Antizipieren von Engpässen
Das Streben nach der perfekten Lieferkette
Die Lieferketten von BASF und Mercedes erstrecken sich über die ganze Welt.
(Bild: Adobe Stock/Tanaseth)
Unvorhersehbares und ineffiziente Zusammenarbeitsprozesse in der Lieferkette zu vermeiden oder zu mildern und die Planungssicherheit zu steigern ist Teil des Use Case Demand and Capacity Management (DCM) von Mercedes-Benz und BASF.
Es gibt wohl kaum ein fragileres Gebilde als die Lieferkette. In einer globalen Autoindustrie ist diese besonders anfällig. Ob eine Ever Given, die den Suezkanal blockiert, Angriffe der Huthi-Rebellen auf Frachtschiffe, Naturkatastrophen wie Fukushima oder eine Pandemie, die die Chip-Produktion stark beeinträchtigt. Solche Ereignisse wirken sich auf die gesamte Lieferkette aus. Oft kennt man jedoch nicht alle Vorlieferanten und kann nur schwer erfassen, wer betroffen ist. Kurzum: Die Automobilindustrie kämpft mit unvorhersehbaren Bedarfs- und Kapazitätsschwankungen. Neben solch externen Unvorhersehbarkeiten führen manuelle und ineffiziente Zusammenarbeitsprozesse zwischen den Unternehmen zu Verzögerungen, Materialengpässen und hohen Kosten. Das Use Case Demand and Capacity Management (DCM) von Mercedes-Benz und BASF soll genau diese Probleme lösen, indem es den Datenaustausch in der Lieferkette verbessert und eine vorausschauende Planung ermöglicht.
Manuelle Prozesse sind ein Problem
Viele Unternehmen der Lieferkette arbeiten mit unterschiedlichen Systemen und haben keinen direkten Einblick in aktuelle Bedarfsänderungen. „Wir wissen oft nicht, wo unsere Materialien letztendlich eingesetzt werden, da BASF bis zu sieben Stufen tief in der Lieferkette agiert“, erklärt Andreas Wollny, globaler Digitalexperte bei BASF. Das führt dazu, dass Bedarfsänderungen oft erst spät erkannt werden. „Es kann passieren, dass sowohl ein OEM als auch ein anderer Kunde der BASF, der wiederum an einen OEM liefert, plötzlich dringend Material benötigt. Wir können jedoch nicht rechtzeitig reagieren, weil die Informationen zu kurzfristig an uns herangetragen werden oder fehlen.“ Gleichzeitig arbeiten viele Unternehmen noch mit manuellen Prozessen: Lieferanten müssen Daten in verschiedene Unternehmens-Portale händisch eingeben, was zeitaufwendig ist und Fehler begünstigt.
„Unsere Branche braucht einheitliche, automatisierte Lösungen, die alle Beteiligten vernetzen“, betont Tobias Bierer, Abteilungsleiter für Digitalisierung im Einkauf von Mercedes-Benz. In Deutschland, so Bierer, beziehen laut einer Studie der Bundesnetzagentur über 60 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen nur wenig oder keine Daten von anderen Unternehmen und haben einen entsprechend geringen Digitalisierungsgrad. Dadurch entstehen oft Datensilos und ein erhöhter manueller Aufwand.
DCM setzt genau hier an: Über einen standardisierten Datenaustausch können Bedarfe und Kapazitäten jederzeit abgeglichen werden. „Mit einer gemeinsamen Datenbasis schaffen wir Transparenz für alle beteiligten Unternehmen und verbessern so nicht nur die Datenqualität, sondern ermöglichen vor allem eine effizientere Planung“, so Bierer. Lieferanten werden frühzeitig über Bedarfsänderungen informiert und können entsprechend reagieren. Ein weiteres wichtiges Element ist die Datensicherheit. „Transparenz ist essenziell, aber sie muss gezielt gesteuert werden. Unternehmen sehen nur die für sie relevanten Informationen ihrer direkten Kunden oder Lieferanten“, erklärt Wollny. Durch dieses so genannte One-Up-One-Down-Prinzip wird sichergestellt, dass vertrauliche Daten nicht unkontrolliert weitergegeben werden.
