Oliver Ganser

Oliver Ganser ist seit 2021 Vorstandsvorsitzender von Catena-X und seit 2023 Vice President Processes, Digitalization, Governance and Catena-X bei BMW. (Bild: Pascal Rohe)

Herr Ganser, wenn wir mit Personen aus der Branche sprechen, fragen wir auch immer nach dem Stellenwert von Catena-X für die jeweiligen Unternehmen. Die Antworten reichen dabei von „extrem wichtig“ bis zu „noch nie gehört“. Woran liegt das?

Wir erkennen, dass Catena-X eine gewisse Komplexität besitzt, was es für einige Unternehmen schwer macht, das Projekt einzuordnen. Catena-X ist weder ein reines IT-Produkt noch ausschließlich ein Geschäfts-, Nachhaltigkeits- oder Qualitätsprodukt und adressiert auch kein reines Versorgungsproblem. Viele Unternehmen finden es anfangs herausfordernd, da offenbleibt, wer die Leitung übernimmt und wie es im Unternehmen implementiert wird. Das große Potenzial von Catena-X entfaltet sich ähnlich wie das Internet: Es geht nicht nur darum, das Internet für E-Mails zu nutzen, sondern es ermöglicht auch einen Webshop, Kundenansprache und viele andere Anwendungen.

Was bedarf es, um Catena-X erfolgreich einzusetzen?

Es ist erfolgreich, wenn es auf eine breite Basis gestellt wird, weil man dann von einem gemeinsamen Set an Industriestandards profitieren und Geschäftsprozesse darauf einstellen kann. Heute sucht jeder Fachbereich oder jede Business-Domäne natürlich eine individuelle Lösung. Beispielsweise finden sich in Unternehmen spezifische Lösungen für Nachhaltigkeit mit CO2-Berechnung oder für Versorgung und Qualität. Jede Business-Einheit hat eine Lösung, die ein IT-Problem adressiert und eine Verbindung zu Partnern herstellt. Wenn man jedoch auf der anderen Seite steht, sieht man sich mit fünf, sechs oder sieben Bereichen konfrontiert, die unterschiedliche Themen mitbringen. Diese stellen aus IT-Sicht sieben verschiedene Verbindungen dar, die wahrscheinlich kein einheitliches semantisches Modell haben. Die Frage lautet, wer innerhalb des Unternehmens die Orchestrierung übernimmt. Es zeigt sich, dass es Unternehmen gibt, die von Anfang an verstehen, dass sie durch eine gemeinsame Semantik, ein gemeinsames Interface und gemeinsame Protokolle einen großen Skalierungs- und Effizienzhebel haben. Andere Firmen beginnen mit einem Fachbereich, um zu sehen, wie es funktioniert, ohne die weitreichenden Möglichkeiten, die Catena-X ihnen bietet, zu erkennen.

Wo steht Catena-X denn im April 2024?

Wir sind im Oktober 2023 live gegangen und haben in zweieinhalb Jahren viel entwickelt. Viele Unternehmen behaupten, sie würden Open Source nutzen und dazu beitragen. Tatsächlich konsumieren die meisten Open Source, aber nur wenige sind Committer und Contributor, also diejenigen, die von Grund auf Neues entwickeln. Catena-X hat es geschafft, über Monate oder Quartale hinweg der stärksten Contributor und Committer innerhalb der Eclipse Open Source Foundation zu werden. Dies liegt daran, dass die Industrie erkannt hat, dass sie gemeinsam Wert schaffen kann. Das Prinzip "Give more than you take" wird von den Unternehmen nach und nach angenommen, und die Anzahl der Committer und Contributor in Open Source steigt.

Wie geht es weiter?

Das erste Konsortium bestand aus 28 Unternehmen und wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert. Letztes Jahr begannen wir, nachdem wir im Oktober eine Basis geschaffen hatten, zu sagen, dass wir mehr Unternehmen einbeziehen müssen, um sie an dieser gemeinschaftlichen Industriedenkweise teilhaben zu lassen. Seit Ende letzten Jahres haben wir dies umgesetzt, sodass Unternehmen wie Valeo, Renault, sowie indische, chinesische, japanische und amerikanische Firmen, sich der Open-Source-Community und dem Verein anschließen. Sie beginnen, den Ansatz Schritt für Schritt zu verstehen und möchten mitwirken. Aber für die Automobilindustrie ist das schon noch ein krasser Schritt.

