Catena-X ist mit großen Zielen angetreten – und sah sich neben ersten Meilensteinen auch mit Hürden und Kritik konfrontiert. Chef Oliver Ganser spricht über den Status quo, das Feiern von Erfolgen und entkräftet Mythen rund um den Datenraum.

„Wir haben es versäumt, uns gegen die Kritik zu verteidigen. Wir haben nicht erklärt, was wir stattdessen erreicht haben“, sagt Oliver Ganser im Gespräch mit automotiveIT. (Bild: Catena-X/Pascal Rohe)

Herr Ganser, fast vier Jahre sind seit der Gründung von Catena-X vergangen. Wenn Sie zurückblicken auf die ursprünglichen Ziele, mit denen Sie angetreten sind: Was wurde bereits erreicht und wo gibt es noch offene Punkte?

Wir haben tatsächlich eine Menge erreicht. Wer hätte denn geglaubt, dass wir mit Eclipse Tractus-X die größte Open-Source-Community innerhalb der Eclipse Foundation schaffen würden? Wir haben Standards gesetzt, funktionierenden Code entwickelt und vor allem bereits industrialisiert – über verschiedenste Kanäle wie Cofinity-X. Wir haben einen operativen Datenraum geschaffen. Ich würde sagen, das ist eine enorme Errungenschaft. Unser Ziel war es, 21 Kits bereitzustellen, und inzwischen gibt es viele Marktteilnehmer, insbesondere App-Provider, die sich auf der Basis zertifizieren lassen. Allein für CO2 gibt es bereits sechs zertifizierte Anbieter. Bei „Traceability“ sind es mehr als vier. Und für den Batteriepass gibt es sogar eine ganze Initiative, die sich inzwischen angeschlossen hat, Path.Era. Wir sehen, dass sich der Markt verändert. Wir sehen, dass das, was wir als Industrie geschaffen haben, nun wirklich Früchte trägt – dass Partner es in ihre Software implementieren und den Datenraum nutzen. Und das nicht nur deutschland- oder EU-weit, sondern mittlerweile auch global.

Was waren die größten Herausforderungen, auf die Sie gestoßen sind? Gab es Stolpersteine, mit denen Sie nicht gerechnet haben?

Ich denke vor allem an zwei Themen, die wir uns einfacher vorgestellt hatten. Wir dachten: Wir haben alle schon einmal Software entwickelt und deployt sowie im DevOps-Modus gearbeitet. Wir haben alle eine SAFe-Schulung gemacht, alle das Scaled Agile Framework verinnerlicht – jetzt sind wir normiert und können gemeinsam loslegen. Aber tatsächlich hatten wir es dann mit völlig unterschiedlichen Unternehmenskulturen zu tun. Die Wahrheit ist: Open-Source-Software zu konsumieren ist etwas anderes als Open-Source-Software zu entwickeln. Mittlerweile haben wir bewiesen, dass wir es können. Trotzdem ist das ein großer kultureller Wandel, denn nicht immer folgen alle automatisch dem kollaborativen Ansatz. Auch innerhalb des Catena-X-Ökosystems gibt es vereinzelt Unternehmen, die versuchen das System kreativ zu ihren Gunsten zu interpretieren – in solchen Fällen werden wir nun die Catena-X-Governance-Funktion stärker ausprägen. Der zweite Punkt: Wir hatten ursprünglich vor, Standards zu definieren, darauf aufzubauen und dann loszulegen. Was wir aber nicht erwartet hatten, war die enorme globale Nachfrage. Neben den deutschen und europäischen Anforderungen mussten wir plötzlich auch die globalen Anforderungen viel schneller integrieren, als wir es uns vorgestellt hatten. Das war auf der einen Seite eine großartige Entwicklung, weil es uns mehr Sichtbarkeit und Reichweite verschafft hat. Gleichzeitig hat es uns aber auch etwas verlangsamt, weil wir nicht nur den europäischen Datenraum abbilden, sondern auch Partner aus Nordamerika und Asien mit einbeziehen mussten.

Das ist auch eine Kritik, die in den letzten Jahren häufiger an Catena-X geäußert wurde: zu behäbig, zu langsam. Wie begegnen Sie diesem Vorwurf?

