Herr Bratzel, in ihren Auswirkungen auf die Branche hat die Halbleiterkrise die Coronapandemie noch in den Schatten gestellt. Muss die deutsche Autoindustrie sogar um ihre Zukunftsfähigkeit bangen?
Tatsächlich ist die Situation gar nicht so dramatisch, wie man vielleicht annehmen könnte. Vielmehr ist sie zwiespältig: Auf der einen Seite erleben wir gerade massive Absatzeinbrüche im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie, auf der anderen Seite fahren die Autohersteller momentan zum Teil hohe Gewinne ein. Das liegt daran, dass vor allem höherpreisige Fahrzeuge aus dem Premiumsegment verkauft wurden und gleichzeitig einiges an Kosten gespart wurde.
Also alles halb so wild?
Ich will auf keinen Fall die aktuelle Halbleiterkrise kleinreden. Das ist schon eine schwierige Lage, in die sich die Hersteller selbst hineinmanövriert haben. Hier hat die Branche noch nach altem Muster einer vertikalen Hersteller-Zulieferer-Beziehung agiert und in der Erwartung des Absatzrückgangs während der Hochphase der Coronapandemie einfach Teile abbestellt. Die OEMs hätten sich frühzeitig um partnerschaftliche Beziehungen mit den relevanten Chipherstellern bemühen müssen. Das Positivbeispiel ist hier erneut Tesla: Der OEM hat zwar auch unter dem Halbleitermangel leiden müssen, war aber aufgrund seiner Kompetenzen dazu in der Lage, die wenigen verfügbaren Chips noch so umzuprogrammieren, dass man die Krisensituation besser abfedern konnte.
Wie lange wird die Leidensphase noch dauern? Einige gehen davon aus, dass die Auswirkungen noch bis ins Jahr 2023 spürbar sein werden...
Noch bin ich da etwas optimistischer: Der große Impact der Halbleiterkrise wird spätestens im Frühjahr dieses Jahres nicht mehr so stark zu spüren sein. Daher gehe ich aktuell davon aus, dass dieses Jahr bilanziell deutlich besser für die Autobranche ausgehen wird, als es letztes Jahr der Fall gewesen ist.
Müssen die Akteure in Europa jetzt verstärkt in den Aufbau einer eigenen Halbleiterfertigung investieren, wie wir es im Bereich der Batterieproduktion erleben?
Für die deutsche Autoindustrie ist es schon wichtig, die Kompetenzen in den technologischen Kernfeldern, die für die Fahrzeugproduktion entscheidend sind, in der eigenen Region zu halten und aufzubauen. Das muss nicht unbedingt Deutschland, aber mindestens mal Europa sein. Die Abhängigkeit von Fertigern aus dem Ausland, insbesondere aus China, ist mit Blick auf europäische Produktionsstandorte gefährlich. Schwerwiegend hinzu kommt die Tatsache, dass die OEMs gerade ihr Kompetenzspektrum mit Blick auf Software im Fahrzeug neu definieren. Da ist es besonders wichtig, die Supply Chain dahingehend abzusichern, indem man kritische Glieder dieser Kette nah am eigenen Unternehmen beheimatet.
Immer wieder machen Meldungen und Gerüchte rund um Standortschließungen und Stellenabbau bei großen Herstellern und Zulieferern die Runde. Böse Zungen könnten behaupten, die schwierige Phase wird dankenswerter Weise für eine eventuell notwendige Verschlankung genutzt...
Bei aller Bedeutung, die dieser Transformation im Bereich Antriebe und Digitalisierung beigemessen wird, sollte man nicht vergessen, dass dieser Wandel auch Arbeitsplätze kosten wird. Wir befinden uns momentan erst im ersten Drittel dieses Transformationsprozesses, da wird noch einiges auf die Branche zukommen. Natürlich werden solche Krisen dafür genutzt, ohnehin anstehende strukturelle Veränderungen durchzusetzen. Da geht es nicht nur um den aus meiner Sicht unvermeidbaren Jobabbau in bestimmten Bereichen, sondern auch um eine regelrechte Neuordnung der Automobilindustrie. Exemplarisch steht für mich die Diskussion um Opel und die Frage, welche Rolle bestimmte Marken in Konzernverbünden wie Stellantis künftig noch spielen werden.
Schon seit einigen Jahren skizzieren Sie einen "Kampf der Welten" zwischen Tech-Playern und der Autobranche. Könnte es nun tatsächlich zu Übernahmen von Automotive-Unternehmen durch einen großen Big-Data-Player kommen?
Die Tech-Player sind sich ihrer Stärke bewusst, weswegen ich eher daran zweifele, dass eine Übernahme eines Autobauers für sie überhaupt infrage kommt. Auf der einen Seite ist der Automobilbau nicht das Kerngeschäft von Internet- oder Technologiegiganten, die auf der anderen Seite relativ einfach schwächer positionierte Hersteller für ihre Zwecke im Mobilitätsbereich als Partner an sich binden können.
