Portraitbild von Christian Müller vom DFKI

Christian Müller, Head of Competence Center Autonomous Driving beim DFKI, sieht in der Strategie der deutschen Autobauer den richtigen Weg. (Bild: DFKI)

Bei der aktuellen IAA Mobility in München steht das Thema E-Mobilität im Vordergrund. Trotz einiger Neuigkeiten im Bereich der autonomen Mobilität kann man den Eindruck gewinnen, dass das Thema in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten ist. Teilen Sie diese Einschätzung mit Blick auf die Forschungslandschaft?

Bereits vor der Coronakrise hat sich eine Phase der Ernüchterung in der Branche breitgemacht, da die selbstgesteckten Ziele nicht in so kurzer Zeit erreicht werden konnten. In der Folge wurden Investitionen in einigen dieser Segmente zurückgefahren. Auf die Forschung haben diese Entscheidungen aber keinen allzu großen Einfluss, denn autonomes Fahren gilt nach wie vor als eine der Hauptdomänen für künstliche Intelligenz. Und anhand der Technologie lassen sich viele KI-Prozesse aufziehen, die auch in anderen Bereichen eine Rolle spielen werden.

Worin liegen für gestandene Automobilbauer und Tech-Größen aktuell die größten Hürden für die Umsetzung von neuen Assistenzsystemen auf Level 4/5?

Wenn man sich die beiden Bausteine „Wahrnehmung“ und „Verhalten“ im Bereich der selbstlenkenden Systeme anschaut, stößt man schnell auf Komplexität. Diese lässt sich nicht allein durch klassische Software lösen, vor allem nicht wenn es um Kameras geht. Das kann man nur durch lernende Systeme lösen. Die größte technische Herausforderung ist es nun, nach einer Phase, in der Deep Learning lange als Allheilmittel betrachtet wurde, nun mit KI zusätzlich zur statistischen Korrelation auch einen Kausalzusammenhang abzubilden. Dafür braucht es eine neue Generation künstlicher Intelligenz: diese besteht aus neuen Lern-Paradigmen, die nicht nur Korrelationen lernen, sondern die grundlegenden Wirkmechanismen besser abbilden. Zudem gibt es das Konzept einer hybriden KI, die bestimmte datenbasierte Entscheidungen nachvollziehbarer macht.

Die Entwicklungskosten von automatisierter Fahrtechnologie sind enorm. Können das Unternehmen allein stemmen oder braucht es einen Schulterschluss der gesamten Autobranche?

Die klare Antwortet: Ja, es braucht Zusammenarbeit. Und nach meiner Einschätzung haben einzelne Automotive-Unternehmen auch keine Alleingänge vor, da sie die Kompetenzen aus der Forschung schätzen. Natürlich gibt es Beispiele wie Tesla, die eigenständig mit hohen Investitionen in ihrem Mikrokosmos schon weit gekommen sind. Doch ich denke, dass sich der lange Atem der deutschen Automobilindustrie, das ganze Thema solide anzugehen, auszahlen wird.

Experten prognostizieren, dass die Technologie aufgrund der hohen Kosten für den Individualverkehr eher eine untergeordnete Rolle spielen wird. Welche Bedeutung hat das autonome Fahren aber für den ÖPNV und den Nutzfahrzeugbereich?

Ob jemand mit seiner hochautomatisierten S-Klasse oder einem selbstlenkenden BMW 7er herumfährt, wird die Mobilitätswelt nicht wirklich verändern. Wenn wir die Pandemie einmal ausklammern, wird sich das autonome Fahren insbesondere in den großen Metropolen als Sharing-Modell etablieren. Auch im Gütertransport können große Potenziale gehoben werden, das erstreckt sich bis auf die Idee von autonomen Schiffen. Der Markt dafür ist riesig. Im Individualverkehr wird die Technologie sicherlich nur ein Nischendasein fristen.

Deutschland hält viele Patente in diesem Zukunftsfeld, doch bekommt die Technologie im wahrsten Sinne des Wortes nicht auf die Straße. Was muss sich dafür ändern?

Es gibt Gesetzes- und Mentalitätsunterschiede. So gibt es in den USA mit dem Case Law eine Grundlage für das Ausprobieren von bestimmten Technologien, im Zweifel landen diese Fälle dann einfach vor Gericht, wenn etwas schiefläuft. Doch wollen wir das in Deutschland? Wohl eher nicht. Mittlerweile hat sich aber auch hierzulande in Sachen Gesetzgebung zum autonomen Fahren etwas getan, worauf man aufbauen kann. Zweitens ist die Herangehensweise an die Technologie komplett unterschiedlich. In den USA finden wir etwa mit Tesla, Waymo und Co. eine Startup-Mentalität verbunden mit immensen Investitionen vor. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als die der klassischen Automobilhersteller, die bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Diese können nicht einfach ihr ganzes Geschäft über den Haufen werfen, um – salopp gesagt – Daten in Arizona einzufahren. Gleichzeitig werden Innovationen auf Seiten der traditionellen Hersteller auch nicht immer gleich publik gemacht, da ticken die Akteure aus den Vereinigten Staaten etwas anders. Die OEMs haben sicherlich nicht verlernt, wie man ein technologisch anspruchsvolles Auto baut.

Der unterschiedliche Rechtsrahmen ist nur ein Baustein der autonomen Mobilität. In welchen weiteren Feldern braucht es eine globale Harmonisierung?

Harmonisierung: ja. Hinter global würde ich aber ein Fragezeichen setzen. Natürlich gibt es bei Fahrzeugzulassungen eine weltweite Norm. Doch in Sachen Infrastruktur für das autonome Fahren bezweifle ich, dass es eine Einigung auf bestimmte Parameter geben wird. So werden lokale Gegebenheiten immer auch lokale Lösungen erforderlich machen. Daher halte ich beispielsweise das Konzept von selbstfahrenden People Movern auf Level 5 für unrealistisch, die auf der gesamten Welt ohne weitere Anpassungen fahren können. Wahrscheinlicher ist es, dass die OEMs Autonomie auf Level 4 anbieten und diese Fahrzeuge dann für die jeweiligen Märkte zulassen. Natürlich muss etwa Europa bei diesem Thema sehr gut zusammenarbeiten, doch dass jemand mit seiner hier zugelassenen autonomen S-Klasse sowohl in Stuttgart als auch in Shanghai fahren kann, halte ich für unwahrscheinlich.

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