Wissenschaftler des Lehrstuhls für Robotik, künstliche Intelligenz und Echtzeitsysteme der TU München arbeiten mit einem Industriekonsortium daran, einen digitalen Zwilling des Verkehrs zu erstellen. Liefern Sie damit einen Beitrag zur Mobilität der Zukunft?
Die Digitalisierung deutscher Autobahnen läuft genau darauf hinaus, was wir im Forschungsprojekt Providentia++ tun: Auf der A9 beobachten wir von zwei Schilderbrücken aus mit hochauflösenden Flächenkameras und Radarsystemen den Verkehr. Die lokal erfassten Daten werden noch vor Ort verarbeitet und Objekte mithilfe künstlicher Intelligenz klassifiziert. Durch eine Fusion der Sensordaten entsteht in Echtzeit ein digitaler Zwilling des Verkehrs. Dieses virtuelle Abbild können wir als Grundlage nutzen, um zum Beispiel Spurempfehlungen zu geben oder vor Unfällen zu warnen.
Das heißt, Sie ergänzen die Sensorik moderner Fahrzeuge?
Richtig. Providentia++ bietet ein fahrzeugübergreifendes System. Grundsätzlich geht es darum, Transparenz zu schaffen und ein präzises Abbild des Istzustandes zu erzeugen, den fließenden Verkehr zu optimieren – Stichwort prädiktive Simulation – sowie die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Letzteres war die größte Motivation, das Projekt ins Leben zu rufen. Die Zahl der Verkehrstoten ist in Deutschland 2020 erfreulicherweise auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1953 gesunken. Aber unter 3000 schaffen wir es nicht. Deshalb ist es wichtig, nach technischen Möglichkeiten zu suchen, um die Fallzahlen durch Änderungen in der Infrastruktur auf null zu senken. Die „Vision Zero“ bis 2050 hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Wie groß ist das Interesse speziell auf Herstellerseite, die erfassten und aggregierten Verkehrsdaten aktiv in ihre Fahrzeuge zu bringen?
Sagen wir so: Es gibt diejenigen, die das Potenzial unseres Ansatzes erkennen, und diejenigen, die ausschließlich auf ihre eigene Sensorik vertrauen. Die Entwicklung neuer digitaler Lösungen verschlingt enorme Summen und kostet vor allem Zeit. Am Ende fehlt es dann oft an der Gravitationskraft, um frühzeitig einen Marktstandard zu setzen. Deutschland hat aus den letzten Jahren und den Erfahrungen, die wir mit US-amerikanischen Tech-Unternehmen in einem „The Winner takes it all“-Umfeld gemacht haben, zu wenig gelernt. Solange jeder in bester Ingenieurstradition glaubt, nur sein eigenes Ökosystem bespielen zu müssen, ist der Leidensdruck noch nicht groß genug. Im digitalen Zeitalter ist eine solche Einstellung wenig hilfreich. Wir sind in unserem Mindset irgendwo zwischen 1980 und 1990 stehengeblieben.
Worauf führen Sie dieses Verhalten zurück?
Unsere Vorzeigeindustrie hat in den letzten hundert Jahren gutes Geld ausschließlich mit dem Bau technisch hochwertiger Fahrzeuge verdient, nicht mit Services. Die Gewichte aber verschieben sich zusehends in diese Richtung – das erfordert eine Anpassung des Geschäftsmodells. Deshalb ist teilautonomes Fahren nicht allein eine Herausforderung für die Entwicklungsabteilung, sondern muss in einem größeren Mobilitätskontext gesehen werden.
Wie wichtig ist eine gut funktionierende Car-to-X-Vernetzung, um in Zukunft autonomes Fahren sicher zu machen?
Das ist das A und O, eine Basisinfrastruktur, die vorhanden sein muss. Ob mit WLAN oder 5G realisiert ist letztendlich eine Frage der Standardisierung und der politischen Vorgabe – wobei aus meiner Sicht viel für den Mobilfunk spricht. Aber auch an diesem Detail zeigt sich: Eigentlich sind wir zu spät dran. C2X war vor zehn Jahren ein Hypethema in Deutschland, wurde dann aber mehr oder weniger liegen gelassen, weil keiner glauben wollte, dass künftige Käufergenerationen voll vernetzte Fahrzeuge einfach voraussetzen. Heute zeigt uns Tesla, was alles machbar ist. In Deutschland freuen wir uns, dass DAB+ die Radioübertragung via UKW ablöst, in Kalifornien können Sie in einem Modell 3 zwischen San Francisco und Los Angeles unterwegs sein und empfangen jede Radiostation der Welt, die einen Programmstream via Internet anbietet. Von einer stabilen Software-Aktualisierung über die Luftschnittstelle will ich gar nicht erst sprechen …
Lidarsensoren und Kameras sind bei mäßigen Sichtverhältnissen schnell überfordert, die Datenqualität sinkt. Wie bekommen Sie diese Herausforderung systemtechnisch in den Griff?
Die Kombination von Flächenkameras, Radaren und Lidaren ermöglicht es uns, nicht nur den fließenden Verkehr abzubilden, sondern auch stehende Fahrzeuge und Verkehrsteilnehmer besser zu erkennen. Die Multisensorik hat sich als weniger anfällig gegenüber Umweltfaktoren wie Regen und Schnee oder grelles Licht erwiesen. Idealerweise sollte das gesamte Autobahnnetz in Deutschland mit Multisensormessstellen erfasst und digitalisiert werden. Das ist nicht von heute auf morgen möglich. Aber eine Investition von rund einer Milliarde Euro in die Digitalisierung der Bundesautobahnen würde sich schnell bezahlt machen. Viele Schilderbrücken und Sendemasten stehen bereits zur Verfügung. Wir schlagen vor, mit neuralgischen Verkehrspunkten zu starten, an denen es bekanntermaßen Unfallschwerpunkte gibt oder die Nachfrage nach einer intelligenten Streckenführung besonders hoch ist. Denken sie beispielsweise an den Stau-Hotspot Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen.
Welchen Aufgaben wird sich das Forscherteam im Projekt Providentia++ in den kommenden Wochen und Monaten widmen?
Im ersten Schritt haben wir unter Beweis gestellt, dass unser Ansatz stimmt: Je besser Sensoren aus Fahrzeugen und Infrastruktur vernetzt sind, umso lückenloser lässt sich ein Verkehrsraum erfassen. Jetzt geht es einerseits darum, die Systeme robust und skalierbar zu machen. Von einer Handvoll Messstationen wollen wir uns in einem überschaubaren geografischen Radius auf knapp 60 steigern. Andererseits steht die Informationsfusion im Mittelpunkt – wir wollen sämtliche Daten, die von Fahrzeugen und Infrastruktur erfasst werden, nutzbar machen. Und das nicht nur entlang der Autobahn A9, sondern auch in anderen Verkehrssituationen wie dem städtischen Bereich. Dazu werden wir bis Ende des Jahres neue Sende- und Sensorikmasten am Rande eines Autobahnzubringers bis hinein in bewohntes Gebiet aufbauen. In Garching-Hochbrück werden künftig Kreuzungen sowie Rad- und Fußwege anonymisiert durch die Sensorik erfasst. Technologisch lässt sich das Providentia++-System problemlos auch an Bushaltestellen, Bahnhöfen und Park-und Ride-Parkplätzen einsetzen.