Warum?

Platt gesprochen, hat man früher gesagt, man kauft eine Lizenz von Firma ABC und kann diese Firma in die Pflicht nehmen, wenn etwas nicht passt. Am Ende ist man jedoch gegebenenfalls proprietären Standards und oft auch den Schnittstellen hinsichtlich der Skalierung ausgesetzt. Die Arbeit mit Open-Source birgt eine andere Haftung, bietet aber auch andere Vorteile. Es hängt davon ab, wer in der IT die Entscheidungen trifft, ob man nur konsumieren oder auch beitragen und gestalten möchte. Also wo stehen wir? Mit dem Catena-X-Open Source Ansatz wurde Schritt für Schritt erkannt, dass es zwar kleine, aber wichtige Fortschritte gibt. Unternehmen, auch neue, beginnen beizutragen und damit Standards und Protokolle zu schaffen, die die Industrie unterstützen und verschiedene Geschäftsprobleme lösen, etwa in Bezug auf Nachhaltigkeit, Qualität und Versorgung. Das ist super.

Welche wichtigen Erfahrungen haben Sie aus den Gesprächen mit Unternehmen über eine Beteiligung an Catena-X gesammelt?

Es ist erschreckend, dass viele Unternehmen die EU-Anforderungen, die in den nächsten ein bis zwei Jahren auf sie zukommen, sowohl IT- als auch Compliance-seitig, nicht im Blick haben. Wir müssen oft Grundlagenarbeit leisten und klären, welche Anforderungen durch Gesetzgebungen wie die Corporate Sustainability Reporting Directive entstehen, laut der sie ab 2027 mehr als 1000 Datenpunkte berichten müssen, von denen die Hälfte aus der Lieferkette stammen werden. Wenn wir Firmen fragen, wie sie diese Datenpunkte ohne Catena-X erfassen wollen, sind viele ratlos. Wie sollen sie etwa den Product Carbon Footprint, Versorgungsthemen oder Environmental-Social-Standards über verschiedene Wertschöpfungsstufen hinweg für die EU-Gesetzgebung erfassen? Viele haben sich dazu noch keine Gedanken gemacht. In zwei Jahren Ketten aufzubauen, ist eine Herausforderung, die nicht über Nacht bewältigt werden kann. Oft wird dann auf die IT-Abteilung verwiesen, was wirklich besorgniserregend ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Mittelstand: Viele unterschätzen die Komplexität der Anforderungen, die in der EU und anderen Regionen auf die Industrie zukommen, und denken, sie könnten sich einfach eine Lösung "einkaufen". Wir müssen viel Aufklärungsarbeit leisten, was wir so nicht erwartet hatten. Wir fragen Firmen, ob sie wissen, was auf sie zukommt und ob sie eine Lösung haben. Die einzige Option scheint ein offenes System über Netzwerke zu sein. Dann beginnen Firmen intern Diskussionen, um zu verstehen, was beispielsweise ein Batteriepass erfordert.

Können Sie ein Beispiel näher erläutern?

Ein Beispiel ist IMDS, eine Materialdatenbank, die vor 25 Jahren von der Industrie erstellt wurde. Sie enthält Compliance-Informationen zur Materialkonformität, beispielsweise ob ein Material als Gefahrstoff eingestuft wird. Es handelt sich um öffentlich zugängliche Informationen, einen geteilten Service. Viele Partner vergleichen dies mit Catena-X und denken, sie könnten einfach ihre Protokolle und CO2-Werte dort einpflegen. Doch Entscheidungen über Vergaben werden zukünftig auf Basis des CO2-Wertes getroffen. Einige Firmen nehmen dies noch auf die leichte Schulter und glauben, sie könnten einfach Informationen hinzufügen, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Innerhalb der Firmen, die sich Catena-X angeschlossen haben, müssen wir die Verantwortlichen zusammenbringen und ihnen die Diskrepanzen in ihrem Verständnis aufzeigen. Während eine Geschäftseinheit meint, sie hätte bereits eine Lösung und könne Daten einfach hinzufügen, sieht eine andere die Sensibilität der Daten. Wir hatten nicht erwartet, dass so viel Aufklärungsarbeit bezüglich Data Governance, Datenbereitschaft und Datensensibilität sowie dem Umgang mit einem solchen Netzwerk und zukünftigen Anforderungen notwendig sein würde. Das sollten wir als Wirtschaft besser können.

