Kaveh Shirdel_Nio

„Bislang konnten OEMs die Art und Weise der Interaktion mit Informationen im Fahrzeug diktieren. Genau dieses Feld aber wird heute von disruptiven Playern durchgeschüttelt“, so Kaveh Shirdel. (Bild: Claus Dick)

Herr Shirdel, wann hatten Sie zuletzt ein Fahrerlebnis, das Sie wirklich tief beeindruckt hat?

Ist es frech, wenn ich unser eigenes Fahrzeug nenne? (Lacht) Im Ernst, ich finde es jedes Mal beeindruckend, wie fasziniert die Menschen von unserer Sprachsteuerung sind, wenn sie in China in einem ES8 unterwegs sind. Aber auch davon, wie offen dort grundsätzlich mit neuen Technologien umgegangen wird, wie bereit man ist, mit verschiedenen Interfaces zu interagieren und zu kommunizieren. Das ist ganz anders, als es Europäer tun.

Warum ist das Design-Center von Nio dann hier in München angesiedelt? Warum nicht in Mountain View, London oder Beijing?

Die einfache Antwort: Von Beginn an war es unsere Philosophie, in den verschiedensten Bereichen vom jeweils besten Umfeld zu profitieren. In Süddeutschland, speziell in München, passiert sehr viel in Sachen Fahrzeugdesign. Wir finden hier sämtliche Services, die wir rund um unser Design brauchen, etwa Spezialisten für Tonmodelle oder auch digitale Prototypen. Nicht zuletzt aber gibt es in der Region bis nach Norditalien ein riesiges Netzwerk an Designern und Künstlern – ein nahezu unerschöpflicher Talentpool für uns.

Aber der Kampf um Fachkräfte ist hier besonders groß. Wo bekommen Sie Ihre Leute her?
Aus der ganzen Welt. Designer gehen dorthin, wo ihr Talent gebraucht wird. Wir rekrutieren also nicht regional, sondern global. Aber das ist nicht nur bei uns so. Sie werden in nahezu jedem Fahrzeugdesign-Center ein internationales Team vorfinden. So funktioniert einfach die Branche. Und klar: Es gibt einen Konkurrenzkampf. Aber die etablierten Autobauer hier in der Region spüren auch den Wettbewerb durch uns, da bin ich mir sicher.

Die Entfernung zum Firmensitz in Schanghai ist kein Problem?

Natürlich ist es nicht immer einfach, es gibt aber auch Vorteile. Wir konnten das Zentrum hier wirklich schnell aufbauen – und damit auch zeitnah Ergebnisse liefern. Das wäre in Schanghai so nicht möglich gewesen.

Sprechen wir über intelligente Fahrzeuge: In den vergangenen Jahren hat immer mehr Technologie Einzug ins Auto gehalten. Ist das eine gute oder schlechte Entwicklung aus der Sicht eines User-Experience-Designers?

Für mich ist das toll. Ich komme nicht aus der Autobranche und wurde wohl genau deshalb eingestellt (lacht). Die Industrie ist gezwungen, das Thema aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Es gilt, die Gewohnheiten von Kunden neu zu bewerten. Bislang konnten OEMs die Art und Weise der Interaktion mit Informationen im Fahrzeug weitgehend diktieren, weil die Bedienung des Autos selbst vorgegeben ist. Genau dieses Feld aber wird heute von disruptiven Playern durchgeschüttelt. Das kleine Gerät, das wir immer in der Hosentasche mit uns herumtragen, hat unsere Sicht auf Technik verändert.

Was tun Sie, um Kunden die Angst vor einer technischen Überforderung zu nehmen?

Zunächst muss Technik einfach zu bedienen und nützlich sein. Die Autobranche hat bislang aus der Sicht des Ingenieurs entwickelt und Nutzer dann entsprechend geschult. Ich glaube, das führt bei manchen Menschen zu einer ablehnenden Haltung gegenüber neuen Technologien. Sie bekommen das Gefühl, sie müssten Experten in der Bedienung eines technischen Gerätes sein. Aber nicht jeder fühlt sich wie ein Experte. Wir möchten, dass jeder Mensch unsere Fahrzeuge bedienen kann. Was muss der Nutzer im Auto wirklich tun und wissen? Was müssen wir tun, damit er sich sicher fühlt? Das sind die Fragen, die wir uns immer wieder stellen.

Vermeidet man dadurch, dass während der Fahrt lieber das eigene Smartphone genutzt wird anstelle des HMI …

Genau. Oder man sorgt dafür, dass es auf eine angemessene und sichere Art und Weise im Fahrzeug genutzt werden kann. Das Smartphone bildet für so viele Bereiche unseres Lebens den natürlichen Zugang. Wir müssen akzeptieren, dass dieses digitale Ökosystem in der Prioritätenliste der Menschen immer höher klettert.

