
Nio und GAC wollen in Europa mit neuen Modellen Fuß fassen. (Bild: Nio/GAC)
An hoher Produktqualität ihrer batterieelektrischen Pkw mangelt es nicht. Dass chinesische Automarken in Europa bereits vor Inkrafttreten der Strafzölle hinter selbst gesteckten Verkaufszielen bleiben, folgt eher leichtfertig aufgesetzter Produkt- und Vermarktungsstrategien. In mangelnder Kenntnis über Markenbewusstsein und Kaufverhalten europäischer Zielgruppen rufen im Heimatland erfolgreiche chinesische Hersteller geradezu hemmungslos neue Marken ins Leben, deren Produkte sich in Fahrcharakteristika jedoch kaum voneinander unterscheiden.
Abgesehen von der SAIC-Marke MG, die den Rückenwind des frühen Markteintritts mit dem Bonus eines eingeführten britischen Markennamens kombiniert, kommen chinesische Marken in Europa nicht aus den Startlöchern. Auch nicht Branchen-Primus BYD unter Einsatz gewaltiger finanzieller Mittel. Während im Jahr 2024 weltweit 4,3 Millionen BYD verkauft werden, sind es in Deutschland gerade einmal 2.891 Einheiten. Derweil streben ständig mehr chinesische Hersteller nach Westen, um dem dramatischen Konkurrenzdruck im Heimatmarkt ein Ventil zu öffnen. Zwei davon versuchen es nun etwas anders.
Nio setzt auf Marken Onvo und Firefly
William Li tritt vor zehn Jahren an, mit seinem Startup Nio das amerikanische Geschäftsmodell von Elon Musk chinesisch zu interpretieren. Doch kürzlich erklärt er 2026 zum Nio-Schicksalsjahr. Mit acht Premiummodellen, und monatlich 20.000 Einheiten im Jahr 2024, gelingt es nicht, schwarze Zahlen zu schreiben. Nun verkündet Li einen verwegenen Plan: Nio soll mit kleineren und günstigeren Modellen, die außerhalb Chinas weniger Konkurrenz erwarten, zum Massenhersteller werden. Die neuen Submarken Onvo und Firefly sollen es richten und mit großen Stückzahlen bei hohen Skaleneffekten endlich Gewinn einfahren.
Der Onvo L60 ist gerade in China eingeführt. Jährlich 240.000 Autos sollen vom Band fließen, zu jeweils umgerechnet 26.000 bis 30.000 Euro. Das Einstiegsmodell mit gemietetem Akku gar für 19.000 Euro. Der L60 zielt aufs erfolgreichste EV der Welt, den Tesla Model Y, der aktuell ab 45.000 Euro beginnt. Im chinesischen Alltagsverkehr überzeugen wir uns, dass der L60 kein Verzichtauto ist. Es wiegt dank Stahl-Aluminium-Hybridstruktur unter zwei Tonnen, besitzt mit 0,23 den geringsten cW-Wert aller Serien-SUV und verbraucht nominell 12,1 kWh/100km. Die von uns gefahrene Topversion mit Allradantrieb leistet sich Schwächen im Bedienungskomfort, überzeugt aber mit durchdachter Raumausnutzung und brilliert mit teilautonomen Fahrfunktionen.
Wie lässt sich der Onvo L60 bedienen und laden?
Zum Entriegeln des L60 klatscht man eine Transponder-Card auf die B-Säule der Fahrerseite. Doch leider öffnet die Tür erst Sekunden später. Innen ist die Armaturentafel an Schlichtheit nicht zu übertreffen. Neben dem Lenkrad mit zwei Rollschaltern gibt es nur ein zentrales 17,2 Zoll Touch-Display für alle Komfort- und sekundären Fahreinstellungen. Die Sprachsteuerung über den KI-unterstützen Sprachroboter Xiaole funktioniert hervorragend. Natürlich besitzt dieser auch lexikales Wissen und antwortet selektiv über Sitz nahe Einzellautsprecher. Bisher nur in Chinesisch. Eine Cockpit-Instrumentierung wird zugunsten eines 13-Zoll-Headup-Displays eingespart, das nötige Fahrinformationen auf der Windschutzscheibe abbildet. Für Fondpassagiere gibt‘s ein 8-Zoll-Display auf der Mittelkonsole zum Einstellen von Komfortfunktionen.
Der Onvo L60 nutzt die weltweit erste 900-V-Architektur, eine 60-kWh-LFP-Batterie oder einen NMC-Akku mit 85 kWh. An einer gängige Schnellladesäule laden wir den größeren Akku bei einer Restreichweite von 65 Kilometern nach. Onvo verspricht, 200 Kilometer Reichweite in zehn Minuten aufsatteln zu können, was uns nicht gelingt. Die sehr zuverlässigen NOA-Fahrfunktionen (Navigate on Autopilot) umfassen initiierte Überholmanöver, sicheres Einordnen und Abbiegen im Stadtverkehr sowie vollautomatisches Ein- und Ausparken. 30 Hochleistungssensoren einschließlich sechs Lidars, sieben Kameras, ein Millimeterwellen-Radar und 22 Ultraschall-Sensoren liefern Informationen, die ein Nvidia Orion X Chip (254 TOPS) verarbeitet und mit eingespeisten Szenarien abgleicht.