Wie genau ist Catena-X aufgestellt und wie muss man sich diesen Onboarding-Prozess vorstellen?

Catena-X besteht aus drei Säulen: Entwicklungsbereich, neutrale Governance und operativer Datenraum. Im Entwicklungsbereich kann jede Firma Entwicklungen konsumieren. Die neutrale Governance, repräsentiert durch den Catena-X-Verein, hält Standards, führt Zertifizierungen durch und übernimmt den Transfer. Im operativen Datenraum bieten oder betreiben Firmen ihre Produkte, hier findet der aktive Datenaustausch statt. Diese Trennung ist aufgrund von Compliance, Anti-Trust und weiteren Aspekten notwendig. Der Verein bietet grundlegende Informationen an und leistet abstrakte Transferarbeit, aber nicht individuell. Eine Firma, die sich informieren möchte, würde sich an eine Betreibungsgesellschaft oder einen Onboarding-Partner wenden. Es gibt eine Liste für den Onboarding-Plan. Der erste Schritt ist, sich zu informieren und eine Entscheidung zu treffen. Dann müssen Firmen sich mit dem Datenspace verbinden, indem eine zentrale Stelle ihre Identität verifiziert und ihnen eine digitale Identität über ein Clearinghouse zuweist. Dienstleister wie die Telekom und andere Firmen bieten Konnektoren als Service an, einschließlich des Onboardings. Dies ermöglicht es mittelständischen Unternehmen, sich effektiv zu integrieren.

Wie geht es weiter?

Mittelständler, die nun über einen solchen Connector und eine digitale Identität verfügen, fragen sich, was als Nächstes zu tun ist. Für Daten in Excel gibt es Tools, die eine Konvertierung in digitale Zwillinge ermöglichen, welche dann mit Partnern geteilt werden können. Dies sind Einstiegsangebote speziell für Mittelständler. Größere Firmen wie SAP bieten nicht nur einen einfachen Upload-Service an, sondern auch tiefere Integrationen, je nachdem, wie technologisch fortgeschritten eine Firma ist. Für Mittelständler ist es wichtig, eine einfache Einstiegslösung zu haben, die besagt, dass sie eine verifizierte digitale Identität besitzen und sich auf jemanden verlassen können, der den technologischen Part verwaltet. Dies umfasst Managed Identity Wallets und Credentials, was für den deutschen Mittelstand, aber auch für große Unternehmen eine Herausforderung darstellen kann. Die Lösung bietet eine digitale Identität, Connectivity as a Service mit einem Upload-Service und ermöglicht den Austausch von digitalen Zwillingen sowie den Einsatz von Open-Source-Software für Traceability-Lösungen. Als letzte Ausbaustufe existiert ein besonders leistungsstarker Service wie German Edge Cloud und die ERP-Integration von SAP oder Siemens. Die Reise beginnt damit, dass man eine Identität besitzt und digitale Zwillinge erzeugen kann. Anschließend folgen Zwischenstufen, bis eine vollständige ERP-Integration erreicht ist.

Wie ist der aktuelle Stand bei Cofinity-X und gibt es inzwischen weitere Betreibergesellschaften?

Insgesamt verfügt Catena-X über acht Rollen, darunter On-Boarding Service Provider, Core Service Provider, Marktplatzbetreiber und Business Application Provider. Cofinity übernimmt vier dieser Rollen, und jede Firma kann mehrere Rollen in sich vereinen. Cofinity kann beispielsweise das On-Boarding übernehmen, indem sie Hilfestellung bei der Erstellung einer digitalen Identität in einem Datenraum leistet und Credential oder eine IP-Adresse vergibt. Ab Mai 2024 werden zwei weitere Firmen diesen Service anbieten, der zuvor ausschließlich von Cofinity bereitgestellt wurde. Welche das sind, darf ich noch nicht sagen. Diese Firmen sind zertifiziert, was eine Erweiterung des On-Boarding Services ermöglicht. Aktuell besteht noch kein Bedarf seitens der angemeldeten Firmen, weitere Marktplätze zu betreiben, jedoch ist dies in der Zukunft denkbar. Ab Mai gibt es somit drei On-Boarding Provider, die digitale Identitäten ausstellen können. Eine ähnliche Lösung wird voraussichtlich bis Ende des Jahres auch für China benötigt. Dies markiert einen Schritt in Richtung der angestrebten Dezentralität, wobei unterschiedliche Rollen schrittweise aufgebaut werden. Diese On-Boarding Services werden von individuellen Firmen, darunter auch Mittelständler, angeboten.