Jeder kann gern meine Rolle übernehmen und schauen, ob er es schneller hinbekommt (lacht). Aber im Ernst: Ich glaube, die Wahrnehmung von außen ist nicht ganz falsch. Wir sind vor dreieinhalb Jahren gestartet – und ja, wir wollten bereits weiter sein. Aber die wenigsten nehmen sich die Zeit, das gesamte Bild zu betrachten. Was haben wir denn tatsächlich geschaffen? Wir haben ein Entwicklungskonsortium mit 28 Partnern aufgebaut, einen Verein gegründet und 21 Kits zur Lösung der Top-Industrie-Probleme veröffentlicht. Wir haben eine Firma gegründet – und das mit der Unterstützung eines Drittels der deutschen DAX-Unternehmen. Dazu kommen unter anderem das erste Operating und Governance Model, diverse technische Kooperationen und regionale Partnerschaften. Aber viele Leute schauen nicht auf das gesamte Projekt, sondern fragen nur nach der Software. Es geht also nicht nur darum, eine Software zu entwickeln – sie muss auch in einem Datenraum akzeptiert, verbreitet und genutzt werden. Genau das hat uns verlangsamt, aber es hat Catena-X auch auf eine solidere Basis gestellt.

Ist es also eher ein Kommunikationsproblem? Hat Catena-X seine Anfangserfolge zu wenig gefeiert?

Das ist sicherlich so, ja. Wir hatten uns zum Start vorgenommen, unsere Durchbruchsziele aktiv zu kommunizieren und uns daran messen zu lassen. Wir hatten das Ziel, viel früher am Markt zu sein, schneller mehr Kunden zu gewinnen. Das haben wir nicht erreicht und die Kritik daran ist fair. Aber dafür haben wir anderes erreicht. Was wir versäumt haben: Uns gegen die Kritik zu verteidigen. Wir haben nicht erklärt, was wir stattdessen erreicht haben. Vielleicht hätten wir das stärker hervorheben müssen. Insofern ist die Kritik berechtigt. Ich würde sogar sagen, sie war gut und hat uns letztlich geholfen.

Inwiefern?

Ein Beispiel: Die Wirtschaftswoche hat uns als die „größte IT-Luftnummer Deutschlands“ bezeichnet. Und ich glaube, das war gut! Es hat uns noch einmal angespornt. Viele haben angenommen, wir seien die nächste Cloud. Doch wir haben uns nie als Automotive Cloud positioniert. Das waren Attribute, die andere uns zugeschrieben haben. Wir haben nie vorgehabt, einen zentralen Datenspeicher für die Industrie zu schaffen. Unser Ansatz war immer dezentral. Ständig Daten abrufen oder Cloud-Traffic messen wie andere Cloud-Player – das funktioniert bei uns nicht. Der besagte Artikel hat uns also eine Gelegenheit gegeben, das klarzustellen: Unser Mehrwert liegt in der Wahrung der IP, in gemeinsamen Shared Services, die günstiger sind als individuelle Lösungen, und in der direkten Verbindung mit Geschäftspartnern. Es hat uns letztlich geholfen, unser Konzept besser zu erklären. Ich sage immer gerne: There is no central intelligence in a decentralized eco-system.

Die internationale Expansion von Catena-X ist bereits angeklungen. Welche Rolle spielen denn aktuell die großen Märkte – insbesondere die USA und China – in Ihrer Strategie?

Für uns war es wichtig, dass wir nach unseren ersten inner­europäischen Hubs in Frankreich, Schweden und Spanien auch außerhalb Europas Akzeptanz finden und den Datenaustausch fördern. Im Oktober letzten Jahres haben wir eine Vereinbarung mit der Automotive Industry Action Group (AIAG), dem größten Automobilverband Nordamerikas, getroffen, der fast 5000 Mitglieder hat: Catena-X wird über diesen Verband in Nordamerika ausgebaut. Das ist ein großer Erfolg. Sie wollten keine monopolistische, sondern eine interoperable Lösung. China ist ein weiteres wichtiges Thema. Dort haben wir bewusst den Dialog gesucht. Ich war erst Ende Februar wieder dort – meine siebte Reise dorthin innerhalb von 18 Monaten. Die chinesische Regierung hat sich das Ziel gesetzt, einhundert Datenräume zu schaffen. Ich würde mich freuen, wenn wir sehr bald verkünden können, dass wir hier ein starker Partner sind, um diese Philosophie und Strategie mitzugestalten.

Zitat

„Wir haben uns nie als Automotive Cloud positioniert“

Oliver Ganser, Catena-X

Können sich denn die aktuellen geopolitischen Spannungen auch als Stolperstein für die Entwicklung von Catena-X erweisen?

