Die Idee ist nicht neu, das Thema auch nicht. Bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts baute Mercedes Technologieträger zur Erforschung neuer Sicherheitssysteme. Diese so genannten Experimental-Sicherheits-Fahrzeuge (ESF) zeigten immer wieder Technik-Features, die es später bis in die Serie schafften: ABS, Gurtstraffer und Gurtkraftbegrenzer oder Airbag gehören sicher zu den Highlights der ESF-Reihe. 50 Jahre nach dem ersten Crashtest in Sindelfingen will der Konzern mit dem ESF 2019 nicht nur ein Jubiläum feiern, sondern auch den nächsten Schritt in der Sicherheitstechnik gehen. Der Hintergrund: Autonomes Fahren und neue Antriebe verändern die Konstruktion der künftigen Fahrzeuggenerationen nachhaltig – das bedingt auch neue Sicherheitskonzepte. Denn spätestens mit den Stufen vier und fünf des autonomen Fahrens verliert der Fahrer seine eigentliche Funktion, er wird selbst zum Passagier.
„Der große Vorteil der Automatisierung von Fahrfunktionen liegt darin, dass in Zukunft weniger Unfälle durch Fehler des Fahrers verursacht werden. Aber auch vollautomatisierte und fahrerlose Fahrzeuge stoßen an physikalische Grenzen, und es wird sicherlich noch viele Jahre einen Mischverkehr aus automatisierten und nicht-automatisierten Fahrzeugen geben“, sagt Rodolfo Schöneburg, Centerleiter Fahrzeugsicherheit, Betriebsfestigkeit und Korrosionsschutz bei Mercedes-Benz. Entwickler arbeiten deswegen an neuen Sicherheitstechnologien, die deutlich über die heutigen Konzepte hinaus gehen. Zudem müssen autonom fahrende Autos mit dem Fahrer in Echtzeit kommunizieren können, damit die Insassen jederzeit verstehen, wie sich das vollautonome Auto im Straßenverkehr bewegt. Auch das gilt es technologisch umzusetzen. Das ESF 2019 ist ein solches Fahrzeug, das diese Entwicklung vorwegnimmt.
Das neue Experimental-Sicherheits-Fahrzeug basiert wie alle Vorgänger auf einem Serienmodell, in diesem Fall auf einem vollautonom fahrenden GLE mit Plug-in-Technik. Zu den Highlights des Sicherheitskonzepts zählen unter anderem die Maßnahmen im Rahmen der passiven Sicherheit. Mercedes hat das Airbag-System auf die neuen Erfordernisse beim autonomen Fahren angepasst. Fährt das ESF auf Level vier werden sowohl das Steer-by-Wire-Lenkrad – das Lenkrad dreht sich bei diesem Level nicht mehr mit – als auch die Pedale eingezogen, das ESF übernimmt die Steuerung. Da der Fahrer nun mehr Bewegungsfreiheit im Sitz hat, haben die Entwickler das Gurtsystem in den Sitz verlagert und die Airbags entsprechend angepasst. „Der Fahrerairbag ist nicht mehr in das Lenkrad integriert“, sagt Claus Geisler, zuständig für Innovation und Integrale Sicherheit. Der Hintergrund: Wird das Lenkrad vom Fahrer wegezogen, muss das System neu ausgelegt werden. Der Airbag sitzt beim ESF deswegen direkt im Armaturenträger und ist deutlich voluminöser ausgelegt. Zudem wurden in die Lehne der Vordersitze links und rechts Airbags installiert, die den Fahrer bei seitlichen Crashs schützen sollen. Auch die Fondpassagiere kommen künftig in den Genuss eines Luftsacks, der in der Rücklehne des Fahrer- und Beifahrersitzes verbaut ist. „Bis dato war der Schutz des Kopfes bei den Fondpassagieren eine echte Herausforderung“, so Geisler. Mit dem neuen Airbag will man die Passagiere auf den Rücksitzen noch effektiver schützen. Die Folge dieser umfangreichen Maßnahmen: „Die Sitze werden künftig deutlich komplexer, weil die Kräfte über den Sitz abgeleitet werden“, erklärt Geisler. Das wiederum hat Konsequenzen, die bis in den Rohbau des Fahrzeugs reichen. Dennoch geht man bei Mercedes davon aus, dass sich das Integralkonzept bei autonomen Fahrzeugen durchsetzen wird.