Was steckt hinter Manufacturing-X?

Catena-X zielt darauf ab, einen Datenraum zu schaffen, in dem Firmen über denselben Standard kommunizieren können, sobald sie teilnehmen. Dies ermöglicht die Abbildung von End-Tier-Lieferketten, da man nicht mehr ausschließlich mit direkten Partnern verbunden sein muss. Mit dem Catena-X-Standard kann jeder Teilnehmer schnell und interoperabel Geschäftsprozesse optimieren. Das Bundesministerium und andere Institutionen haben die Tragweite erkannt und möchten dieses Konzept in ihre Industrien übertragen. Manufacturing-X ist quasi der große Bruder von Catena-X. Die Automobilindustrie ist dabei nur ein Sektor von vielen produzierenden Gewerben. Weiter geht es nun mit Aerospace-X, Semiconductor-X, Factory-X für den Shopfloor oder Energy-X. Andere Industrien möchten also das, was Catena-X im Open Source als Datenraum geschaffen hat – die Stecker, die Dezentralität, die Governance – auf ihre Industrie übertragen. So entsteht eine branchenübergreifende Interoperabilität, die zuvor nicht vorhanden war.

Inwieweit ist Catena-X schon aktuell in der Praxis, im Produktionsalltag eine Hilfe für die Unternehmen?

In meiner Rolle bei der BMW AG haben wir mit Dräxlmaier eine Verbindung über zwei Stufen aufgebaut, um für die Hochvoltspeicher, die in unseren Fahrzeugen verbaut werden, digitale Zwillinge auszutauschen. Dies geschieht für einen produktiven Anwendungsfall und dient der Compliance gegenüber chinesischen Behörden. Wir nutzen dies ohne Fallback für eine produktive Kette im Bereich der Hochvoltspeicher, um Zellen, Module und Hochvoltspeicher in einem Auto über mehrere Stufen zu tracken. Wir müssen bestimmte Daten erheben, die am Ende des Tages zu 100 Prozent korrekt sein müssen. Täglich tauschen wir dabei etwa 1000 digitale Zwillinge aus und verbinden diese mit unserer Produktion in München. Dies ist ein Beispiel dafür, wie es in der Praxis umgesetzt wird, ohne Fallback, und es zeigt die Möglichkeiten auf. Der größte Schritt ist dabei immer der Aufbau der ersten Kette mit einem Partner. Sobald diese besteht, erkundet Dräxlmaier weitere Produkte und Möglichkeiten. Aktuell diskutieren wir, was wir darüber hinaus gemeinsam mit Dräxlmaier realisieren können. Bei Bosch und der ZF-Gruppe, die Getriebe für uns herstellen, läuft das Gleiche. An drei Beispielen haben wir gezeigt, dass drei unserer Top-10 First-Tier-Partner für die BMW AG innerhalb von drei Monaten die ersten Ketten aufgebaut und einen Ausbau geplant haben und davon alle Seiten profitieren.

Wie sieht der weitere Plan von BMW hierbei aus?

Bis Ende dieses Jahres verfolgen wir drei Ziele. Wir möchten die großen First-Tiers als Multiplikatoren gewinnen, ihr Netzwerk einzubinden. Dies ist der Grund, warum wir uns zuerst auf große First-Tiers konzentrieren. Unser klares Ziel ist es, bis Ende des Jahres einen Hochlaufplan mit Partnern zu vereinbaren, um Multiplikation und Standortausbau zu erreichen. Der zweite Schritt betrifft beispielsweise Hochvoltspeicher, über die offenen Standards von Catena-X. Es ist für uns wichtig, unsere Batteriefertigungen und Batteriefahrzeuge nachhaltig zu produzieren und alle notwendigen Nachweise zu erbringen. Hierbei werden wir intensiv mit ausgewählten Lieferanten zusammenarbeiten. Die BMW AG wird nicht nur mit First-Tier-Lieferanten sprechen, sondern tiefer gehen. Das dritte Ziel sind ausgewählte Use-Cases, bei denen wir auf spezifische Geschäftsprobleme eingehen. Dadurch nutzen wir Multiplikatoren, erfüllen gesetzliche Anforderungen und adressieren individuelle Fälle, indem wir sagen: Wir haben einen Bedarf, nutzen wir Catena-X, weil wir auf beiden Seiten ein gemeinsames Interesse haben.

