Ein Fahrer testet den autonomen Drive Pilot in der neuen S-Klasse.

Mercedes-Benz bringt das autonome Fahren in seinen Flagship-Modellen auf die Straße. (Bild: Mercedes-Benz)

Mercedes-Benz untermauert mit dem Drive Pilot seine Vorreiterrolle beim autonomen Fahren. Seit Mai 2022 können die neue S-Klasse sowie der vollelektrische EQS mit dem Assistenzsystem auf SAE-Level 3 ausgestattet werden. Dafür hatten die Stuttgarter die nötige Systemgenehmigung des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) auf Basis der technischen Zulassungsvorschrift UN-R157 erhalten. Nun dürfte es nicht mehr lange dauern, bis das System die nächste Entwicklungsstufe erreicht und für Geschwindigkeiten bis 95 km/h freigegeben wird, kündigte Entwickler Matthias Kaiser im Interview mit automotiveIT an.  Ende September 2024 folgt die Bestätigung: Künftig kann das System in Deutschland auch bei normal fließendem Verkehr auf der rechten Autobahnspur unter bestimmten Bedingungen hinter einem vorausfahrenden Fahrzeug eingesetzt werden. Die vorher bereits verfügbare Option, das System bei hohem Verkehrsaufkommen und in Stausituationen auf geeigneten Autobahnabschnitten zu nutzen, bleibt erhalten. Die Neu-Zertifizierung durch das Kraftfahrtbundesamt wird bis Ende 2024 erwartet, wonach der Verkaufsstart voraussichtlich Anfang 2025 erfolgen kann, heißt es vom OEM.

Der Drive Pilot ist für EQS sowie S-Klasse mittlerweile auch in den US-Bundesstaaten Kalifornien und Nevada bestellbar. „Als erster Hersteller geht bei uns hochautomatisiertes Fahren in Deutschland in Serie“, freute sich Markus Schäfer, Entwicklungsvorstand und Chief Technology Officer. „Mit diesem Meilenstein beweisen wir einmal mehr unsere Pionierleistung beim automatisierten Fahren und leiten zudem einen radikalen Paradigmenwechsel ein. Denn erstmals in 136 Jahren Automobilgeschichte übernimmt das Fahrzeug unter bestimmten Voraussetzungen die dynamische Fahraufgabe.“ Seit Ende 2023 haben die Stuttgarter auch eine Testlizenz für das Level-3-System in Peking.

Was bedeutet SAE-Level 3?

Level 3 des autonomen Fahrens entspricht einer bedingten Automatisierung. Der Fahrer kann seine Aufmerksamkeit vom Straßenverkehr abwenden, muss allerdings übernahmebereit bleiben. So können mit dem Stauassistenten auf der Autobahn etwa das Smartphone bedient oder Videos über das Infotainment angesehen werden. Schlafen ist hingegen nicht erlaubt, da eine geforderte Übernahme innerhalb von Sekunden erfolgen muss.

In welchen Ländern ist Drive Pilot verfügbar?

Der Marktstart in Deutschland markierte nur den ersten Meilenstein. Auf der Consumer Electronics Show 2023 in Las Vegas verkündete der Autobauer zudem die erfolgreiche Zertifizierung des Drive Pilot im US-Bundesstaat Nevada und seit Juni 2023 ist die Technologie auch in Kalifornien erlaubt. Im Rest der USA, weiteren europäischen Ländern und China ist die Einführung ebenfalls vorgesehen – sobald dort insbesondere die Abwendung von der Fahraufgabe rechtlich erlaubt ist.

Außenbeleuchtung im EQS
Gut erkennbare türkise Lichter sollen die Akzeptanz und die Sicherheit erhöhen, da ein automatisierter Fahrmodus damit auch von außen klar erkennbar ist. (Bild: Mercedes-Benz)

Wie funktioniert der Drive Pilot?

Der Drive Pilot übernimmt bei hohem Verkehrsaufkommen oder Stausituationen die gesamte Fahrtätigkeit auf der Autobahn, solang 60 km/h bzw. 40 mp/h nicht überschritten werden. In Deutschland sind insgesamt rund 13.200 Kilometer an Strecke freigegeben. In Nevada ist bislang von „passenden Freeway-Abschnitten“ die Rede. Der Fahrer kann sich Nebentätigkeiten widmen, nachdem er den Drive Pilot aktiviert hat. Dennoch muss jederzeit übernahmebereit bleiben. Schließlich funktioniert das System nicht in Tunneln und Baustellenabschnitten, bei herannahenden Rettungsfahrzeugen sowie bei stark regnerischem Wetter.

Zur besseren Erkennbarkeit haben die Stuttgarter Ende 2023 eine Ausnahmegenehmigung für spezielle Markierungslichter für automatisiertes Fahren in den US-Bundesstaaten Kalifornien und Nevada erhalten. Die Ausnahmegenehmigung für Entwicklungsfahrzeuge in Kalifornien ist zunächst auf zwei Jahre befristet. In Nevada ist hingegen der Einsatz in Serienfahrzeugen ab Modelljahr 2026 gestattet und unbefristet gültig, bis die Gesetzeslage den regulären Betrieb zulässt.

Was ist die technische Grundlage des Drive Pilot?

