bosch_urban-mobility_stage1871x1052

Rudolf Hillebrecht wird vermutlich nur wenigen Menschen hierzulande ein Begriff sein. Die Bewohner Hannovers – zumindest die älteren – werden ihn allerdings kennen. Der in der Landeshauptstadt geborene Architekt war ab 1948 als Stadtbaurat für den Wiederaufbau verantwortlich. Ein Mammutprojekt: Hannover wurde vor allem bei Luftangriffen im Herbst 1943 zu rund 90 Prozent zerstört. Hillebrecht selbst sprach deshalb gar nicht von Wiederaufbau, sondern von einem Neuaufbau.

Das alleine freilich ist noch nichts Besonderes: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Infrastruktur zahlreicher deutscher Städte empfindlich in Mitleidenschaft gezogen. Besonders aber ist, wie radikal Hillebrecht Hannover zu einer autogerechten Stadt umplante. Konsequent wanderte der ÖPNV in Form von Stadtbahnen unter die Erde, Fußgänger überqueren noch heute die sechs- bis achtspurigen Hauptverkehrs­adern durch Tunnel, Schnellwege und Hochstraßen prägen das Stadtbild. Zwar wurde der Stadtkern recht autofrei gestaltet und eine der größten Fußgängerzonen Norddeutschlands entstand.

Aber außerhalb des historischen Stadtgebietes wurde dem wachsenden Individualverkehr nahezu alles untergeordnet. Ironischerweise wurden in diesem Zuge nicht wenige der historischen Bauten, die den Krieg überlebt hatten, abgerissen – beispielsweise die prunkvolle Wasserkunst am Leineufer. Ein Fehler, wie Hillebrecht später zugab, aber daran lässt sich erkennen, wie rigoros in den 1950er und 1960er Jahren das Auto in den Mittelpunkt stadtarchitektonischer Planungen rückte.

Die autogerechte Stadt geht auf das gleichnamige Buch des Architekten und Stadtplaners Hans Bernhard Reichow aus dem Jahr 1959 zurück. Interessanterweise unterscheidet sich sein Konzept deutlich von der tatsächlichen Umsetzung. Von vielspurigen Trassen in den Innenstädten zum Beispiel wollte er gar nichts wissen. Seine Ideen fanden wenig Anklang, der Begriff, den er geprägt hat, aber überlebte. Und dem Vorbild Rudolf Hillebrechts folgten jede Menge Planer: Heute ist nahezu jede größere deutsche Stadt mehr oder weniger nach dem Prinzip „Auto first“ aufgebaut: mehrspurige City-Ringe, monströse Kreuzungen, Schnellwege, riesige Parkflächen.

Die Städte gehören dem Auto, Fußgänger und Radfahrer haben sich unterzuordnen. Sicher, in der Frühphase automobiler Individualmobilität hatte das Konzept durchaus seinen Reiz. Allerdings betrug der Fahrzeugbestand 1960 auch nur 4,4 Millionen Pkw deutschlandweit – heute sind es mit 46 Millionen Autos gut zehnmal so viele. Entsprechend platzen deutsche Ballungsräume aus allen Nähten. Verkehrsdatenspezialist

Inrix hat errechnet, dass die Autofahrer in München jedes Jahr 51 Stunden im Stau verlieren. In Hamburg, Berlin oder Stuttgart kommt man nicht wesentlich schneller ans Ziel. Was das Verhältnis aus Stau zu Strecke angeht, besetzen die Schwaben sogar gemeinsam mit Köln den zweifelhaften Platz an der Sonne: Rund 34 Prozent mehr Zeit müssen die Autofahrer an Rhein und Neckar im Vergleich zum staufreien Verkehr einplanen, wie eine Untersuchung des Navigationsanbieters TomTom belegt.

Um Verkehrsprobleme angehen zu können, ist zunächst ein detaillierterer Blick auf die Mobilitätslage der Nation notwendig. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur hat eine der weltweit umfassendsten Untersuchungen in Auftrag gegeben. Für die Studie „Mobilität in Deutschland 2017“ wurden über 155 000 Haushalte befragt. Das Ergebnis ist nicht gerade Zeugnis einer geglückten Mobilitätswende: Noch immer macht der motorisierte Individualverkehr (MIV) 57 Prozent des Verkehrsaufkommens aus. 2008 lag der Anteil mit 58 Prozent nur unwesentlich höher.

