Nicolai Martin, BMW

Nicolai Martin, Senior Vice President Driving Experience bei der BMW Group, ist zuversichtlich, dass neue Fahrerassistenzsysteme bald auch in Deutschland verfügbar sind. (Bild: BMW / Sam Cobbs)

Herr Martin, wir haben uns für dieses Interview in Kalifornien zusammengefunden – der Wiege des autonomen Fahrens. Wo existieren die besseren Rahmenbedingungen für diese Technologie? In den USA oder in Deutschland?

Die Rahmenbedingungen für eine datengetriebene Entwicklung sind für uns in Deutschland sehr gut – wo BMW zu Hause ist. Dabei kommt uns die Testinfrastruktur zugute, wie etwa das neue Testgelände für automatisiertes Fahren im tschechischen Sokolov. Nahe der deutschen Grenze haben wir dort über 300 Millionen Euro investiert, um unsere „Driving Journey“ für Autobahnen, Landstraßen und den Stadtverkehr zu erproben. Natürlich unterscheiden wir trotzdem die regulatorischen Vorgaben in allen Georegionen, sei es in den USA, Deutschland oder China.

Ein US-Mitbewerber testet seine Assistenzsysteme hingegen als Betaversion am Kunden. Was halten Sie davon?

Da die Funktionen immer komplexer werden, erscheint es zunehmend reizvoller, den Kunden einzubinden oder Produkte frühzeitig auf den Markt zu bringen. Wir gehen einen anderen Weg, wie die massiven Investitionen in Sokolov unterstreichen. Unsere unumstößliche Auffassung, die bereits bei passiven Sicherheitsfunktionen vorherrschte, wird in diesem Sinne fortgesetzt: Wir entwickeln alles fertig, bevor der Kunde dafür bezahlt und die Funktionen nutzt. Erst nachdem abseits öffentlicher Straßen und realer Kunden ein gewisser Reifegrad erreicht wurde, finalisieren wir die Erprobung im realen Straßenverkehr. Im Anschluss wird das Feature ausgerollt.

Eines dieser Features ist der Highway Assist. Erstmals kann der Fahrer in einem BMW die Hände vom Lenkrad lassen. Für welche Modelle und Länder gilt die Zertifizierung?

Der Highway Assist ist noch ein System auf SAE-Level 2 und ermöglicht Hands-Free in den USA und in Kanada – eben aufgrund regulatorischer Rahmenbedingungen. Er geht im BMW 7er in all seinen Ausprägungen an den Start und wird dann im nächsten Jahr auf den X7 und den iX ausgerollt. In seiner normalen Operational Design Domain (ODD) auf dem Highway wird er uneingeschränkt verfügbar sein, solange der Fahrer seine Augen auf die Straße richtet. Die Überwachung der Fahreraufmerksamkeit ist dabei über die Innenraumkamera gesteuert und bietet eine hohe Genauigkeit bezüglich Blickwinkel und Blickabwendung. Das halten wir für wesentlich sicherer als das bloße Erkennen der Hand am Lenkrad. Wir sind vom Sicherheitskonzept dieser Funktion demnach absolut überzeugt und bereits mit weiteren Behörden im Gespräch, um diese technische Lösung zulassungsfähig zu bekommen. Hinsichtlich des Marktstarts in Deutschland kann ich noch keinen Termin nennen. Aber ich bin zuversichtlich, da wir eine vielversprechende Studie mit anderen Industriepartnern sowie in Abstimmung mit dem Kraftfahrt-Bundesamt vorangetrieben haben.

Wie steht es um das Äquivalent für den Stadtverkehr?

Aus unserer Philosophie heraus ist die Funktion auf SAE-Level 2 momentan kein Thema für den Stadtverkehr. Das liegt unter anderem auch daran, dass wir zunächst mit dem Kunden interagieren und ihn an diese Systemveränderung heranführen müssen. Er muss Vertrauen in das System gewinnen. Es ist ein überwältigendes Gefühl, im dichten Stadtverkehr diese Form der körperlichen Entspannung zu spüren und dennoch die Verantwortung zu tragen. Das gegebenenfalls schnelle Rückübertragen der Fahraufgabe ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Somit ist ein solches Feature nicht ausgeschlossen, unterliegt aber einem gestuften Prozess.

Im Jahr 2025 debütiert die Neue Klasse: Steht für diese Zäsur bereits der Sprung auf SAE-Level 3 im Lastenheft?