Bereitet Ihnen die fehlende Akzeptanz neuer Technologien keine Bauchschmerzen?

Es kommt ganz darauf an, wo man hinschaut. In China etwa unterscheidet sich die Art, wie Menschen ihre Einkäufe bezahlen, drastisch von der in Deutschland. Man macht Dinge einfach anders. Das gilt für verschiedene Regionen der Welt, für Stadt und Land, für unterschiedliche Demografien. Wir richten uns gezielt an Kunden, die diese neuen Technologien wollen und beherrschen. Für uns ist es bei dieser Zielgruppe eher wichtig, dass wir glaubwürdig bleiben und halten, was wir versprechen. Die Erwartungen der Digital Natives sind besonders hoch. Das gilt vor allem für China, wo digitale Dienste bereits mehr als in Europa zum Alltag gehören. Ich würde sagen, wir bringen die Autoindustrie gerade erst auf ein technologisches Level, das die Menschen von uns ohnehin schon erwarten. Fehlende Akzeptanz oder Zurückhaltung sehe ich nicht.

Nio versteht sich als kundenzentriertes Unternehmen. Welchen Einfluss hat dieses Selbstverständnis auf das Interieur-Design?

In Bezug auf das Design würde ich sagen: Man muss die Tatsache berücksichtigen, dass sich Menschen verändern. Was meine ich damit? Nehmen wir das Beispiel der Elektromobilität. Sie ermöglicht uns die Frage, was Passagiere wollen, wenn wir dank des elektrischen Antriebs neuen Platz im Innenraum gewinnen. Wir arbeiten gerade an ganz neuen Lösungen rund um das Thema Fächer und Ablagen. Fällt zum Beispiel der Kardantunnel weg, lässt sich der neue Raum für großzügige Verstaumöglichkeiten nutzen. Das haben wir gemacht und konnten dadurch auf das klassische Handschuhfach verzichten. Somit bekommt der Beifahrer viel mehr Platz, das Auto wird zum Wohnraum.

Kaveh Shirdel Nio Interaktion Fahrzeug

Gutes Stichwort: Jeder Mensch richtet sich sein Wohnzimmer anderes ein …

Ich verstehe, was Sie meinen. Wir versuchen natürlich, mit unserem Interieur-Design im Trend zu liegen. Farben, Materialien und Oberflächen müssen modisch modern sein. Wir wollen aber auch unsere eigene Identität entwickeln. Wir verfügen über ein breites Angebot an Ausstattungsoptionen, keine Frage. Ich denke aber auch, dass ein gutes Produkt Designtrends setzen kann. Ich bin ganz zuversichtlich, dass uns das mit unseren Fahrzeugen gelingt.

Ist es überhaupt möglich, den Geschmack asiatischer und europäischer Kunden gleichermaßen zu treffen?

Bislang mussten wir das noch nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es möglich ist, ja. Andere Autohersteller schaffen es auch, kommen aber oft über ihr Markenerlebnis, die Historie. Bei digitalen Endgeräten sieht man, dass sich ein Produkt weltweit mit einem Design verkaufen lässt. Wir werden bestimmt auf die eine oder andere nötige Anpassung stoßen, sobald unsere Modelle den chinesischen Markt verlassen. Aber als Designer freue ich mich darauf.

Schauen wir auf Ihre tägliche Arbeit: Besteht die Kunst eher darin, frische Designelemente hinzuzufügen oder üben Sie sich in Zurückhaltung und lassen lieber etwas weg?

Es ist immer besser, etwas wegzunehmen, wenn Sie mich fragen. Ich glaube, ich streiche in meiner täglichen Arbeit mehr, als ich hinzunehme. Die Dinge sollen so schlank und minimalistisch sein, wie es nur geht. Nur so kommt man aus dieser ingenieursgetriebenen Sichtweise raus, bei der man einen eigenen Knopf für jede Funktion hat. Wir haben über Komplexität im Fahrzeug schon gesprochen. Technologie ist für die Menschen heute eine gegebene Tatsache, die muss niemanden im Fahrzeug anspringen und sagen: Hier bin ich. Wir automatisieren stattdessen viel. Ein Beispiel: Ich habe sicherlich schon seit Jahren keinen Lichtschalter mehr im Auto benutzt. Der Schalter ist noch da, aber ihn benutzt niemand mehr. Das gleiche gilt für den Startknopf oder für die Neutralstellung am Gangwahlhebel. Wenn wir ein neues Produkt entwickeln, müssen wir uns von veralteten Prinzipien verabschieden. Ich stelle meinem Team immer die Frage nach dem Warum. Warum ist dort ein Knopf, warum muss das so aussehen? „Warum“ ist die Frage, die wir uns am häufigsten stellen. Mein Team hasst mich manchmal dafür (lacht).