Im gleichen Zeitraum nahm auch der Anteil ausschließlich zu Fuß zurückgelegter Wege von 24 Prozent auf 22 Prozent ab. Einzig der öffentliche Verkehr (von acht auf zehn Prozent) und das Fahrrad (von zehn auf elf Prozent) konnten leicht zulegen. Im gleichen Zeitraum wuchs allerdings auch das Verkehrsaufkommen an sich. 2002 wurden noch drei Milliarden Personenkilometer über sämtliche Verkehrsmittel hinweg pro Tag zurückgelegt. 2008 waren es bereits 3,1 Milliarden Kilometer, 2017 noch einmal 100 Millionen mehr.

Damit wird offensichtlich: Das vielerorts asphaltierte Stadtplanungskonzept der Vergangenheit muss zwangsläufig an seine Grenzen stoßen. Das sehen interessanterweise nicht nur Bevölkerung und Politik so, sondern auch die Autohersteller selbst. „Die autogerechte Stadt ist vorbei“, sagte etwa Lisa Füting von Audi Business Innovation auf einer Veranstaltung des Innovationsnetzwerks Bayern Innovativ. „Heute prägt die Stadt das Auto, nicht umgekehrt.“ Es gilt also, den Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung effizienter gerecht zu werden und die vorhandenen Räume in einer Stadt besser zu nutzen.

Eine Lösung: Mobilitätsservices wie Ride- und Carsharing. Entsprechende Angebote könnten laut Füting einen Beitrag leisten, die Anzahl der Fahrzeuge in den Städten zu verringern. Intelligente Parkdienste sorgen zudem für eine bessere Auslastung der Stellflächen und damit für mehr freien Stadtraum. Rund würden entsprechende Angebote dann, wenn sie nachhaltig organisiert sind: „Wir versuchen momentan massiv, das Thema Elektromobilität in solche Servicekonzepte zu bringen“, sagt die Programmmanagerin der Audi-Tochter. Es sind zunächst also die klassischen CASE-Themen – Connectivity, autonomes Fahren, Shared Mobility und Services sowie E-Mobilität (siehe Kästen) –, die die Stadt der Gegenwart und näheren Zukunft wieder lebenswerter machen sollen.

An einem anderen Ansatz arbeitet Volkswagen und packt in einem Projekt die Verkehrssteuerung an. Bereits seit einiger Zeit forschen die Wolfsburger gemeinsam mit dem Computerspezialisten D-Wave am Einsatz von Quantencomputing. Nach eigenen Angaben ist es den Spezialisten nun erstmals gelungen, auf einem Quantencomputer ein Programm zur Verkehrssteuerung zu entwickeln, das Prognosen zum urbanen Verkehrsaufkommen durch präzise Berechnungen ersetzen kann. Für die Anwendung werden anonymisierte Bewegungsdaten von Smartphones oder Transmittern im Fahrzeug genutzt, um auf herkömmlichen Rechnern zunächst Verkehrsballungen und Personenaufkommen – und damit potenzielle Fahrgäste – zu ermitteln.

Die anschließende Optimierung übernehme dann der Quantenalgorithmus, so Volkswagen. Unter anderem soll es möglich sein, vorausschauend die exakte Zahl an Fahrzeugen verschiedenen Zielorten, sogenannten Demand Spots, zuzuteilen, um dort wartende Personen mit einer Transportmöglichkeit zu versorgen. Die Lösung zielt beispielsweise auf Taxi-Unternehmen ab, die teure Leerfahrten reduzieren könnten, heißt es aus Wolfsburg. Erste Ansätze, um den innerstädtischen Straßenverkehr effizienter zu organisieren, sind also vorhanden. Doch sie können nur ein Anfang sein. Denn die Stadt ist damit noch längst nicht den Menschen zurückgegeben. Nach wie vor steht das Auto zu stark im Mittelpunkt.

Angesichts des exorbitanten Verkehrswachstums scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis selbst neueste Steuerungsmethoden an ihre Grenzen stoßen. Die Stadtplanung der Zukunft muss weiter gehen. Das sieht auch Lorenz Siegel so. Entsprechend kommentiert er die aktuellen Verkehrsprobleme noch drastischer: „Uns fliegen gerade unsere gesammelten Verkehrskonzepte der letzten 70 Jahre um die Ohren“, sagt der Landschaftsarchitekt der Stadtplanungsagentur Copenhagenize Design. Seine Firma unterstützt Städte dabei, nach dem Vorbild der dänischen Hauptstadt den Fahrradverkehr wieder stärker in den Fokus zu rücken. „Das Auto ist in der modernen Stadtplan

ung das einzige Verkehrsmittel, das sich geradlinig von A nach B bewegen kann.“ Alle anderen Teilnehmer müssten sich irgendwie ihren Weg bahnen, Straßenseiten wechseln, an Ampeln warten, umsteigen. Nach seiner Ansicht ist ein Paradigmenwechsel in der Stadtplanung überfällig: Nachhaltige und effektive Verkehrsmittel wie das Fahrrad müssten priorisiert werden, sagt Siegel. Aus der Frage, wie viele Autos auf der Straße fahren können, müsse die Frage werden, wie viele Menschen transportiert werden können.

