Thomas Mannmeusel

„Wir setzen uns immer seltener ein großes, weit entferntes Ziel. Stattdessen wollen wir einen messbaren Effekt in drei Monaten erreichen", sagt Thomas Mannmeusel über seine IT-Organisation. (Bild: Webasto)

Herr Mannmeusel, wie sehen Sie aktuell die Webasto-IT aufgestellt?

Wir haben in den letzten Jahren eine solide Basis erarbeitet – sowohl technologisch als auch organisatorisch. Wir sind eine globale, hochintegrierte IT-Organisation. Bildlich gesprochen arbeiten wir nicht mit einer Zentrale als „Kopf“ und den Standorten als „Arme und Beine“. Bei uns werden neue Lösungen im Headquarter in Stockdorf gemeinsam mit den Standorten entwickelt. Wir haben auch Teams in den Werken, die ganzheitlich für ein Thema verantwortlich sind. Durch dieses Setup gibt es eine enge Rückkopplung zwischen Zentrale und Standorten – das hilft uns an vielen Stellen. Gleichzeitig haben wir in den letzten drei Jahren verschiedene technische Disziplinen, die bei uns früher getrennt waren, zu sogenannten Produktteams zusammengeführt.

Wie hat man sich das vorzustellen?  

Ein Beispiel ist der digitale Arbeitsplatz. Früher hatten wir verschiedene Verantwortliche für Software, Hardware, Medientechnik, Betriebssystem und so weiter. Jetzt haben wir ein Digital-Workplace-Team, das gesamtheitlich für dieses Thema verantwortlich ist. Diese Mitarbeitenden sind sowohl für den Betrieb als auch für die Weiterentwicklung zuständig. Dadurch denken und entscheiden die Teams stärker aus Anwenderperspektive. Wir wollen nicht nur Technologie bereitstellen, sondern mit dem, was wir tun, Wirkung erzielen. Deshalb haben wir uns auch vor einem Jahr von „Information Technology“ in „Digital Solutions“ umbenannt. Das unterstreicht, dass wir weg wollen vom reinen Technologieaspekt, hin zu effektiven Lösungen.

Die vergangenen Jahre waren turbulent und sie sind es noch immer. Wie haben Sie die Resilienz der Webasto-IT geschärft?

Unser Augenmerk liegt inzwischen vor allem auf höherer Flexibilität. Daher haben wir zum Beispiel Projektlaufzeiten verkürzt beziehungsweise so strukturiert, dass nutzbare Zwischenergebnisse geliefert werden. Viele Projekte, die früher über ein oder zwei Jahre liefen, führen wir so nicht mehr durch. Die Wahrscheinlichkeit ist einfach zu hoch, dass nach einem halben Jahr eine Störung eintritt oder sich die Voraussetzungen gravierend verändern und das Projekt so nicht mehr fortgeführt werden kann. Nun geben wir die Themen quartalsweise frei und versehen sie mit klaren, messbaren Ergebnissen. Was uns darüber hinaus hilft, ist die angesprochene enge Verzahnung zwischen Standorten und Zentrale. Wir merken dadurch schneller, ob ein Ansatz funktioniert oder nicht.

Wie konnten Sie die Projektlaufzeiten verkürzen? Und warum war das früher noch nicht möglich?  

Im Wesentlichen ist unser IT-Team beziehungsweise unsere Arbeitsweise deutlich agiler geworden. Das bedeutet, wir setzen uns immer seltener ein großes, weit entferntes Ziel. Stattdessen wollen wir einen messbaren Effekt in drei Monaten erreichen und in den nächsten drei Monaten den nächsten und so weiter. Die Projekte müssen auch nicht direkt global ausgerollt werden. Wir starten oft an einem Standort, in einer Region oder mit einer bestimmten Abteilung. Wir prüfen als Organisation immer wieder mit einer bestimmten Anwendergruppe, ob etwas funktioniert oder nicht, und gehen dann den nächsten Schritt. Früher haben wir das anders gemacht. Da hatten wir die klassische Wasserfallplanung mit großen Anforderungsanalysen und umfassenden Projektplänen. Wie viele andere Unternehmen sind wir dann in die Projektorganisation gegangen und haben dann die festgelegten Schritte abgearbeitet. So arbeiten wir heute kaum noch und mussten uns dafür auch neu organisieren. Früher wäre das vermutlich auch möglich gewesen, die gesamte Umwelt war aber wesentlich weniger dynamisch und herausfordernd und wir mussten auch einen entsprechenden Lern- und Entwicklungsprozess durchlaufen, um dahin zu kommen, wo wir heute stehen.

