BMW agil1

In den Weihnachtsferien herrschte im BMW-IT-Zentrum (ITZ) an der Bremer Straße in München emsige Geschäftigkeit. Auf einigen der langen Flure brannte das Licht bis spät abends. Allerdings arbeitete niemand an Großprojekten wie der ERP-Integration SAP S/4 Hana oder neuen App-Releases für 2018. Stattdessen wurden Umzugskisten gepackt und Möbelcontainer durch die Gegend geschoben. Seit Eröffnung im Juli 2009 sind die rund 2500 Arbeitsplätze im ITZ auf einzelne Module verteilt – jeweils mit 35 Schreibtischen, Besprechungszimmer für bis zu sechs Kollegen sowie Druckerraum. Jeder Mitarbeiter kennt seinen persönlichen Arbeitsbereich und weiß genau, zwischen welchen Pfeilern er sitzt. Mit diesem starren Raster ist jetzt Schluss: Die BMW Group-IT stellt auf mobile Arbeitsplätze um und verändert die Raumarchitektur in den Modulen hin zu offenen Arbeitswelten, um die Zusammenarbeit in flexiblen Teams zu fördern. „Bei der Umgestaltung der Büros geht es uns nicht um den Aspekt ,schöner Wohnen‘, sondern um schnelle Kommunikationswege, gemischte Teams – Stichwort ,BizDevOps‘ – und eine agile Unternehmenskultur“, betont CIO Klaus Straub in einem exklusiven Hintergrundgespräch mit automotiveIT. Das neue Nutzungskonzept und digitale Arbeitsplätze würden es erleichtern, die Menschen mit den richtigen Qualifikationen temporär in einem Projekt zusammenzuspannen. Schon heute arbeiten IT und Fachbereiche Tisch an Tisch, künftig sollen 3000 BMWler und mehr im IT-Zentrum ihrer Projektarbeit nachgehen. Spätestens Anfang 2019 werden drei Viertel aller Module umgestaltet sein.

Die sichtbaren Veränderungen im ITZ sind freilich nur die Spitze des Eisberges. Bei genauem Hinsehen erkennt man unter der Wasseroberfläche ein gewaltiges Transformationsvorhaben. Es wird in der BMW-IT keinen Stein auf dem anderen lassen und zwangsläufig die Fachprozesse des gesamten Unternehmens umkrempeln. Forschung, Elektrik/Elektronik, digitale Dienste und Geschäftsmodelle, Produktion – überall heißt das Schlagwort „Agilität zu 100 Prozent“. Die mutige Grundsatzentscheidung fiel bereits Mitte 2016. Statt weiter im klassischen Wasserfallmodell zu arbeiten, mit starr aufeinanderfolgenden Projektphasen, vordefinierten Start- und Endpunkten und eindeutig definierten Ergebnissen, wollte die Group-IT lieber agil unterwegs sein. Hauptgrund: In dynamischen Zeiten mit skalierbaren Softwarearchitekturen und Microservices stieß die traditionelle Vorgehensweise immer öfter an Grenzen.

Es erwies sich nicht mehr als zielführend, wenn ein Fachbereich die technischen Anforderungen an ein IT-System definierte und drei Jahre vor Implementierung in einem Word- oder Powerpoint-Dokument zusammentrug. So geschehen im Projekt Connected Supply Chain: Hier sind die Komplexität der Prozesse und die Abhängigkeiten zwischen den am Prozess beteiligten Stellen wie zum Beispiel Lieferanten und Transportdienstleister über das gesamte Transportnetzwerk enorm hoch. „Keiner im Projektteam konnte von vornherein den Gesamtprozess und die Lösungsmöglichkeiten durchdringen und ein vollständiges Lastenheft erstellen – weder im Fachbereich, noch auf IT-Seite“, sagt Eugen Schantini, der für die Neugestaltung der Prozesse sowie die Entwicklung und Implementierung neuer IT-Systeme in der Logistik verantwortlich ist.

Die Erfahrungen in anderen Vorhaben waren ähnlich:  Ob BMW Connected Supply Chain oder Versorgungszentrum 2 im Werk Dingolfing – mehr Produktorientierung, eine bessere User Experience und eine durchgehende Prozessverantwortung hätte allen Projekten gutgetan. Ein weiterer Punkt: In der Vergangenheit erfolgte die Optimierung von Software erst nach dem Go-live-Termin. Anwender haben erst bei der täglichen Arbeit gemerkt, welche Funktionen ihnen fehlen und was die IT hätte besser machen können. Abstrakte Konzepte vermitteln Anwendern nun mal wenig Vorstellung darüber, wie sich die Software künftig anfühlen wird, Piloten helfen nur bedingt. Deshalb kam es „teilweise trotz abgenommener Konzepte zu Änderungswünschen in der Größenordnung des Gesamtprojektbudgets“, gibt Alexander Angebrandt zu, der für die im Produktionsprozess der BMW Group eingesetzten IT-Systeme in der Region Europa, Naher Osten und Afrika zuständig ist.