Für den Drive Pilot wurden die Kameras sowie Radar- und Ultraschallsensoren des Fahrerassistenz-Pakets ergänzt. So baut Mercedes-Benz für den Betrieb auf SAE-Level 3 allen voran auf einen Lidar-Sensor von Valeo, der in der S-Klasse gar seine Premiere feierte. Der sogenannte Scala 2 soll bei allen Lichtverhältnissen funktionieren, mögliche Verfälschungen – etwa durch Regentropfen – mittels Software eliminieren und eigenständig das Reinigungssystem auslösen, wenn das Sichtfeld durch Eis oder Staub blockiert ist. Zusätzlich werden Mikrofone, ein Nässesensor im Radkasten sowie eine weitere Kamera in der Heckscheibe integriert. Darüber hinaus verfügen S-Klasse und EQS mit Drive Pilot über redundante Lenk- und Bremssysteme sowie ein redundantes Bordnetz, um auch bei Ausfall eines dieser Systeme manövrierfähig zu bleiben und eine sichere Übergabe an den Fahrer zu gewährleisten.

Um den Fahrzeugstandort im Zentimeterbereich zu bestimmen, greift Mercedes auf ein hochpräzises Positionierungssystem zurück, das über gängige GPS-Systeme hinausreicht. In Verbund mit den Sensoren liefert es die Daten für die digitale HD-Karte im Backend, die durch die Flotte stetig abgeglichen und lokal aktualisiert wird. So entsteht ein dreidimensionales Abbild der Umgebung mit allerlei Informationen zum Straßenzustand, Verkehrszeichen oder besonderen Verkehrsereignissen.

Wie reagiert der Drive Pilot im Notfall?

Sollte es während der Nutzung des Drive Pilot zu einem Systemausfall oder einem medizinischen Notfall beim Fahrer kommen, hat Mercedes ebenfalls vorgesorgt. Die hochautomatisierten Fahrzeuge sind mit redundanten Lenk- und Bremssystemen sowie einem zusätzlichen Bordnetz ausgestattet. Sie sollen die Manövrierfähigkeit zu jeder Zeit gewährleisten. Kann indes der Fahrer nicht seiner Pflicht zur Übernahme des Fahrzeugs nachkommen, leitet das System nach zehn Sekunden zeitnah einen Nothalt ein und aktiviert die Warnblinkanlage.

Wie weit ist Mercedes beim autonomen Parken?

Doch nicht nur das Fahren, auch das Parken wird zunehmend autonom. Analog zur Evolution von Intelligent Drive zum Drive Pilot erhielt der Memory-Park-Assistent, der das Einlernen für einen spezifischen Stellplatz ermöglicht, ein visionäres Pendant. Demnach sind die S- und E-Klasse, der EQS und EQS SUV, der EQE und EQE SUV sowie das T-Modell mit dem Intelligent Park Pilot für fahrerloses Parken gerüstet.

Beim Automated Valet Parking (AVP) auf SAE-Level 4 erfolgt das Ein- und Ausparken vollautomatisiert und fahrerlos. In Parkhäusern mit der notwendigen Infrastruktur wird das Auto dafür auf einer vordefinierten Abstellfläche verlassen und der Parkvorgang über das Smartphone initiiert. Anschließend fährt es eigenständig zu einem freien Parkplatz und kehrt auf Wunsch zur Pickup-Area zurück. Seit Dezember 2022 ist dies am Stuttgarter Flughafen (P6) im Serienbetrieb möglich – erstmals weltweit. Das Ergbnis einer jahrelangen Kooperation des OEMs mit Bosch.

Hat Mercedes die Konkurrenz abgehängt?

Während die beiden Unternehmen das autonome Parken an den Start brachten, endete die Kooperation bei der Entwicklung von Robotaxis hingegen im Sommer 2021. Seither zählen Luminar und Nvidia zu den prominentesten, verbleibenden Partnern beim autonomen Fahren. Die Entwicklungskooperation mit BMW wurde ohnehin bereits im Sommer 2020 auf Eis gelegt. Anstatt der großen Verbrüderung kehrten die deutschen Premiumhersteller zum Status Quo zurück.

Seither setzte Mercedes an den richtigen Stellen auf eigene Kompetenzen und fokussierte sich auf autonome Fahrfunktionen für Privatfahrzeuge – im Gegensatz zu Volkswagen oder Konkurrenten aus den USA und Fernost. Obwohl die Stuttgarter mit dem Drive Pilot die Führungsposition im Wettlauf um höhere SAE-Level innehaben, den alltäglicheren Nutzen schaffen derzeit Systeme auf Level 2+. Doch auch hier gibt es erfreuliche Neuigkeiten. Der aktive Abstandsassistent Distronic für die C-, E- und S-Klasse sowie für alle EQ-Modelle ist bereits auf SAE-Level 2+ verfügbar. Im Juli 2023 erfolgte schließlich die Ankündigung für den europäischen Markt. Der automatische Spurwechsel (ALC) wurde ebenfalls ergänzt. Dieser überholt langsamere Fahrzeuge zwischen 80 und 140 km/h ohne Zutun des Fahrers. Notwendig seien lediglich autobahnähnliche Straßen mit Spurmarkierungen und baulich getrennte Richtungsfahrbahnen. Zudem hilft ALC bei beim Ansteuern von Ausfahrten sowie beim Wechseln von Autobahnen.

Ab September 2024 ist der Automatic Lane Change im Fahrassistenz-Paket Plus für 33 europäische Länder verfügbar. Insgesamt 15 Mercedes-Benz Typen der C-, E- und S-Klasse, GLC, CLE sowie EQE, EQS sowie EQS SUV und EQE SUV können das System erhalten – entweder ab Werk oder per Over-the-Air-Update.Schließlich wird es nur eine Randnotiz sein, wer das autonome Fahren zuerst auf die Straße oder in die Parkhäuser brachte. Die Begehrlichkeit der Massen muss geweckt sowie alltagstauglich und länderübergreifend bedient werden.

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