Firefly soll VWs Billigstromer Marktanteile klauen
Mit der Submarke Firefly greift Nio noch tiefer an, im A-Segment für elektrische Pkw um 20.000 Euro, das Volkswagen die „Champions League der Autoindustrie“ nennt. Während die Wolfsburger dieser Tage ein erstes Konzeptfahrzeug des ID.1 zeigen, dessen Marktreife für 2027 erwartet wird, fährt Nio seinen knuffigen Firefly-Viersitzer schon Mitte 2025 in China an den Markt. Wenige Monate später dann zu uns. Firefly nutzt ebenfalls die 900-V-Plattform, einen 42,1 kWh LFP-Akku für gut 300 km Reichweite (WLTP) sowie vorentwickelte Baugruppen aus dem Nio-Regal.
Es wird ein Durchschnittsverbrauch von nur 10 kWh/100 km angepeilt. Zudem plant die Marke mit einer preiswerten, nochmals kleineren Batterie und zur Reichweiterverlängerung einen kleinen Verbrenner an Bord zu nehmen. Der EREV (E-Auto mit Range-Extender) werde nur außerhalb Chinas angeboten, heißt es. In Europa fielen für ihn Strafzölle weg, die Nios EVs aktuell mit 20 Prozent treffen.
GAC wagt sich in Europa vorsichtig heran
Den chinesischen Staatsbetrieb GAC kennt hierzulande kaum jemand. Als einer der ältesten Autohersteller Chinas liegen seine NEV-Verkäufe (New Energy Vehicle), zu denen auch PHEV (Plug-in Hybride) zählen, hinter Tesla und BYD weltweit an dritter Stelle. Vergleichsweise spät nimmt GAC den europäischen Markt ins Visier, einer zurückhaltenden Strategie folgend. Man habe aus Fehlern der Konkurrenz gelernt, heißt es, wolle das Angebot nicht überdehnen und schon gar nicht mit zahlreichen Submarken wuchern.
Zunächst wird in Polen, Portugal und Norwegen umfassend sondiert. Mit einem SUV und einer Fließheck-Limousine der im chinesischen Massenmarkt populären Submarke Aion. Etwas später werden Aion V und Aion UT in Zentraleuropa über lokale Händlernetze eingeführt. Auch über EREVs wird nachgedacht. Die Ziele seien definiert, bestätigt der von BMW über Hyundai und Kia kommende Thomas Schemera als Verantwortlicher fürs GAC-Auslandsgeschäft. Doch die Wege müsse er noch ebnen.
Aion bietet kompakte Preisbrecher
Sowohl das Kompakt-SUV Aion V fürs C-Segment, als auch der Aion UT fürs A-Segment überbauen die skalierbare AEP 3.0 Plattform. Während der V 150 kW/204 PS leistet, gespeist aus einer 75,3-kWh-Batterie für eine nominelle Reichweite von 521 Kilometer (WLTP), leistet die UT E-Maschine 150 kW/204 PS, versorgt von einem 60-kWh-Akku, der eine Reichweite von nominell 430 Kilometer (WLTP) verspricht. Besonders konkurrenzfähige Preise werden angepeilt: Das SUV soll in Europa für weniger als 35.000 Euro zu haben sein, der ID.3 Konkurrent UT für rund 28.000 Euro.
Dafür bekommt der Kunde unaufgeregte Preisbrecher mit geräumigem Interieur. Beide Fahrzeuge verfügen über ein 14,6-Zoll-Zentraltablet sowie ein 8,9-Zoll-Cockpitdisplay, ihr Interieurdesign folgt gängigem chinesischen Muster. Doch die üppige Ausstattung des Aion V lässt aufhorchen. Elektrisch verstellbare, beheizte und belüftete Vordersitze, Fensteröffner, ein abdunkelbares Sonnendach und beheiztes Lederlenkrad sind ebenso an Bord wie eine Zwei-Zonen-Klimatisierung und eine Kühl- beziehungsweise Heizbox unter der Mittelarmlehne. Das Infotainment-System kann von vier Plätzen aus sprachgesteuert werden. 13 Assistenzsysteme unterstützen den Fahrer, Außenkameras spielen eine 360-Grad-Rundumsicht aufs Zentraldisplay.
Ähnlich üppig ist auch die Fliessheck-Limousine Aion UT ausgestattet. Die Bedienbarkeit von Komfort- und sekundären Fahrfunktionen sowie der logische Aufbau der Apps im Infotainment-System sind vorbildlich. Sollte die Spracherkennung bald auch mit Europäern kommunizieren können, muss sich die internationale Konkurrenz warm anziehen.