Welche weiteren Firmen sind Teil der Live-Umgebung von Catena-X?

Firmen wie Ford, Volkswagen AG, Dräxelmaier, ZF und Schaeffler haben sich der Live-Umgebung angeschlossen und entwickeln nun schrittweise ihren Hochlaufplan für den Datenaustausch. Ich kann nicht spezifizieren, mit wem beispielsweise die Ford Daten austauscht, da es mir erstens nicht zusteht und zweitens ich keinen Einblick habe, weil es sich um ein dezentrales Netzwerk handelt. Die Firmen, die sich bei Cofinity, einer der ersten Betreibergesellschaften, angeschlossen haben, zahlen Geld für diesen Service. Sie leisten nicht nur einen Beitrag, sondern zahlen einen Jahres- oder Monatsbeitrag, um Live-Daten mit ihren Partnern auszutauschen. Dies verdeutlicht, dass die Teilnahme nicht nur durch Registrierung mit einem Firmenlogo erfolgt, sondern durch Zahlungen, die einen Return erwarten lassen.

Jetzt haben Sie bisher viele OEMs genannt, die teilweise schon damit arbeiten, davon auch profitieren in ersten Use-Cases. Die Idee hinter Catena-X ist aber auch, die Zulieferer komplett in dieses Netzwerk zu intergieren – auch die kleineren Unternehmen. Da scheint es noch nicht so verbreitet zu sein. Woran liegt das?

Ich sehe es nicht als Problem, sondern als Ziel, Datenketten zu bauen. Catena-X dient nicht dem Peer-to-Peer-Austausch, sondern der Erstellung von Datenketten über mehrere Wertschöpfungsstufen hinweg. Eine Wertschöpfungsstufe wird erst bedeutsam, wenn klar ist, in welches Endprodukt sie eingeht beziehungsweise wo sie startet und endet. Der Nutzen eines Austauschs zwischen mir und meinem Lieferanten ist begrenzt, wenn ich nur meine Position bis zur dritten oder vierten Stufe kenne. Eine Wertschöpfungskette ist relevant, wenn ich ein Produkt von einem Endprodukt bis in die Tiefe verfolgen kann. Die Frage ist, wo der Anfang liegt. Man beginnt mit der Transformation, entweder von ganz unten oder von ganz oben, und baut die Kette nach unten auf. Mit Lieferanten wie Bosch, ZF, Schaeffler und Dräxlmaier, die große First-Tier-Lieferanten sind, folgt der nächste Schritt darin, dass zum Beispiel ZF AG seine direkten Lieferanten einbindet. Sie möchten ihre Ketten integrieren, um Aspekte wie CO2-Emissionen und Qualität für diese Kette zu optimieren. Dies ist der logische Ablauf.

Wie lange dauert es also noch bis kleine und mittlere Unternehmen in der Breite angeschlossen werden?

Früher dachte man vielleicht, jeder beginnt irgendwo und baut etwas auf, aber das ist nicht zielführend. Es müssen Ketten geschaffen werden, die zusammen einen logischen Wert ergeben. Kurz gesagt: Dies wird in der zweiten oder dritten Welle aktiviert. Die erste Welle fokussiert darauf, das Endprodukt zu erfassen. Ohne das Endprodukt bieten die Einzelketten wenig Wert. Auf der anderen Seite sehen wir, wie der Mittelstand, besonders im Ausrüsterbereich, stark wird. Viele IT-Anbieter stehen plötzlich im Wettbewerb neben großen ERP-Anbietern oder Softwarehäusern. Durch ihre Interoperabilität erlangen sie Marktzugang. Firmen suchen einen Einstieg ohne die Notwendigkeit einer umfassenden Lösung. So gewinnen Mittelständler an Sichtbarkeit und Geschwindigkeit im Wettbewerb mit großen Firmen, die oft mit anderen Release-Zyklen arbeiten. Wir erwarten, dass die Beteiligung an der Wertschöpfungskette, sowohl bei Datenanbietern als auch -nutzern, in der zweiten Jahreshälfte beginnt, aber der größere Teil für Mittelständler auf tieferer Ebene wird vermutlich erst 2025 erfolgen, nachdem zunächst die Ketten von oben aufgebaut werden.