Nach reiflicher Abwägung entschloss sich das Managementteam der BMW Group-IT gemeinsam mit der Hauptabteilung Application Management zu einem radikalen Schritt: Künftig sollen nur noch gemischte Teams passgenaue Lösungen entwickeln. Von den ersten Überlegungen bis zur Produktivsetzung ziehen Vertreter des beauftragenden Fachbereichs mit Softwareentwicklern und Betriebsverantwortlichen in interdisziplinären BizDevOps-Teams an einem Strang. „Wir wollen Software nicht nur um der Funktionalität willen programmieren, sondern auch dafür Sorge tragen, dass sie optimal zur Anwendung kommt“, erklärt Ralf Waltram, der bei der BMW Group die IT-Kernprozesse der Fahrzeugentwicklung verantwortet. Er erinnert sich: „Bei der Verkündung, in Richtung 100 Prozent Agilität zu transformieren, ging ein Raunen durch die Wasserfall-Community. Die Anhänger agiler Methoden dagegen waren dankbar für dieses wichtige Aufbruchsignal.“

Verunsicherung war vor allem im mittleren Management zu spüren: In der Vergangenheit hat es überwiegend gesteuert, jetzt muss es sich stärker in die inhaltliche Gestaltung einbringen. Seit dem 1. Juni 2017 breiten sich in der BMW Group Scrum Boards mit bunten Post-it-Zetteln und das schnelle Denken und Arbeiten in zweiwöchigen Sprints nun schon fast viral aus – verbunden mit dem motivierenden Gefühl, in den Teams an wichtigen Entscheidungen direkt beteiligt zu sein. „Wir sind schneller unterwegs als geplant und haben 2017 unsere Agilitätsziele mehr als erfüllt“, bestätigt CIO Klaus Straub. Gleichzeitig räumt er ein, dass die BMW Group noch mindestens zwei weitere Jahre brauche, um alle Projekte umzustellen und 2020 auf einen Agilitätsanteil von 90 bis 95 Prozent zu kommen. „Das war uns von Anfang an klar. Wir befinden uns auf einer Reise, bei der wir die gesamte Mannschaft der BMW Group-IT mitgenommen haben.“

Mit diesem Zeitplan befinden sich die Münchner in guter Gesellschaft. Beispiele von Firmen aus dem Silicon Valley zeigen, dass durchschnittlich drei bis fünf Jahre vergehen, bis eine Transformation in allen Facetten komplett durchlaufen ist. Struktur, Technik, Prozesse, Kultur – mal gehen die erforderlichen Anpassungen schnell über die Bühne, mal tut es gut, sich mehr Zeit zu nehmen. Schließlich können BMW Group-IT und Fachbereiche nicht ein Agilitätsprojekt nach dem anderen raushauen. Kernaufgabe bleibt es, Autos zu bauen. Gut möglich also, dass man in bestimmten fachlichen Clustern erst 2020 oder in den Folgejahren Transformationsvorhaben sehen wird. Zu tun gibt es reichlich: Klaus Straub und seine Kollegen denken bereits darüber nach, wie sich das agile Arbeitsmodell skalieren lässt. Künftig soll es möglich sein, Teams mit 300 bis 400 Mitgliedern ins Rennen zu schicken, damit auch Großprojekte agil durchgezogen werden können. Voraussetzung ist es dann, die Aktivitäten zeitlich exakt zu synchronisieren. Die Anzahl der Arbeitstage im Projekt, Umfang und Dauer der Sprints, Definitions of Done – alles muss passgenau ineinandergreifen, um das maximale Potenzial zu heben.

„Wir denken in Richtung einer agilen Fabrik mit einheitlichen Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit in Großprojekten“, verrät Straub. „Wir wollen bewusst kein starres Konzept vorgeben, sondern bei Bedarf mit einem Prozessmodell unterstützen. Es soll mit Hilfe verschiedener Abstraktionsebenen und Leistungsstufen ermöglichen, den strategischen Gesamtüberblick über die konkreten Aufgabenstellungen zu behalten, die in den jeweiligen Sprints abgearbeitet werden.“ Erstmals seit Langem besteht damit eine reale Chance, die bei BMW über Jahrzehnte hinweg gewachsene Prozessflut wirksam einzudämmen. Schon heute setzen sich spezielle Projektorganisationen im Vorfeld anstehender IT-Vorhaben intensiv mit der Harmonisierung von Prozessen auseinander. Künftig werden die Fachbereiche verbindliche Referenzabläufe definieren und auf dieser Basis neue Anforderungen aus den Produktlinien und Werken kritisch prüfen. Ziel ist es, nur noch begründete Abweichungen zuzulassen und so Komplexität zu vermeiden.

Redakteure: Ralf Bretting und Hilmar Dunker

Illustrationen: Christoph Schmid

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