Das ist vollkommen richtig. Wir werden Level 3 sogar schon im neuen 7er ausrollen, auch wenn dies etwas nacheilend zur Markteinführung des Fahrzeugs erfolgt. Derzeit befinden wir uns im offiziellen Zulassungsprozess mit dem Kraftfahrt-Bundesamt. Wir bringen das ganze zuerst in Deutschland auf den Markt, danach soll China folgen. Da es sich um technologisches Neuland handelt, kann ich auch hier kein tagesgenaues Datum nennen. Aber ich kann versichern, dass wir uns momentan mit Hochdruck in der Validierungs- und nicht in der Entwicklungsphase befinden. In kommenden Fahrzeuggeneration werden wir selbstverständlich an dieses Automatisierungsniveau anknüpfen, um Verfügbarkeit, Geschwindigkeit und andere Faktoren sukzessive zu verbessern.

Zeitgleich mit der Neuen Klasse wird der aktuelle Technologiebaukasten ad acta gelegt. Werden solche Verbesserungen dann nur noch für den Nachfolger entwickelt?

Die aktuelle Technologie wird uns noch einige Jahre begleiten. Einerseits weil wir sie weiterhin in einzelnen Fahrzeugen aus unserem Portfolio einsetzen, andererseits weil es über mehrere Jahre einen Parallelbetrieb geben wird. Als aktueller Produktstand wird deshalb auch die derzeitige Generation kontinuierlich datengetrieben weiterentwickelt. Wir gewinnen hinsichtlich des Fahrverhaltens jeden Tag eine große Menge an Kundendaten, die uns freiwillig bereitgestellt werden. Wir analysieren diese, optimieren unsere Funktionen in Verfügbarkeit sowie Funktionsausprägung und legen auch zusätzliche Features drauf. Da wird es in den nächsten Jahren sicherlich noch einiges zu erleben geben.

Nicolai Martin, BMW, vor der neuen 7er-Reihe
Die neue 7er-Reihe macht den Anfang bei der Hands-Free-Funktion. (Bild: BMW / Sam Cobbs)

Welchen Aufwand erfordert es softwareseitig, wenn zwei Technologiebaukästen parallel bedient werden?

Dass wir mittlerweile auf fünf Generationen zurückblicken und uns seit vielen Jahren mit Fahrerassistenzen beschäftigen, ist eine gute Ausgangslage. Im Jahr 2000 wurde bekanntlich die erste Active Cruise Control aus Eigenentwicklung eingeführt und deren Algorithmik für High-Level-Funktionen immer wieder weiterentwickelt. Erfreulicherweise können wir die Logik unserer Features der aktuellen Generation auch bei neuer Basis eines SoCs (System on Chip) portieren. Alles, was wir jetzt entwickeln, kann auch in der Algorithmik des neuen Baukastens eingesetzt werden. Natürlich bedarf es Anpassungen bei der Basis-Software, an den neuen Chip sowie an weitere Aspekte des System-Setups. Ein hoher Umfang der Algorithmik wesentlicher Funktionen kann aber weiter genutzt werden.

Die neuen Verbündeten auf dieser Reise sind Qualcomm und Arriver: Welche Faktoren haben zu diesem Partnerwechsel geführt und was bedeutet er für die Kerneigenleistung von BMW?

Wir haben uns für diese Partnersuche mehr als ein Jahr Zeit genommen und mit vielen potenziellen Partnern gesprochen, um den Einklang mit der BMW-Strategie sicherzustellen. Wir stützen uns bei der Computer Vision demnach künftig auf Qualcomm und Arriver anstatt auf die bisherige Mobileye-Lösung. Es war eine sehr überlegte Aktion, die unseren Ansatz – Eigenentwicklung und eigene Kompetenz weiter auszubauen – voll stützt. In diesem Sinne haben wir ein Co-Development aufgesetzt, das auf Basis eines Kooperationsvertrags für jedes Software-Modul im Stack eine gemeinsame Entwicklung vorsieht. So können wir Ausbau und Entwicklung gegebenenfalls eigenständig weiterbetrieben, da wir nicht nur alle Rechte, sondern auch das volle inhaltliche Verständnis in der internen Mannschaft besitzen. Gleichzeitig können wir mit den Partnern und ihren Kapazitäten natürlich die Schlagkraft erhöhen und zusätzliche Erfahrungen in den Georegionen sammeln.

Eine strikt getrennte Aufgabenverteilung existiert demnach nicht?

Wir arbeiten in dieser Kooperation an zwölf Standorten in den USA, Asien und Europa – und zwar gemeinsam. So können wir unsere Erfahrung als Fahrzeughersteller inklusive aller Integrations- und Sensorik-Aspekte mit der Qualcomm-Expertise im Bereich SoC-Entwicklung verbinden. Das kommt in den nächsten Fahrzeuggenerationen nicht nur der Performance, sondern auch dem Energieverbrauch zugute. Arriver, inzwischen Teil von Qualcomm, bringt über Veoneer zudem Erfahrungen in der Serienentwicklung und als First-Tier bei der Sensorik mit ein. Für uns verbleibt der große Auftrag der Integration, Validierung und Homologation. Diese Offenheit für einen Whitebox-Ansatz im Stack, anstatt das Bereitstellen einer Blackbox, wird aus unserer Sicht zum besten Angebot für den Kunden führen.