An welches Beispiel denken Sie da?
Schauen wir nach China: Dort hat der marktbeherrschende Mobility Provider Didi Chuxing BYD beauftragt, ein elektrisches Ridehailing-Fahrzeug nach den Vorgaben des Mobilitätsanbieters zu entwickeln und zu fertigen. In diesem Fall ist der Autohersteller der Lieferant für ein Technologieunternehmen. Das unterstreicht, wie sich die Hierarchien in der Industrie künftig verschieben könnten. Dennoch glaube ich nicht, dass es zu Aufkäufen von OEMs durch Tech-Player in naher Zukunft kommen wird. Viel eher wird sich die Autobranche weiter konsolidieren, indem sich kleinere Hersteller zu Konzernverbünden zusammenschließen, um sich gegen die Übermacht von Google, Alibaba und Co. stemmen zu können.
Vor allem die deutschen Autohersteller wollen bei der softwarebasierten Wertschöpfung den großen Rückstand auf neue Player wie Tesla aufholen. Kann ihnen das gelingen oder kann man sagen, dass der Softwarezug schon abgefahren ist?
Es wird ohne Zweifel keine einfache Aufgabe. Hersteller wie Volkswagen oder Mercedes-Benz haben angekündigt, eigene Software-Betriebssysteme zu entwickeln, was jedoch noch einige Jahre dauern wird. In der Zeit wird sich die Welt weiterdrehen und auch Player wie Tesla oder Nio werden ihre Systeme weiter verbessern. Die deutschen Hersteller müssen es schaffen, bei der Vernetzung des Fahrzeugs besser oder mindestens genauso gut zu sein wie die Big-Data-Player, deren Kernkompetenzen nun mal bei Daten, Software und Digitalisierung liegen. Und wenn es auch nicht gänzlich gelingen wird, ohne Kooperationen mit der Tech-Welt auszukommen, müssen die OEMs dennoch alle fahrzeugnahen Services und Features bereitstellen, um den Kunden an sich zu binden. Für mich ist das Rennen bei der softwarebasierten Wertschöpfung rund um das Fahrzeug völlig offen.
Einige Autobauer erhoffen sich durch Kooperationen mit Tech-Playern beim Thema Software Geschwindigkeitsvorteile. Auf der anderen Seite geht man damit das Risiko ein, die Kontrolle über zentrale Bereiche der Wertschöpfung aus der Hand zu geben.
Es ist in der Tat ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist die Geschwindigkeit, mit der man mehrwertgenerierende Features vor Kunde bringen kann, absolut erfolgskritisch. Andererseits holt man sich mit solchen Kooperationen mit Technologieunternehmen gleichzeitig einen Wettbewerber um den digitalen Kontakt zum Kunden ins Boot und begibt sich damit in eine gefährliche Abhängigkeit. Ich sehe dabei noch eine weitere Gefahr: Partnerschaften mit Tech-Playern könnten OEMs dazu verleiten, nicht parallel an den eigenen Technologiekompetenzen intensiv weiterzuarbeiten. Dadurch vergrößert sich der Rückstand und der Weg zum reinen Hardwarelieferanten wird immer unausweichlicher.
In einer neuen Studie haben Sie festgestellt, dass die Zahl der Rückrufe in den letzten Jahren rasant zugenommen hat. Vor allem Softwareprobleme sind häufig der Grund für eine Rückbeorderung in die Werkstatt. Wird sich das Problem mit zunehmender Digitalisierung und Vernetzung des Autos noch verschärfen?
Das wird ganz sicher so sein. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Softwareanteile und damit die Komplexität im Fahrzeug ja erst in den letzten Jahren stark angestiegen sind. Das Mängelverhältnis zwischen Software und mechanischen Teilen wird sich in der kommenden Zeit noch stärker in Richtung Software verschieben. Umso wichtiger wird es für die Hersteller sein, die Möglichkeiten von Over-the-Air-Updates weiter auszubauen. Wenn das Betriebssystem über den gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeugs durch solche Aktualisierungen auf dem neuesten Stand gehalten wird, kann ein Großteil der Softwareprobleme schnell und unkompliziert gelöst werden. Das ist ein elementarer Hygienefaktor.
Der Wandel zur Elektromobilität ist in vollem Gange, viele Hersteller setzen alles auf die batterieelektrische Karte. Aus Ihrer Sicht die richtige Entscheidung?
