Magnus Östberg, Chief Software Officer von Mercedes-Benz, im Interview mit automotiveIT.

Eine derart schnelle Integration von YouTube wäre früher undenkbar gewesen, berichtet Magnus Östberg, Chief Software Officer von Mercedes-Benz. (Bild: Mercedes-Benz)

Herr Östberg, kurz vor unserem letzten Gespräch wurde das Electric Software Hub in Sindelfingen eröffnet. Hat das Hub Ihre Erwartungen erfüllt und worauf lagen bislang die Schwerpunkte?

Sehr zufrieden! Besonders bei der neuen E-Klasse haben uns die kurzen Wege enorm geholfen. Alle Abteilungen sind vor Ort, anstatt über ganz Sindelfingen verteilt. Der Software- und Hardware-Loop sowie die Integration ins Fahrzeug erfolgt alles in einem Gebäude. Das bringt Geschwindigkeit. Ohne das Hub hätten wir das nicht erreicht. Aktuell sind wir mit der Inbetriebnahme der MMA-Plattform beschäftigt. Der Hub hilft uns dabei auf fantastische Weise.

Haben Sie dadurch neue Kapazitäten gewonnen?

Wir verschwenden vor allem keine Zeit mehr und können unsere Ressourcen effizienter nutzen – auch an Standorten in anderen Zeitzonen. Egal ob im Osten oder Westen: Wenn die Entwickler etwas testen möchten, haben sie immer einen direkten Zugang. Das war vorher nicht möglich und bringt gigantische Vorteile mit sich. So konnten wir die Kapazitäten für die generelle Plattformentwicklung von MB.OS gut verteilen. Vom Base Layer der Hardware und Software über die Applikationsentwicklung bis hin zur Integration von Third Party Content: Mit der neuen Infrastruktur können wir alles selbst bedienen. In der Vergangenheit wurden diese Aktivitäten von Lieferanten übernommen. Das ist der große Unterschied.

Anfang des Jahres habe ich einen schönen Vergleich von Ihnen gelesen: Mercedes bleibe Architekt des Hauses, würde aber nicht jede Fliese selbst verlegen. Ist es dennoch eine Abkehr von der vorherigen Denkweise?

Die Gesamtstrategie, gewisse Teile gezielt selbst zu entwickeln, hat sich für MB.OS nicht verändert. Ein paar Fliesen verlegen wir selbst, andere eben nicht. Natürlich überlegen wir weiterhin, welche Komponenten wir zuliefern lassen und welche Partnerschaften einen Mehrwert bieten. Am Ende zählt immer Value for Money. Wir machen nicht standardmäßig alles inhouse, kaufen aber auch nicht alles zu. Wichtig ist, dass die Architektur und Integration bei uns liegen. Dadurch können wir neue Features viel schneller ausrollen. Ein Beispiel sind etwa die Google Place Details, die mittlerweile in drei Millionen Fahrzeugen mit MBUX verfügbar sind. So ein Update war vorher undenkbar. YouTube über Nacht zu integrieren, wäre ebenfalls unmöglich gewesen.

Jetzt wo Sie die „Handwerker“ im Haus haben: Ist auch eine tiefergehende Zusammenarbeit mit den großen Tech-Konzernen denkbar?

Wir haben bereits tiefgreifende Kooperationen mit Google und Nvidia. Auch lokale Partner spielen bei der Navigation eine Rolle – wie Amap in China oder Tmap in Südkorea. Die Integration der Google Place Details war aber nur der erste Schritt. Mit MB.OS und der MMA-Plattform wird eine völlig neue Navigation auf Basis von Google Maps eingeführt. Wir werden der erste Kunde sein, der dieses Produkt integriert. Alle weiteren Schritte und Details geben wir dann zu einem späteren Zeitpunkt bekannt.

Bei der Sprachassistenz wurde in den USA eine Beta-Phase mit ChatGPT gestartet. Was sind die bisherigen Erkenntnisse und wie werden diese genutzt?

