abläufe durch die Bereitstellung von Prozessdetails oder Bedienungsanleitungen. Zusätzlich hilft sie bei der Visualisierung von Ideen, indem sie beispielsweise beim Programmieren hilft. „Aufgabenfelder von Fachabteilungen werden dadurch ein Stück demokratisiert“, erklärt Jens Neuhüttler, Teamleiter für Digital Service Transformation am Fraunhofer IAO. So könnte GenAI vor allem in Bereichen wie Prototyping, Design und Produktionsprozessplanung für mehr Innovationsleistung sorgen.

Ein weiterer Anwendungsfall ist die Entwicklung von KI-basierten Services oder die Schulung von Produktionsrobotern. Diese Aufgaben erfordern eine große Menge an hochwertigen Trainingsdaten, die oft nicht verfügbar sind. Hier kommen generative KI-Modelle ins Spiel: Durch die Generierung synthetischer Trainingsdaten können Unternehmen verschiedenste Situationen zuverlässig abbilden und ihre KI-Modelle umfassend trainieren. Einen ersten Versuch für das KI-gestützte Programmieren von Maschinen unternehmen Schaeffler und Siemens. Fraunhofer-Experte Neuhüttler weist jedoch darauf hin, dass der Einsatz entsprechender Anwendungen im Produktionsumfeld derzeit häufig an der fehlenden Dateninfrastruktur und -durchgängigkeit scheitert.

IAA MOBILITY 2023: GenAI in der Automobilindustrie

Als einer der ersten Automobilbauer nutzt Mercedes-Benz ChatGPT in der Produktion: Das Programm soll als sprachbasierte Schnittstelle das Produktionspersonal dabei unterstützen, die Datenanalyse zu verbessern und die Identifikation und Analyse von Fehlern zu beschleunigen. Konkret soll OpenAIs Modell helfen, die tagesaktuelle Produktionsplanung in Echtzeit zu überprüfen und bei Bedarf flexibel anzupassen.

Auch in die Fertigungslandschaften der Zulieferindustrie hält generative KI Einzug. Unter anderem startete Bosch kürzlich ein Pilotprojekt an zwei seiner deutschen Standorte, bei dem GenAI synthetische Bilder erzeugt, um KI-Lösungen für die optische Inspektion zu entwickeln oder bereits vorhandene Modelle zu optimieren. Der Zulieferer geht davon aus, dass sich so die Zeit von Projektierung über Inbetriebnahme bis hin zum Hochlauf von KI-Anwendungen von derzeit sechs bis zwölf Monaten auf nur noch wenige Wochen reduziert. Im Werk in Hildesheim wurden synthetisch generierte Bilder bereits bei ersten Serienanlagen in der Elektromotorenfertigung erfolgreich zum Training eingesetzt. Konkret nutzt Bosch die KI-Bilder, um Schweißungen von Kupferdrähten in der Elektromotorenfertigung zuverlässig zu überprüfen.

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