Wir haben den Eindruck, dass viele CIOs derzeit die Verzahnung von IT und Business priorisieren. Das ist auch heute bereits angeklungen. Wieso ist dieser Punkt gerade jetzt so wichtig?

Das hat meines Erachtens vor allem damit zu tun, dass die Zeit, bis eine technische Lösung Wirkung zeigen muss, immer kürzer wird. Damit eine technische Lösung jedoch einen tatsächlichen Nutzen für das Geschäft eines Unternehmens bringt, brauche ich in der Regel Prozessänderungen, Organisationsanpassungen, und ich muss die Menschen mitnehmen. Wenn die Verantwortlichen diese Aspekte nicht im Blick haben, funktioniert es nicht. Früher wurden Projekte meist in einer klassischen Kunden-Lieferanten-Beziehung von der IT für andere Abteilungen umgesetzt. Eine Abteilung hatte Anforderungen, die über mehrere Iterationen abgeklärt werden mussten und zum Teil sogar über Service-Level-Agreements abgesichert waren. Das führte oft zu langen und ineffizienten Abstimmungsprozessen. Deshalb ist die enge Zusammenarbeit so wichtig.

Wo wir gerade beim Reflektieren der IT-Abteilung und der Digitalisierung sind: Sie sprechen gerne davon, dass es bestimmte „Glaubenssätze“ gibt, die hinterfragt werden müssen. Was genau meinen Sie damit?  

Ich bin jetzt seit 15 Jahren bei Webasto. Und auch bei uns gab es einige Paradigmen oder Leitsätze, die lange Zeit nicht hinterfragt wurden – sie galten einfach als gegeben. Ein klassisches Beispiel ist das sogenannte Global ERP-Template: Die Idee war, allen Standorten zentral entwickelte, sehr detaillierte und global verbindliche Lösungen beispielsweise für den Entwicklungsprozess oder die Produktion zur Verfügung zu stellen. Das war lange Zeit erstrebenswert und sinnvoll, weil wir in einer globalisierten Welt einheitlich arbeiten wollten. Ein globales Template bietet in diesen Fällen viele Vorteile. Seit einiger Zeit gibt es in vielen Teilen der Welt den Trend zur Abkehr von globalen Strukturen. Es entstehen zunehmend wirtschaftspolitische Blöcke mit verschiedenen rechtlichen Vorgaben, und auch die Kundenanforderungen werden differenzierter. Dadurch funktionieren globale Standards nicht mehr so wie früher. Ein Template, das die Anforderungen der chinesischen Kolleginnen und Kollegen erfüllt, ist in den USA vielleicht unbrauchbar und umgekehrt. Das heißt nicht, dass wir jetzt eine 180-Grad-Wende vollführen und Wildwuchs zulassen, wir müssen Prozesse und Lösungen aber modularer aufbauen und zielgerichtet kombinieren.

Zitat

„Um Wirkung zu erzielen, müssen Digitalisierung und Prozessmanagement aufeinander abgestimmt sein."

Thomas Mannmeusel, Webasto-CIO

Das ist ein spannender Punkt. Sie haben doch sicherlich noch weitere Beispiele …

Auch die Festlegung auf die Nutzung der Cloud ist so ein Thema. Viele Unternehmen haben sich stark darauf konzentriert – auch wir. Doch der Gang in die Cloud kann sehr teuer werden. Daher gehen wir nun differenzierter vor und bringen gewisse Workloads wieder auf On-Premise-Systeme zurück. Auch die Einschätzung der „Schatten-IT“, die früher als etwas Negatives galt, hat sich gewandelt und wird heute im Rahmen von „Citizen Development“ oder „Technologiedemokratisierung“ sogar gefördert. Ein weiteres Beispiel ist die erwartete Lebensdauer von Anwendungen. Früher planten Unternehmen den Einsatz eines ERP-System für 15 bis 20 Jahre. Heute rechnen wir mit deutlich kürzeren Nutzungsdauern. Ich kann mir vorstellen, dass wir künftig sogar „Pop-up-Apps“ haben, die nur ein- oder zweimal verwendet werden, beispielsweise um ein spezifisches Problem beim Serienanlauf zu lösen, und danach gar nicht mehr gebraucht werden. Sie sehen: Es ist wichtig, sich immer wieder zu fragen, ob bestimmte Prinzipien noch gelten. Das versuche ich seit Jahren konsequent zu tun.