Gibt es ähnliche Modelle wie Catena-X auf der Welt?

Es gibt keinen offenen Standard vergleichbar mit dem, was Catena-X bietet, zumindest nicht heute in der Automobilindustrie. Alle Ansätze folgen einer sehr klassischen Business-Ökonomie. Bezüglich der Wettbewerber sehen wir heute sicherlich Firmen, die mit einem proprietären Ansatz agieren, nach dem Motto: "It's me, myself and I". Kunden binden sich an diese Firmen und erhalten Zugang zu einem umfangreichen Lösungsportfolio, das jedoch nur in ihrem System funktioniert. Ein klassisches Beispiel in der Automobilindustrie ist Supply-On, eine der führenden Firmen, die versucht, automobile Ökosysteme mit ihrer Lösung zu etablieren. Allerdings erkennt auch SupplyOn seine Begrenzungen in Bezug auf Endtier-Fähigkeiten und bindet sich daher an Catena an, um seine Lösungen interoperabel und Catena-ready zu machen. Obwohl Supply-On am Markt stark vertreten ist, erkennt die Firma, dass nicht erwartet werden kann, dass alle Partner in der Automobilindustrie nur eine Lösung nutzen. In den USA gibt es e2open, dass viele Automobilhersteller in der Wertschöpfungskette hat, jedoch ebenfalls den klassischen Ansatz verfolgt und in Bezug auf n-tier-Fähigkeiten an Grenzen stößt. Manufacturing 2030 in den USA fokussiert sich auf Nachhaltigkeit und zertifiziert Standorte bezüglich CO2-Emissionen. Zudem existieren Netzwerke wie das SAP Unified Business Network oder Siemens Estanium. Dies betrifft vornehmlich Europa und die westliche Welt.

Wie sieht es in Asien aus?

In China sehen wir Lösungen wie von CATARC für Nachhaltigkeit. Allerdings merken viele Partner, dass diese nicht außerhalb Chinas skalieren, da europäische Daten nicht in einer zentralen Datenbank in China abgelegt werden sollen. In Japan gibt es mit Ouranos den Wunsch, etwas Ähnliches wie Catena, jedoch primär für Japan, zu schaffen. Eine globale Kette lässt sich allerdings nicht auf eine Region beschränken. Viele Partner erkennen, dass ihre klassischen Ansätze für ihr jeweiliges Land zwar funktionieren, jedoch die Abbildung von Liefer- oder Wertschöpfungsketten damit nicht möglich ist.

Dann muss es doch Ihr Ziel sein, all diese Initiativen in Catena-X zu integrieren, oder?

Wir sind im Gespräch mit e2open, Manufacturing-X und allen anderen genannten Partnern, wie ihre existierenden Lösungen von Catena-X profitieren können. Die Partner erkennen zunehmend, dass sie sich Catena-X anschließen und ihr Netzwerk mit anderen Netzwerken verbinden können und damit ein Vorteil für sie und ihre Kunden entsteht. Wenn dies funktioniert, haben wir den Ansatz von vor zweieinhalb Jahren gut umgesetzt, denn wir wollen nicht das alleinige Netzwerk sein, sondern ein Netzwerk der Netzwerke bieten. Wir ersetzen keine bestehenden Netzwerke wie Supply On, E2 Open, SAP UBN oder Siemens Estanium. Unser Ziel ist es, Partnern in ihrem Netzwerk Zugang zu anderen Netzwerken über Standards, gemeinsame Protokolle und Vertrauen zu ermöglichen, um Interoperabilität und Souveränität zu gewährleisten. Schritt für Schritt schließen sich diese Partner an, implementieren die Catena-Standards und lassen sich zertifizieren.