Bei Lidar stehen indes Magna und Innoviz als Partner fest: Welche Lidar-Technologie ist Ihrer Ansicht nach der Königsweg?

Es ist richtig, dass wir Magna als Lieferanten sowie Innoviz für den Technologiebeitrag auserkoren haben – und zwar für die aktuelle Generation. Der Lidar, den wir im 7er gerade in Testfahrzeugen verbauen und sehr bald auch auf den Markt bringen, ist genau diese Magna-Innoviz-Kombination. Dabei handelt es sich nicht mehr um einen Drehspiegel-Lidar, sondern um neuartige MEMS-Modul-Technologie. Dies ermöglicht Bauraum- sowie Genauigkeitsvorteile über Lebensdauer. Bei Drehspiegel-Lidaren existieren noch hohe Unsicherheiten, ob die Präzision und Reichweite wirklich über die gesamte Lebensdauer erhalten bleibt. Umgekehrt hat die MEMS-Technologie intensive Herausforderungen im Bereich Industrialisierung, denen wir uns gemeinsam mit unseren Partnern gestellt haben.

Ein Lidar wird aber nur in Fahrzeugen verbaut, die auf SAE-Level 3 unterwegs sind?

Korrekt, wir kombinieren den Verbau – im 7er und auch darüber hinaus – zunächst mit dem Kundenwunsch einer Level-3-Funktion. Für Hands-Free-Driving ist dies nicht notwendig. Schließlich hatten wir im iX ein System-Setup von Mobileye eingeführt, das den EyeQ5-Chip mit einer acht Megapixel-Kamera kombiniert. Zudem nutzen wir den weltbesten Radar im Serieneinsatz. Mit einer Reichweite von gut 300 Metern kann er über 30 Ebenen vertikal auflösen und dadurch identifizieren, ob etwa eine Schilderbrücke durchfahren wird. Damit haben wir schon eine Sensor-Redundanz aus zwei Modalitäten. Hinzu kommt ein wichtiger zusätzlicher Baustein: die hochgenaue Karte. Die HD-Karte der Firma Here nutzen wir bereits bei der Hands-Off-Option und erreichen mit ihr eine hohe Präzision im sogenannten Drive-on-Map-Verhalten. Die Spurführung basiert somit nicht mehr nur auf der sensorischen Erkennung der Spurmarkierungen, sondern die primäre Information für die Trajektorien-Berechnung liefert die Karte. Plausibilisiert wird diese über Radar und Kameras. Bei Level 3 kommt dann der Lidar als viertes Element hinzu.

Im letzten Interview mit automotiveIT hatten Sie erklärt, dass Kunden- und Testflottendaten in einem Data Center zusammenfließen. Welche Schnittstellen und Tools wurden seither eingeführt, um die Datenauswertung effizienter zu gestalten?

Ich würde nicht unbedingt von einzelnen Tools sprechen, sondern von einer Tool-Kette für die ganzheitliche Entwicklungsumgebung, die unter dem Begriff Reprocessing läuft. Darunter verstehen wir die Möglichkeit, die Validierung der Funktionsgüte und des Sicherheitsnachweises vollständig End-to-End simulieren und reprozessieren zu können. Das Zusammenspiel einzelner Komponenten wie Radar, Lidar oder Recheneinheit muss dafür samt ihrer jeweiligen Softwarestände im Verbund reprozessiert werden. Dabei kommt es nicht nur auf normale Simulationsmethoden, sondern auf die Kombination von Simulationen mit Szenarien sowie statistischen Methoden an. Gleichzeitig muss das Ganze, gekoppelt mit dem jeweiligen Entwicklungsstand, transparent und nachvollziehbar verfügbar sein – sei es für die Entwickler oder den Staatsanwalt. Die datengetriebene Entwicklung auf dieses Niveau zu bringen, ist eine immense Herausforderung. Glücklicherweise sind wir da sehr weit, weil bereits für den iX erstmalig Level-2-Funktionen basierend auf Reprocessing validiert wurden. Anstatt klassischer Entwicklungen mit großer Erprobungsflotte hatten wir für diesen Serienanlauf bereits die Verbindung aus Fahrzeugdauerlauf und Reprocessing umgesetzt und können uns jetzt für erweiterte Funktionen darauf stützen.

Wie viele Kundenfahrzeuge speisen dafür mittlerweile ihre Daten ein?