Wie wichtig ist Ihnen der Grundsatz: „Form follows function“?

Das Prinzip ist elementar für mich. Das muss es im Automobilbau aber auch sein. Als UX-Designer muss ich eine Unmenge an technischen Anforderungen berücksichtigen. Natürlich spielt Ästhetik eine Rolle. Bedienung muss attraktiv und ein wenig verspielt sein. Das haben wir ja auch mit unserem Assistenten Nomi gezeigt. Die Form verändert sich natürlich, weil wir uns viel stärker als früher als Designer von Kommunikation verstehen. Aber was das Interieur im Gesamten betrifft, diktiert die Funktion ganz eindeutig das Design.

Hören, Sehen, Fühlen – welcher menschliche Sinn spielt für die UX-Entwicklung die größte Rolle?

Ich denke, es wird so multisensorisch wie nie zuvor. Das Sehen wird vielleicht etwas weniger wichtig, da wir in Zukunft wohl nicht mehr so viel selbst fahren werden. Aber Sprache zum Beispiel wird immer zentraler. Für uns ist die Sprachbedienung die erste Ebene der Interaktion. Das ist heute noch auf wenige Entertainmentfunktionen beschränkt. Aber in Zukunft werden wir mit dem Fahrzeug wie mit einem Menschen kommunizieren. Das wird meiner Ansicht nach die größte Disruption im Bereich der Bedienung sein.

Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz in diesem Zusammenhang?

Schauen Sie: Ein Passagier in einem Fahrzeug ist gewissermaßen für eine bestimmte Zeit in diesem Raum gefangen. Fast alles, was man als Insasse erledigen möchte, muss man über digitale Interaktion organisieren. Deshalb haben wir Nomi entwickelt, einen digitalen Touchpoint als Assistent für den Passagier. KI gibt uns die Möglichkeit, Funktionen zu kuratieren und zu aggregieren. Das ist für mich die wahre Stärke von künstlicher Intelligenz.

Ist es denkbar, dass Nomi eines Tages auch außerhalb des Fahrzeugs eine Rolle im Leben des Nutzers spielen wird? Bei Amazons Alexa verläuft die Entwicklung ja gerade andersherum.

Lassen Sie mich eins sagen: Zwischen Alexa und Nomi besteht ein zentraler Unterschied. Alexa ist für all das, was man im Ökosystem von Amazon tun kann, perfekt. Das sind die Use Cases, die Amazon hat und kennt und darauf ist Alexa perfekt trainiert. Aber wir befinden uns mit unserem Assistenten im Auto und wir fokussieren uns darauf, was Passagiere dort von einem digitalen Assistenten erwarten. Wir konzentrieren uns also erst einmal darauf, ein perfektes intelligentes Auto auf die Straße zu bringen.

Aber Sie schließen es nicht aus?

Ich würde mich freuen, wenn uns Nomi in Zukunft auch außerhalb des Autos begleiten wird. Teile davon nutzen wir bereits in unserer App. Aber grundsätzlich: Wir wollen unserem Assistenten die Mittel an die Hand geben, sich selbst zu entwickeln. Wir wollen sehen, in welche Richtung unsere Kunden Nomi tragen. Eine gute KI ist nicht von Beginn an voller Annahmen und Schlüsse. Eine gute KI entwickelt sich gemeinsam mit dem jeweiligen Nutzer. Also schauen wir, wo die Reise hingeht.

Schauen wir zum Schluss in eine autonome Zukunft: Nicht nur Passagiere sprechen mit ihren Fahrzeugen, auch die Autos untereinander müssen kommunizieren und ihre Absichten im Straßenverkehr deutlich machen. Wie bereitet sich Nio auf diese Zukunft vor?

Daran arbeiten wir tatsächlich sehr intensiv. Mit unserem Showcar Eve haben wir bereits einen Ausblick gegeben. Über ein ausgefeiltes Lichtdesign kommuniziert das Fahrzeug mit anderen Verkehrsteilnehmern. Wichtig ist aber auch, wie sich das Auto tatsächlich als Fahrer verhält. Das klingt trivial, ist aber von zentraler Relevanz. Wenn ich den Verkehr beobachte, dann achte ich als Passant darauf, wie ein Fahrzeug fährt. Aggressiv oder langsam? Schaut der Fahrer in den Spiegel? Hat er es womöglich eilig? Das hilft, um die Verkehrssituation einzuschätzen. In einem autonomen Fahrzeug fällt das weg. Und nicht zuletzt spielt in einem elektrischen Fahrzeug das Fahrgeräusch eine Rolle. Unser ES8 hat bereits einen eigenen Sound. Da wird in nächster Zeit noch viel auf der regulatorischen Ebene passieren.

Sie möchten gerne weiterlesen?