Das ist natürlich denkbar. Aber ich möchte gleich einen Mythos entkräften: Catena-X wird nicht von einer einzelnen Instanz kontrolliert. Das Ökosystem ist kollaborativ angelegt. Jeder kann beitragen und sich einbringen. Unser Ansatz war von Anfang an die Interoperabilität – auch über verschiedene Standards hinweg. Es könnte in Zukunft also durchaus eine chinesische Variante von Catena-X geben, die spezielle Anforderungen an Trust oder andere Themen integriert. Gleichzeitig könnte diese Version mit europäischen und amerikanischen Standards kombiniert werden. Ich denke, mit unserer Strategie des „Network of Networks“ und den bereits bestehenden Implementierungen sind wir gut aufgestellt, um mit geopolitischen Spannungen und Veränderungen umzugehen – und trotzdem ein Datenökosystem bereitzustellen, das globale Wertschöpfungsketten für alle Partner abbildet.

Nun müssen wir aber gar nicht so weit schauen, um von einem herausfordernden Umfeld zu sprechen: Bekommt Catena-X die aktuellen Schwierigkeiten der deutschen und europäischen Industrie zu spüren? Verändert sich gerade das Commitment?

Ich möchte das gar nicht kleinreden, wir spüren das durchaus. Aber genau an der Stelle müssen wir bewusst noch einmal eine Schippe drauflegen. Winston Churchill hat einmal gesagt: „Never let a good crisis go to waste.“ Und was ist derzeit das große Thema der Automobilindustrie? Fixkosten und Überkapazitäten. Und genau hier kann Catena-X einen echten Beitrag leisten – durch Shared Services, durch eine geteilte Infrastruktur, modulare Architekturbausteine und durch gemeinsam genutzte Use Cases. Ein konkretes Beispiel: Wenn Unternehmen nicht jede einzelne Lösung isoliert betreiben, sondern auf eine gemeinsame Infrastruktur mit standardisierten Konnektoren und Datenmodellen setzen, dann sind Kosteneinsparungen von 20 bis 40 Prozent in den operativen Bereichen möglich – und das kurzfristig. Es gibt noch viel mehr dieser Beispiele, etwa im Business Partner Data Management oder rund um den Batteriepass. Catena-X ist in der Krise eigentlich eine perfekte Antwort. Aber genau das müssen wir noch besser erklären.

Lassen Sie uns in die Praxis schauen: Welche Use Cases haben sich bereits als wertstiftend für die Industrie herausgestellt?

Die Mehrzahl ist an der Stelle ganz richtig. Denn was wir klar sehen: Die Use Cases treten selten einzeln auf. Oft starten Unternehmen mit zwei oder drei Anwendungsfällen parallel. Ein Beispiel: Viele Partner nutzen Catena-X für das Qualitätsmanagement und legen damit auch die digitale Infrastruktur für weitere Prozesse in ihrem Partnernetzwerk. Der Aufbau der Infrastruktur wird dabei finanziert, weil er sich direkt positiv auf die Qualitätskosten auswirkt. Parallel dazu starten sie oft mit dem CO2-Management, um ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Andere wiederum beginnen mit dem Versorgungsmanagement, um Lagerbestände oder Maschinenauslastung zu optimieren.

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Das Business Partner Data Management war einer der ersten Anwendungsfälle. Wo steht der Use Case heute?

Das Geschäftspartner-Datenmanagement ist bereits live und verfügbar. Aber es braucht noch mehr Unternehmen, die sich aktiv beteiligen. Wir wollen diesen Service bewusst als eine Art „Waschmaschine“ nutzen: Viele Unternehmen geben ihre bestehenden Stammdaten hinein – und erhalten am Ende einen qualitativ besseren Datensatz zurück. Je mehr Unternehmen mitmachen, desto besser wird die Datenqualität. Und je höher die Qualität, desto mehr kann sich die Industrie darauf verlassen. Wir haben bereits einige starke Partner an Bord, aber dieser Use Case hat noch enormes Wachstumspotenzial.

Ein weiterer Use Case ist heute bereits angeklungen: das Demand and Capacity Management (DCM). Welche Vorteile bringt das für Zulieferer und OEMs?