Die Autohersteller sollten den strategischen Fokus auf die batterieelektrische Mobilität legen. Sowohl nach innen ins Unternehmen als auch nach außen sollte klar kommuniziert werden: Die Antriebswende in Richtung Elektromobilität ist für uns alternativlos. Aber dieser Wandel ist auch eine Wette auf die Zukunft, die voraussetzt, dass sich die Spirale beispielsweise in regulatorischer Hinsicht weiter in die Richtung der batterieelektrischen Mobilität dreht. Oder anders gesagt: Der Verbrennungsmotor muss einen weiteren Malus bekommen und darf sich gegenüber dem elektrischen Antrieb künftig einfach nicht mehr lohnen. Eine weitere Voraussetzung für den Markthochlauf ist der konsequente Ausbau der Ladeinfrastruktur, verbunden mit einer vollendeten Energiewende. Das alles braucht erhebliche Anstrengungen, die nicht unbedingt alle von den Herstellern zu kontrollieren sind. Für mich besteht dennoch kein Zweifel daran, dass wir, wenn wir die Klimaschutzziele wirklich ernst nehmen wollen, an der Antriebswende nicht vorbeikommen. Ein Zurück zum Verbrenner ist keine Alternative.
Angebot und Nachfrage sind das eine, Stromerzeugung und vor allem ein stabiles Stromnetz für Millionen Elektrofahrzeuge das andere. Haben wir uns als Gesellschaft mit der Elektromobilität womöglich ein Ei ins Nest gelegt?
Die Ertüchtigung der Verteilnetze ist für den Ausbau der Ladeinfrastruktur elementar. Verbunden mit einem Mehr an regenerativen Energien ist das wahrlich eine Herkulesaufgabe, die Milliardeninvestitionen vonseiten des Staates erfordert und nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Dazu muss die Ladeinfrastruktur smart sein, das heißt, das Laden muss zu den Zeiten stattfinden, zu denen ausreichend regenerativer Strom zur Verfügung steht. Um das jetzt schnellstmöglich in Gang zu bringen, braucht es engagierte Akteure auf Seiten der Politik und der Industrie, die gemeinsam an diesem Mammutprojekt mit Nachdruck arbeiten. Dabei darf es kein Silodenken mehr geben, bei dem sich jeder auf den anderen verlässt, sonst kommen wir hier nicht weiter.
Nachdem es einige Zeit eher ruhig um das Thema autonomes Fahren geworden ist, scheint nun neuer Schwung in die Sache zu kommen. Gerade im Kontext neuer autonomer Fahrdienste haben Hersteller und Tech-Konzerne große Sprünge angekündigt. Rücken wir der Robotaxi-Realität tatsächlich näher?
Wir kommen dieser Realität näher, aber nur Schritt für Schritt. In den zurückliegenden Jahren haben wir eher die große Ernüchterung erlebt, weil die Erwartungen an das autonome Fahren dann doch zu hoch waren. Ganz sicher kann die Technologie ein Game Changer werden, doch sollten wir dem ganzen noch ein wenig Zeit geben. Die Anstrengungen müssen jetzt wieder intensiviert werden, damit in fünf oder zehn Jahren die nächste Stufe der Entwicklung zünden kann. Dann werden Robotaxis und Fahrzeuge auf Level vier und fünf zur Realität und einen großen Impact auf die Mobilität haben. Ich warne nur davor, zu schnell zu viel zu erwarten. Beispielsweise sollte man viel vorsichtiger in der Kommunikation der sogenannten "Vision Zero" sein: Auch mit vollautonomen Fahrzeugen wird es in Zukunft zu Unfällen kommen. Doch die Zahl der Unfälle wird deutlich niedriger sein als beim manuellen Fahren. Dieser gesellschaftliche Nutzen muss allen bewusst werden.
Jährlich erfassen Sie in Ihren Datenbanken die Innovationsfähigkeit der Autohersteller. Haben Sie schon ein Gefühl, in welche Richtung das Pendel in diesem Jahr ausschwenken wird, mit Corona und Halbleiterkrise im Nacken?
Bei den Zukunftsfeldern wie Software oder Elektromobilität liegen die großen Schlagzeilen hinter uns, jetzt werden die Autobauer die Mühen der Ebenen erleben. Es geht jetzt um die Execution, das Bohren dicker Bretter beispielsweise bei der Elektromobilität, beim autonomen Fahren oder der Softwarethematik, bei denen nun Mehrwerte für den Kunden generiert werden müssen. Und es muss gelingen, bei den Kunden die Akzeptanz und das Bewusstsein für diese neuen Themen zu schaffen, indem man die Potenziale und Mehrwerte aufzeigt. Das ist sicherlich eine Aufgabe für die Automobilunternehmen, aber auch ein Job der Politik, die die entsprechenden Rahmenbedingungen beispielsweise bei der Ladeinfrastruktur schafft.
Zur Person:
Der 1967 in Münzesheim (Baden) geborene Automobilexperte Stefan Bratzel studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und promovierte dort zu den "Erfolgsbedingungen von umweltorientierter Verkehrspolitik". Beruflich folgten Managerpositionen bei Smart, Quam und PTV, ehe Bratzel 2004 als Dozent und Studiengangsleiter für Automotive Management an die private Fachhochschule der Wirtschaft (FHDW) in Bergisch Gladbach wechselte. Im gleichen Jahr gründete er das Center of Automotive Management (CAM), das er bis heute als Direktor leitet.