DCM als Gamechanger in Krisensituationen
Die Vorteile des DCM-Use-Cases zeigen sich besonders in Krisensituationen. „Wenn sich eine Materialknappheit abzeichnet, können wir dank einer frühzeitigen Abstimmung mit dem Kunden entsprechende Maßnahmen einleiten“, erläutert Wollny. Die Halbleiterkrise beispielsweise hat gezeigt, dass eine fehlende Transparenz in der Lieferkette zu Produktionsstopps führen kann. „Mit traditionellen Methoden dauert es lange, bis kritische Informationen weitergegeben werden. DCM ermöglicht es uns, diese Informationen deutlich schneller zu erfassen und schneller zu reagieren“, ergänzt Bierer.
Seit dem vierten Quartal 2024 testen Mercedes-Benz und BASF das DCM-System in einer Pilotphase. „Die erste technische Verbindung hat sofort funktioniert, wir konnten direkt Ergebnisse sehen“, berichtet Bierer. Jetzt geht es darum, das System breiter in die automobile Lieferkette zu bringen und weitere Partner zu integrieren. „Je mehr Unternehmen teilnehmen, desto wertvoller wird der Use Case“, betont Wollny. Ziel ist es, durch eine höhere Vernetzung der Zulieferer eine durchgängige Planung entlang der gesamten Lieferkette zu ermöglichen.
Mehrwert erst durch viele Unternehmer
Die erfolgreiche Einführung des Systems hängt stark von der Skalierung ab. „BASF engagiert sich aktiv, indem wir das System unseren Kunden und Lieferanten anbieten“, erklärt Wollny. Die breite Nutzung ist entscheidend für den Erfolg: „Es bringt wenig, wenn nur zwei Partner die Lösung nutzen – der Mehrwert entsteht durch die Einbindung vieler Unternehmen.“ Hierbei spielt die Internationalisierung von Catena-X selbst eine wichtige Rolle: „Da Catena-X als deutsches, öffentlich gefördertes Projekt gestartet ist, war die internationale Akzeptanz anfangs eine Herausforderung“, gibt Wollny zu. Doch mit Hubs in Schweden, Spanien und Frankreich sowie internationalen Initiativen in Nordamerika, China und Japan wachse die Reichweite. „Wir sehen zunehmend Interesse von internationalen Zulieferern und OEMs. In Nordamerika arbeiten bereits Unternehmen über ihre europäischen Niederlassungen mit uns zusammen“, so Wollny.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Interoperabilität. „Niemand wird gezwungen, eine bestimmte Software zu nutzen. Unternehmen können aus verschiedenen Anwendungen wählen, die auf den gleichen Standards basieren“, sagt Bierer. So können auch kleinere und mittlere Unternehmen ohne großen Aufwand in das System integriert werden.
Der DCM-Use-Case zeigt, wie sich Bedarfs- und Kapazitätsplanung durch digitale Vernetzung verbessern lässt. Echtzeitkommunikation reduziert Engpässe, optimiert Bestände und ermöglicht eine effizientere Reaktion auf Veränderungen. „Wir sehen diesen Use Case als einen zentralen Baustein für die digitale Zukunft der Automobilindustrie. Durch die digitale Vernetzung von Lieferketten können wir resiliente, effiziente und nachhaltige Prozesse schaffen“, fasst Bierer zusammen. Wollny ergänzt: „Für BASF ist es entscheidend, dass wir frühzeitig erkennen, wo unser breites Produktportfolio benötigt wird. DCM hilft uns, genau das sicherzustellen – für eine stabilere und nachhaltigere Lieferkette.“