Damit sich die Passagiere beim autonomen Fahren wirklich entspannen, übernimmt das ESF nicht nur die Fahraufgabe, das Sicherheitsfahrzeug kommuniziert zudem auch mit dem Umfeld. „Andere Autofahrer oder Fußgänger müssen dem ESF nicht blind vertrauen, es gibt sich zu erkennen“, erklärt Stephan Mücke, Bereich Absicherung und Kommunikation Assistenzsysteme. Der vollautonome GLE blickt dabei in alle Richtungen. Fährt das ESF beispielsweise auf eine Kreuzung zu und bemerkt andere Fahrzeuge aus dem Querverkehr, werden diese im Ernstfall mittels Leuchtstreifen in der Flanke gewarnt. Auch mit Fußgänger verständigt sich das Sicherheitsfahrzeug: Am Zebrastreifen gibt sich das der GLE per Lichtsignal eindeutig zu erkennen. Damit nicht genug: Eine Projektionsfläche in der Heckscheibe gewährt beim Anhalten oder in Gefahrensituationen wie Staus dem direkt folgenden Auto einen Blick auf das Geschehen vor dem ESF. Eine Frontkamera im GLE leitet das Bild auf die Projektionsfläche in der Heckscheibe. Der Fahrer des nachfolgenden Autos sieht sozusagen durch das ESF hindurch. Auch Warnsignale lassen sich in der Heckscheibe einblenden, ebenso in der Frontmaske des Fahrzeugs. Ein weiteres Highlight: Tritt ein Fußgänger vor einem am Seitenstreifen geparkten ESF auf die Straße, warnt das Sicherheitsfahrzeug die Person optisch und akustisch vor einem herannahenden Auto. Gleiches gilt für den Fahrer des Fahrzeugs, indem das ESF das Licht einschaltet und den Fußgänger anstrahlt. Ein typisches Beispiel dafür: Ein Ball rollt auf die Straße und das Kind springt hinterher. Das ESF würde in diesem Fall das Kind warnen und den Fahrer des herannahenden Fahrzeugs per Lichtzeichen aufmerksam machen.
Überhaupt treibt das ESF die Sicherheit für Kinder auf ein neues Level. Das zeigt sich beim neuen Kindersitzkonzept. Die drehbare Sitzschale wird per USB-Anschluss mit dem Infotainment des Fahrzeugs verbunden. „Eine Live-Cam zeigt, ob das Kind beispielsweise schläft“, sagt Hakan Ipek, verantwortlich für vernetzte Kindersitze bei Mercedes. Allerdings nur im Stand, während der Fahrt wird das Bild der Cam durch ein Emoji im Infotainment-System ersetzt. So wird der Fahrer ständig über das Wohlbefinden des Kindes informiert. Zudem erfasst der Sitz Vitaldaten und das Infotainment wacht auch darüber, ob der Sitz stets korrekt installiert ist und sich in der richtigen Position befindet. Wem das noch nicht ausreicht, der leitet die Daten des Sitzes und das Live-Bild an das Portal Mercedes Me weiter. Per App auf dem Smartphone können die Eltern das Kind im Sitz beobachten.
Fazit: Das ESF will möglichst jede Sicherheitslücke schließen und nimmt Technologien vorweg, die beim autonomen Fahren der Zukunft tatsächlich von Wichtigkeit sein könnten, selbst wenn manche Idee etwas über das Ziel hinausschießt. Ein beheizbarer Gurt, der das Wohlbefinden steigern und die so genannte Gurtlose beim Sicherheitsgurt im Ernstfall reduzieren soll, weil man keine Jacke mehr tragen muss, ruft dann doch die Frage nach Aufwand und Sinn hervor. Gleiches gilt für die vitalisierende Innenraumbeleuchtung. Aber grundsätzlich geht der Konzept in die richtige Richtung. Das Highlight ist aber das autonome Warndreieck, das bei einer Panne selbstständig aus dem Wagenboden fährt und sich – wie von Geisterhand gesteuert – an der korrekten Stelle hinter dem Wagen positioniert. Das Ganze erinnert an Staubsaugerroboter, die selbstständig durch die Wohnung wuseln – nur in diesem Fall mit einem Warndreieck auf dem Rücken.
Die Geschichte des ESF
Die in den sechziger Jahren immens steigenden Unfallzahlen führten dazu, dass die US- Verkehrsbehörde (DOT) 1968 ein Programm zur Entwicklung von Experimental-Sicherheits-Fahrzeugen (ESF) konzipierte, mit deren Hilfe man die Sicherheit langfristig erhöhen wollte. Zudem rief die Behörde parallel dazu eine jährliche Konferenz ein, die sich mit dem sinnlosen Sterben auf den Straßen beschäftigte und gleichzeitig die technischen Maßnahmen vorantrieb, um die Unfallzahlen zu reduzieren. Anfang der siebziger Jahre wurden die Anforderungen für Experimental-Sicherheits-Fahrzeuge (ESF) erstmals definiert. Dazu zählten unter anderem ein Frontalcrash mit 80 km/h auf eine starre Barriere und ein Seitenaufprall auf einen Mast mit 20 km/h. Auch an heutigen Maßstäben gemessen eine echte Herausforderung. Entsprechend hoch war der Widerstand aus der Automobilindustrie. Der Grund: Die daraus resultierenden Sicherheitssysteme waren für die Serie ungeeignet, die Autos wären viel zu groß, zu schwer und am Ende des Tages auch zu teuer gewesen. Man war über das Ziel hinaus geschossen. „Wir haben damals gefordert, die Anforderungen zu senken“, sagt Karl-Heinz Baumann, ehemaliger Entwicklungsingenieur im ESF-Programm von Mercedes. Die Behörde reagierte und die ESF zeigten in Folge realistische und in die Serie übertragbare Sicherheitstechnik. Mercedes beendete sein Engagement Mitte der siebziger Jahre mit dem ESF 24. Dieses Fahrzeug basierte auf dem intern W 116 genannten Flaggschiff von Mercedes, der S-Klasse. Es verfügte bereits über ABS und Airbags.
Bilder: Daimler