Klingt, als hätte die Welt verstanden, welchen Wert Catena-X bietet. Bis wann wollen Sie die genannten Initiativen also angeschlossen haben?

Wir arbeiten seit Mitte letzten Jahres mit Galia, einer französischen Initiative von 400 Partnern, zusammen und haben unser Memorandum of Understanding (MOU) kürzlich verstärkt. Mit den Franzosen besteht eine sehr gute Zusammenarbeit, ebenso wie mit Schweden. Mit amerikanischen Firmen, die ein deutlich größeres Netzwerk als das in Europa haben, streben wir eine auf Augenhöhe basierende Kollaboration an, die, wenn alles gut läuft, Mitte des Jahres realisiert werden soll. Mit China bin ich ebenfalls sehr zuversichtlich. Unsere Bemühungen, eine Lösung für und mit China zu finden, waren Thema unseres dritten Besuchs dort, da eine industrielle Wertschöpfungskette ohne China nahezu undenkbar ist und das Netzwerk ohne chinesische Beteiligung erheblich an Wert verliert. Wir sind sehr daran interessiert, mit chinesischen Partnern eine Lösung zu finden, die aufgrund regionaler Anforderungen wahrscheinlich angepasst werden muss. Ich bin zuversichtlich, dass wir bis Ende des Jahres regionale Andockstellen und Hubs etablieren können. Diese regionalen Vertretungen sollen Catena-X in ihrem Land repräsentieren und die ersten Datenketten aktiv steuern. Mein Ziel ist es, bis Ende des Jahres einen Ansatz und einen Vertrag für die großen Weltregionen, die für die Umwelt relevant sind, zu haben. An diesem Ziel lasse ich mich gerne messen.

Abschließend: Sie sagten ja, dass es teils sehr mühselig und erschreckend sei, wie sorglos viele Firmen zurzeit agieren. Was ist Ihre persönliche Motivation, weiterzumachen und Catena-X zu verbreiten?

Mich motivieren die Firmen besonders, wenn nach fünf, sechs oder sieben Terminen die Erkenntnis kommt, dass es keinen anderen Weg gibt. Es motiviert mich, Personen zu zeigen, dass es doch geht und sie als Firma davon profitieren. Diese Anerkennung, wenn Firmen erkennen, dass die Industrie aufnahmebereit ist, wenn man die richtigen Personen anspricht und ihnen den Nutzen klar macht, empfinde ich als besonders befriedigend. Diese Sinnstiftung, die mit einem herzlichen Dank belohnt wird, darauf bin ich stolz. Ich glaube fest daran, dass es wenige Innovationsräume gibt, in denen wir uns als Industrie weltweit differenzieren können. Wir haben viele Chancen verpasst und sind keine Hyperscaler. Doch ich glaube, dass wir uns als Standort Europa und als Industrie mit solchen Ansätzen wirklich differenzieren und weiterentwickeln können. Das Thema Vertrauen und Business-Netzwerke kann niemand allein bewältigen. Ich glaube an die Gemeinschaft und daran, dass ein solches Netzwerk neben KI wirklich etwas zu bieten hat. Dies ist idealistisch, aber ich glaube daran.

Zur Person:

Oliver Ganser

Nach seinem Abschluss als Wirtschaftsingenieur begann Oliver Ganser 2001 seine Karriere bei der BMW Group im Technology Office in Palo Alto. Von 2002 bis 2011 war er in verschiedenen Positionen im Einkauf, in der Forschung und Entwicklung, im Innovationsmanagement sowie im Produktmanagement Automotive von BMW in München tätig. Von 2011 bis 2015 war er Leiter der Produktstrategie und des Produktmanagements bei BMW USA in Woodcliff Lake. Von 2015 bis 2017 übernahm er die Funktion des „Global Head of Customer Care Management“ in München. Im Jahr 2017 wurde er Leiter der Performance Next Programminitiative Qualität und Digitalisierung. In dieser Funktion legte er den Grundstein für die unternehmensübergreifende kollaborative und datenbasierte Zusammenarbeit. Seit November 2020 ist Oliver Ganser Programmleiter der Industrieplattform Catena-X der BMW AG, und seit 2021 Vorstandsvorsitzender des Catena-X e.V. und Leiter des Konsortiums Catena-X Automotive Network.

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