Aufgrund unserer langen Historie im Bereich Connected Vehicles können wir auf eine Flotte von 20 Millionen Fahrzeugen zurückgreifen. Das Data Center in Unterschleißheim wurde mittlerweile gespiegelt und damit verdoppelt. Daten zu aktiven Assistenzfunktionen generieren wir seit der Modellgeneration 2018, das entspricht 3,8 Millionen Fahrzeugen und bescherte uns Informationen zu Millionen von Kundenkilometern. Mit ihnen lässt sich ein Pull-Request an die Kundenflotte genau spezifizieren.

Wie läuft eine solche Anfrage ab?

Letztlich geht es nicht nur darum, Kundendaten in Summe einzusammeln. Deshalb kann jeder unserer Funktionsentwickler ein Script anfordern oder schreiben, mit dem spezifische Fragen an die Kundenflotte gestellt werden. Beispielsweise möchte ein Entwickler im Autonomous Driving Development Center in Unterschleißheim wissen, wie viele BMW 5er beim Rechtsabbiegen in New York den Blinker gesetzt haben. Dann bekommt er diese Informationen für den angegebenen Zeitraum und kann Funktionen zielgerichtet adaptieren. In einer Heatmap wird über die Geoposition zudem festgehalten, wo eine Funktion vom Kunden genutzt wird und wo eben nicht. Dadurch sind wir bei datengetriebener Entwicklung in der Lage, schneller zu iterieren.

Andere Hersteller bauen zusätzlich auf Daten von Robotaxis. Ist BMW auf diesem Gebiet zu zögerlich?

Das ist zunächst eine Frage des Geschäftsmodells. Wir haben uns diese über Jahre intensiv gestellt – auch in Verbindung mit Carsharing. Wir haben jedoch entschieden, uns auf das Endkunden-Business zu fokussieren. Einen Taxibetrieb in einzelnen Geofences zu starten, ist für uns nicht attraktiv. Vor allem, wenn dem Stack-Entwickler nur Fahrzeuge bereitgestellt werden. Auf technischer Seite hat sich zudem herauskristallisiert, dass die Robotaxi-Technologie nicht eins zu eins auf die Sonderausstattung für Endkunden übertragbar ist. Das liegt nicht nur an der begrenzten Realisierung mit Geofences, sondern auch am unterschiedlichen Usecase. Für den Endkunden ist es beispielsweise sehr entscheidend, ob die elektrische Reichweite durch automatisierte Fahrfunktionen massiv eingeschränkt wird. Es existieren Robotaxis, bei denen der Energieverbrauch des Sensor-Setups höher ist als der des Antriebs. Kein Kunde möchte zusätzlich für eine Sonderausstattung bezahlen, die ihm die Reichweite mindert. Ebenso möchte jeder in der Lage sein, sein Auto in der Waschstraße zu waschen. Je nach Dachaufbau eines Robotaxis ist das aufgrund der Lidar-Sensoren gar nicht möglich. Die Verbindung dieser Technologie mit einem Level-4-Angebot ist somit ein technischer Weg, der noch veränderte Lösungen benötigt.

Für die Ampelerkennung der Active Cruise Control erhielt BMW den CCI-Award 2021. Welche Innovation im Bereich autonomes Fahren könnte den nächsten Award bescheren?

Wir möchten mit unserem Highway Assist möglichst die gleiche Begeisterung auslösen und ihn bald über die USA und Kanada hinaus erlebbar machen. Ich glaube, dass er ganz klar Seinesgleichen sucht. Immerhin besteht der Highway Assist nicht nur aus der Hands-Free-Funktion, sondern ist verbunden mit einem breiten Funktionsangebot, wie es im Markt sonst nicht zu sehen ist. Über einen weiteren Award würden wir uns deshalb sehr freuen!

Zur Person:

Nicolai Martin, BMW

Dr. Nicolai Martin ist seit Juli 2020 als Senior Vice President Driving Experience bei der BMW Group tätig und verantwortet im Zuge dessen die Entwicklung des autonomen Fahrens. Nach seinem Abschluss als Wirtschafsingenieur an der TU Darmstadt begann er parallel zu seiner Promotion eine Karriere beim Münchener Autobauer. Zwischen 2004 und 2012 leitete er Teams und Projekte in den Bereichen Bremsregelsysteme, Active Safety, Fahrdynamik, Fahrerassistenz und Sensorik. Von 2012 bis 2018 überblickte er die Entwicklung des Gesamtfahrzeugs, unter anderem als leitender Konzeptingenieur für Fahrerassistenzsysteme. Bis zu seiner jüngsten Ernennung folgten leitende Positionen im Bereich Antriebsentwicklung.

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