Lassen Sie es mich kurz skizzieren: Der Kunde gibt seine Bedarfe in das System ein. Damit sieht er nicht nur seine kurzfristigen Anforderungen, sondern kann seinen Bedarf über die nächsten sechs Monate oder sogar über mehrere Jahre hinweg planen. Gleichzeitig kann er diese Bedarfe kontinuierlich mit den verfügbaren Kapazitäten seiner Lieferanten abgleichen und niedrigere oder höhere Bedarfe melden. Dadurch hat der Lieferant die Möglichkeit, seine Kapazitäten besser über einen längeren Zeitraum hinweg auszugleichen. Früher gab es in diesem Bereich viele proprietäre Lösungen. Der Vorteil von Catena-X ist, dass der Lieferant oder Partner nun seine eigene Lösung nutzen kann, anstatt gezwungen zu sein, sich auf ein proprietäres System eines OEMs einzulassen.

Blicken wir nach vorn: Wie sieht Ihre Roadmap für die kommenden Jahre aus?

Der erste Punkt ist Stabilisierung. Wir müssen aus dem, was wir bisher aufgebaut haben, sehr schnell lernen: Was hat die erste Phase gebracht? Wo gibt es noch Herausforderungen? Die bestehenden Use Cases bilden die Grundlage für Catena-X. Deshalb müssen wir noch einige Kinderkrankheiten ausmerzen und den Mehrwert für diese Anwendungsfälle weiter steigern. Das wird sicherlich in den nächsten 18 bis 24 Monaten durch intensives Feedback und Weiterentwicklung erfolgen. Der zweite Punkt ist Skalierung. Es geht nicht nur darum, 500 oder 1.000 Unternehmen im Netzwerk zu haben – sondern eine signifikante Anzahl von Partnern, die mehrere Use Cases gleichzeitig nutzen. Und der dritte Punkt sind weitere Anwendungsfälle. Im Verein haben wir derzeit 15 bis 20 Anfragen für neue Anwendungen in den Bereichen Engineering, Logistik und Energiemanagement. Aber auch branchenübergreifende Ideen gemeinsam mit Initiativen wie Semiconductor-X, Aerospace-X oder Chem-X existieren. Die Innovationen kommen also nicht nur von Catena-X selbst, sondern entstehen über Branchengrenzen hinweg. Darauf bin ich besonders gespannt – sobald wir die ersten beiden Herausforderungen Stabilisierung und Skalierung gelöst haben.

Angenommen, wir sprechen uns in drei Jahren wieder: Woran würden Sie gerne den Erfolg von Catena-X dann messen wollen?

Ich würde es gerne an drei Dingen messen: die Anzahl der Insellösungen, die in der Zwischenzeit verschwunden sind. Die Anzahl der aktiven Nutzer. Und die Kundenzufriedenheit mit unseren Standards. Und noch etwas ist mir wichtig …

Und das wäre?

Ich würde mir wünschen, dass die Menschen Catena-X nicht als etwas sehen, das ihnen etwas wegnimmt. Stattdessen sollten sie es als Chance begreifen: Gerade in der aktuellen Zeit kann Catena-X für Anwender, Ausrüster und Partner ein Wachstumsfeld schaffen. Leider erkennen viele Menschen diesen Mehrwert erst spät. Ich würde mir wünschen, dass sie offener an diesen Wandel herangehen – weg von PowerPoint-Analysen hin zu echter Umsetzung.

Nach seinem Abschluss als Wirtschaftsingenieur begann Oliver Ganser 2001 seine Karriere bei der BMW Group im Technology Office in Palo Alto. Von 2002 bis 2016 war er in verschiedenen Positionen bei BMW in München und den USA tätig. Im Jahr 2017 wurde er Leiter der Performance-Next-Programminitiative Qualität und Digitalisierung. In dieser Funktion legte er den Grundstein für die unternehmensübergreifende kollaborative und datenbasierte Zusammenarbeit. Seit November 2020 ist Oliver Ganser Programmleiter der Industrieplattform Catena-X der BMW AG und seit 2021 Vorstandsvorsitzender des Catena-X e.V. und Leiter des Konsortiums Catena-X Automotive Network.

Zur Person:

Nach seinem Abschluss als Wirtschaftsingenieur begann Oliver Ganser 2001 seine Karriere bei der BMW Group im Technology Office in Palo Alto. Von 2002 bis 2016 war er in verschiedenen Positionen bei BMW in München und den USA tätig. Im Jahr 2017 wurde er Leiter der Performance-Next-Programminitiative Qualität und Digitalisierung. In dieser Funktion legte er den Grundstein für die unternehmensübergreifende kollaborative und datenbasierte Zusammenarbeit. Seit November 2020 ist Oliver Ganser Programmleiter der Industrieplattform Catena-X der BMW AG und seit 2021 Vorstandsvorsitzender des Catena-X e.V. und Leiter des Konsortiums Catena-X Automotive Network.

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