Schauen wir auf Technologien: Wir befinden uns unzweifelhaft im Zeitalter der KI. Wie sieht denn der Einsatz von künstlicher Intelligenz bei Webasto aus?  

Das Thema KI ist auch bei uns sehr präsent. Wir arbeiten natürlich mit Sprachassistenzsystemen und haben zum Beispiel einen eigenen Chatbot im Support im Einsatz. Und gerade haben wir unsere erste konzernweite Challenge mit rund 120 Vorschlägen für KI Use Cases von Mitarbeitenden abgeschlossen – die meisten Vorschläge stammen nicht aus der IT. Das zeigt, wie groß das Interesse an KI im Arbeitsumfeld ist. Viele dieser Use Cases sind realistisch, durchdacht und mit relativ geringem Aufwand umsetzbar.

Und wo ist KI bereits in der Anwendung?  

Zum Beispiel in der Instandhaltung oder dem Customer Service unserer Aftermarket-Division. Wir haben Smart Assistants entwickelt, die dort bei der Fehlersuche und Diagnose helfen. Im Bereich Machine Learning machen wir in der Produktion und im Testing gute Fortschritte, aber wir lernen auch noch viel. Wir sammeln gerade Erfahrungen darüber, welche Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz von KI nötig sind und wann sie sich wirklich lohnt. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass nicht alle Probleme nur mit KI gelöst werden können. Manchmal reichen auch gut aufbereitete Daten, die wir mit herkömmlichen Analyse- und Visualisierungstools auswerten und aufbereiten. Es geht uns also nicht darum, zwanghaft KI einzusetzen.

Welche Rolle könnten KI und Automatisierung in Zukunft sogar in Bezug auf den IT-Betrieb selbst spielen?

Auf jeden Fall wird Automatisierung vor allem dann sinnvoll sein, wenn es um sehr komplexe Sachverhalte geht oder schnelle Reaktionen erforderlich sind. KI eignet sich hervorragend, um Muster zu erkennen, die wir als Menschen gar nicht erfassen könnten, oder um sehr große Informationsmengen zu durchsuchen und relevante Daten zu finden. Ein klassisches Beispiel aus unserem Bereich ist: Die Systemlandschaften werden immer komplexer und hybrider, sie verändern sich ständig. Diese Landschaften als Mensch zu verstehen, wird angesichts des Fachkräftemangels und der steigenden Komplexität zunehmend schwierig. KI-gestützte Werkzeuge können hier enorm helfen, indem sie Vorschläge machen oder sogar Entscheidungen treffen, beispielsweise eine Serverkonfiguration zu verändern. Die spannende Frage ist, ob wir irgendwann zu selbstheilenden Systemen oder Prozessen kommen, die Anomalien erkennen und automatisch eingreifen – ähnlich wie beim autonomen Fahren.

Demokratisierung von Digitalisierung ist heute bereits an einigen Stellen angeklungen. Citizen Development und Low-Code/No-Code sind nur einige Stichworte in dem Zusammenhang. Wie stehen Sie zur IT-Befähigung der Mitarbeiter im Unternehmen?

Die IT sollte immer ein Befähiger sein, nie ein Verhinderer. Wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter eine Aufgabe selbstständig lösen kann, ist das das Beste, was passieren kann. Natürlich gehört zur Befähigung auch die Vermittlung des Verständnisses für Datenschutz und Informationssicherheit. Die Kolleginnen und Kollegen mit Technologie-Know-how außerhalb des IT-Teams müssen sicherstellen, dass sie beispielsweise das System nicht lahmlegen, indem sie es beispielsweise mit einer falschen Datenbankabfrage überlasten. Es geht aber eher um Anleitung und nicht um Kontrolle. Viele Mitarbeitende haben bereits ein tiefes Verständnis für Datenschutz und Informationssicherheit und wissen, wie sie verantwortungsvoll mit digitalen Tools umgehen. Es ist erfrischend zu beobachten, dass der Generationenwechsel dazu beiträgt, diese Kompetenzen im Unternehmen zu verankern.