Zwingend notwendig sei dafür allerdings eine eigene, dedizierte und vor allem sichere Radinfrastruktur: „Fahrradfahrer sind eigentlich nur schnelle Fußgänger, die gehören nicht gemeinsam mit Autos auf die Straße.“ In Kopenhagen wurden in den vergangenen Jahren konsequent Hauptverkehrsachsen für Radfahrer geöffnet und für Autos zusammengestrichen. Ein Beispiel: Auf einer der wichtigsten Kreuzungen im Stadtgebiet ist je eine Fahrspur in jede Richtung noch für Fahrzeuge geöffnet, jeweils eine eigene Spur gehört exklusiv Fahrrädern. Obwohl auch solche Maßnahmen Geld kosten, muss ein Umstieg für Städte kein Verlustgeschäft sein, erklärt Siegel. „Kopenhagen war zur Priorisierung des Radverkehrs gezwungen, weil Geld für die Instandhaltung von Straßen fehlte“, erzählt er. Doch wegen der Einsparung von sozioökonomischen Kosten, Emissionen und Wartungsaufwand hätten sich die neuen Radwege schneller als gedacht amortisiert. Die dänische Hauptstadt geht nun sogar noch einen Schritt weiter: Mithilfe einer Verkehrsüberwachung versucht Kopenhagen zu verstehen, wie sich Radfahrer an großen Knotenpunkten tatsächlich verhalten. Etwa ob sie über den Fußweg abkürzen, um auf direktem Wege in die nächste Straße abbiegen zu können. Auch das müsse eine fahrradfreundliche Stadt berücksichtigen und die Straßenführung entsprechend anpassen, anstatt Verbote auszusprechen und Strafzettel zu verteilen.

Kopenhagen ist ein gutes Beispiel – und längst nicht das einzige. Helsinki will in den kommenden Jahren nicht nur Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor abschaffen, sondern im besten Fall den Bedarf für einen privaten Pkw gleich mit. Im nordspanischen Santander sind öffentliche Parkplätze längst vernetzt. Singapur gilt als die Welthauptstadt für autonome Testfahrten in der Innenstadt. Zahlreiche Metropolen mausern sich nicht nur auf dem Papier zu Smart Citys, sie gehen die Transformation aktiv an.

Der Blick muss dabei keineswegs tausende Kilometer in die Ferne schweifen: Das deutsche Smart-City-Aushängeschild ist Hamburg. Sharing, Elektromobilität, der Ausbau der digitalen Infrastruktur und Big-Data-Verkehrsanalysen gehören dort zum festen Mobilitätsinventar. Das Angebot Switchh des Hamburger Verkehrsverbunds etwa bündelt ÖPNV, Carsharing und Mieträder in einer App. Über die Stadt verteilte Knotenpunkte dienen gewissermaßen als Intermodalitäts-Hubs. Dort stehen dem Nutzer Carsharing-Fahrzeuge, Leihräder und eine Bus- oder Bahnstation zur Verfügung. Bis zu 70 dieser Punkte sollen es bis 2019 sein. So soll der Umstieg auf den geteilten Verkehr schmackhaft gemacht werden.

Fazit: Die Mobilitätsnot in unseren Städten ist groß, Lösungsansätze aber sind durchaus vorhanden. Wirtschaft, Politik und Stadtbevölkerung sollten sich deshalb zwingend an einen Tisch setzen. Alleingänge werden den Metropolen dieser Welt nicht helfen können. Nur wenn alle Parteien untereinander die Bedürfnisse des jeweils anderen verstehen, wird es, wie Audi-Managerin Lisa Füting es ausdrückt, Win-win-win-Situationen geben. Nach ihrer Ansicht sind heute etwa 75 Prozent der Infrastruktur, die 2050 benötigt wird, noch nicht gebaut. Raum für Gestaltung gibt es also massenhaft. Nur die Fehler eines Rudolf Hillebrecht gilt es tunlichst zu vermeiden.

Bilder: Bosch, Rinspeed, Audi, Daimler

Sie möchten gerne weiterlesen?