Die größte Erkenntnis ist, dass die Kunden es mögen (lacht). Sie interagieren deutlich häufiger und länger mit unserer Sprachassistenz. Das liegt unseres Erachtens an den natürlicheren und flüssigeren Dialogen, die mit den Large-Language-Modellen möglich sind. Wir haben auch gelernt, dass die Kombination mit der klassischen Sprachsteuerung sehr gut funktioniert und weiterhin gefragt ist. Sei es das Öffnen und Schließen der Fenster oder die Klimatisierung. Zudem müssen die Datenquellen ständig geprüft werden, damit die angegebenen Points of Interest auch wirklich existieren.

Wie greifen ChatGPT, Alexa und die eigene Sprachassistenz künftig ineinander?

Im Backend verwenden wir schon heute verschiedene Datenquellen und Anbieter. Das wird auch in Zukunft so sein. Die gesamte Sprachassistenz soll über Hey Mercedes laufen. Wir überlegen gerade, in welchen Ländern die neuen Features angeboten werden und welche Large-Language-Modelle wir jeweils nutzen. Die Beta-Phase mit ChatGPT hat uns viel Input gegeben, wie wir die verschiedenen Tools zusammenfügen können.

Der neue Tourguide ist bei all den Neuerungen im Bereich Sprachassistenz etwas untergegangen. Wird das Konzept konsequent weiterentwickelt und welches Potenzial sehen Sie darin?

Definitiv, unser Tourguide wird konsequent weitergeführt und wir haben neben Deutschland weitere Märkte erschlossen. Zum Beispiel können Nutzer in Frankreich und UK nun den Tourguide verwenden. Wir möchten das Reiseerleben mit Hilfe unseres Sprachassistenten konsequent ausbauen. Für uns bedeutet das auch digitaler Luxus. Die Bausteine dafür gehen in die gleiche Richtung wie die restlichen Voice Models. Das ist ebenfalls etwas, das die Daten der ChatGPT-Beta ergeben haben. Die Funktion wird sich allerdings iterativ entwickeln. Wie nahtlos der Tourguide künftig in Hey Mercedes eingebunden ist, lässt sich deshalb noch nicht sagen. Die ganze Idee von MB.OS und der servicebasierten Architektur ist eine natürliche Entwicklung. Neue Tools und Funktionen kommen hinzu, bestehende werden adaptiert. Der Tourguide könnte also durchaus die Rolle als virtueller Assistent einnehmen.

Beim autonomen Fahren ist Mercedes-Benz einer der Vorreiter. Wann rechnen Sie mit Level 3 bei höheren Geschwindigkeiten?

In Deutschland wird das mit unserem jetzigen System schon nächstes Jahr möglich sein. Der Drive Pilot kann dann bis zu einer Geschwindigkeit von 90 km/h genutzt werden. Für die Zukunft liegt unser Ziel bei bis zu 130 km/h. Der genaue Zeitpunkt des Rollouts hängt von den rechtlichen Rahmenbedingungen und unseren Tests ab. Bei der Ausweitung des Drive Pilot auf andere Länder verhält es sich ähnlich: In den USA folgen nach und nach einzelne Bundesstaaten. In China befinden wir uns ebenfalls im Austausch mit den Behörden. Die sind sehr interessiert an unseren Learnings, genaue Daten für den weiteren Rollout gibt es bisher aber keine.

Einige Konkurrenten ziehen Hands-off-Funktionen auf Level 2 nach. Warum hat Mercedes auf ein solch praktikables System lange Zeit verzichtet?

In den USA haben wir gerade unser System auf Level 2+ ausgerollt. Fortan sind auf dem Highway automatische Spurwechsel oder das automatisierte Navigieren durch Autobahnkreuze möglich. China wird in diesem Jahr, europäische Länder im kommenden Jahr folgen. Das Zeitfenster für die Einführung einer Hands-off-Funktion haben wir allerdings vergrößert. Wir machen keine Spielereien mit unseren Kunden. Erst die MMA-Plattform kann durch eine bessere Fahrerüberwachung ein derart sicherheitsrelevantes System ermöglichen. Viele Länder erlauben eine solche Funktion zudem nicht. In China wäre es aktuell unmöglich. Komplexere Situationen wie den Stadtverkehr können wir auf L2+ ebenfalls mit der neuen Plattform adressieren.

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