Wir haben eine konsistente Datenbasis schon angesprochen. Wie nah sind Sie bei Webasto an einer solchen „Single Source of Truth“?

Wenn man unter einer „Single Source of Truth“ eine konzernweite, einheitliche Datenbasis versteht, halte ich das für ein ziemlich ambitioniertes Ziel. Wir haben ein Datenmanagement-Framework entwickelt, das Daten aus den Quellsystemen semantisch vereinheitlicht und die Datenqualität sichert. Ob diese Daten dabei tatsächlich in einer zentralen Datenbank liegen, halte ich für sekundär. Wir konzentrieren uns auf bestimmte Domänen. Für jede Domäne gibt es Data Owner, die für die Datenobjekte verantwortlich sind. Sie legen fest, welche Qualitätskriterien gelten, welche Werte zulässig sind und wie aktuell die Daten sein müssen. Dabei geht es weniger darum, dass alle Daten genau an einem Ort liegen, sondern vielmehr darum, dass die Mitarbeitenden wissen, wo sie die relevanten Daten finden. Einen föderativen Ansatz halte ich für pragmatischer als eine zentrale Datenbank.

Zur Person:

Thomas Mannmeusel ist seit 2009 als CIO weltweit für die Informationssysteme von Webasto verantwortlich. Darüber hinaus leitet er seit 2015 die Bereiche Process Excellence und seit 2022 die globalen Shared Service Center des Konzerns. Nach seiner Promotion an der Universität Bamberg wechselte Mannmeusel zunächst zum Halbleiterhersteller Infineon. Dort hatte er bis 2005 verschiedene Projektmanagement- und Führungspositionen in den Bereichen Produktionssteuerung und Supply Chain Management inne, ehe er in die IT-Organisation des Konzerns wechselte – dort verantwortlich für die Themen Data and Analytics sowie IT-Strategie- und Architekturmanagement.

Sie sind neben Ihrer Position als CIO auch für die Prozesse und Shared Services bei Webasto verantwortlich. Lassen sich Prozessoptimierung und Digitalisierung überhaupt noch voneinander trennen?

Nein. Um Wirkung zu erzielen, müssen Digitalisierung und Prozessmanagement aufeinander abgestimmt sein. Wenn beides in einer Verantwortung liegt, können etwa agile Methoden im selben Rhythmus eingesetzt werden. Es ist vorteilhaft, wenn die Technologieentwicklung im gleichen Takt wie die Prozessentwicklung fortschreitet, um zu vermeiden, dass einer der beiden Aspekte zum Engpass wird.

Die IT und ihre Rolle im Unternehmen haben sich also unzweifelhaft in den vergangenen Jahren verändert. Wie aber sieht Ihre Prognose für die kommenden Jahre aus?

Ich denke, dass Abteilungsgrenzen und funktionale Strukturen in den nächsten zehn Jahren neu definiert werden. Aktuell versuchen wir, die komplexen Herausforderungen mit virtuellen Strukturen und Matrixorganisationen zu lösen – ein Versuch, die funktionale Abteilungsstruktur beizubehalten, aber trotzdem funktionsübergreifend zu arbeiten. Das ist eine Art Quadratur des Kreises. Ich glaube, dass wir Abteilungen künftig stärker lösungsorientiert organisieren werden. Entscheidend ist, dass wir die Kompetenzen aus verschiedenen Technologien und Prozessen bündeln, die wir für die Bereitstellung einer effektiven Lösung benötigen. Die IT wird dabei sozusagen das Betriebssystem eines Unternehmens bereitstellen: Einerseits als kompetenter Technologiepartner im engen Schulterschluss mit dem Business und andererseits als Betreiber einer sicheren und integrierten Plattform für den effizienten Betrieb von Lösungen.

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