Braucht die Autoindustrie ein digitales Frühwarnsystem?
Erfolgreiches digitales Obsoleszenzmanagement gelingt nur durch klare Prozesse und enge Zusammenarbeit entlang der gesamten Lieferkette.
(Bild: Adobe Stock / Daily Stock)
Ausfälle betreffen Lieferkette und den Lebenszyklus von Fahrzeugen. Obsoleszenzmanagement hilft, Risiken früh zu erkennen: Die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, proaktiv statt reaktiv zu handeln.
Mitunter wird es schon hakelig, wenn es Autobauern auch nur an Sitzbezügen mangelt, weil ein Zulieferer ins Straucheln gerät. Ganz zu schweigen von Ersatzteilen für betagte Fahrzeuge, die seit ein oder zwei Dekaden Kilometer schrubben. Noch spannender wird es, wenn über diesen Zeitraum softwaregetriebene Fahrzeuge – deren Elektronik, Halbleiter und Betriebssysteme – aktuell gehalten werden müssen. Zumal Produktneuheiten in immer schnellerer Schlagzahl kommen und die Marktbedingungen harscher werden, was nicht jeden Zulieferer überleben lässt. Wenn kurze Innovationszyklen auf lange Fahrzeuglebenszyklen treffen, dann verschärft sich das Problem der Obsoleszenz.
Obsoleszenz beim SDV bislang kein Thema
Also jener Situation, in der Bauteile oder Softwareversionen nicht mehr verfügbar, unterstützt oder zulässig sind. „Ein defektes mechanisches Teil für einen Oldtimer nachzubauen, wird vermutlich auch in hundert Jahren kein wirkliches Problem darstellen“, meint Axel Wagner, Vorstandsvorsitzender des Industrieverbands Component Obsolescence Group Deutschland (COGD) und Corporate Lawyer bei Asteelflash Germany. „Ein softwaredefiniertes Fahrzeug über viele Jahrzehnte ohne jegliche funktionelle Einschränkungen am Laufen zu halten, dürfte sich hingegen in vielen Fällen als echte Herausforderung erweisen.“ Das Thema Obsoleszenzmanagement habe aus Sicht des COGD in vielen Unternehmen der Automobilbranche bislang keine wirkliche Schlüsselrolle gespielt, so Wagner, „nicht zuletzt wohl auch wegen der vergleichsweise geringen statistischen Lebensdauer von durchschnittlich ‚nur‘ zwölf Jahren.“
Doch bereits in der Herstellung werden Engpässe immer brisanter. „In der extrem regulierten Automobilbranche kann dies schwerwiegende Konsequenzen haben: Produktionsstopps, hohe Redesign-Kosten oder Rückrufaktionen“, erklärt Michele Del Mondo, Senior Director Global Advisor Automotive bei PTC. „Sicherheitslücken, Reputationsverlust und technologische Rückständigkeit sind nur einige der Risiken, die beispielsweise durch nicht verfügbare Komponenten entstehen könnten“, unterstreicht eine VDA-Sprecherin. In einer Zeit, in der Fahrzeuge über Softwarefunktionen gesteuert, geschützt und aktualisiert würden, werde das Obsoleszenzmanagement zu einem zentralen Erfolgsfaktor für die gesamte Branche – es gehe schlicht darum, für ein resilientes Netzwerk entlang der Lieferkette zu sorgen.
Hinzu kommt: „Im softwaredefinierten Fahrzeug wird künftig nur noch eine Handvoll zentraler Steuergeräte sämtliche Funktionen übernehmen, wofür heute 100 und mehr nötig sind“, betont Del Mondo. Heißt: Statt eine Komponente auszutauschen, muss dann ein komplettes System getestet und validiert werden, was eben nicht auf die Schnelle machbar ist. „Während mechanische Bauteile oft über Jahrzehnte verfügbar bleiben, unterliegt die Elektronik einem rasanten Wandel“, unterstreicht Del Mondo, „Ohne digitales Obsoleszenzmanagement drohen ungeplante Mehrkosten und lange Standzeiten.“ Sie wandelt die bisher reaktive Risikominimierung in eine proaktive, datengetriebene Strategie. Wer frühzeitig in digitale Plattformen, vernetzte Systeme und Predictive Analytics investiert, reduziert nicht nur Kosten und Risiken, sondern stärkt auch seine Lieferfähigkeit und Marktposition nachhaltig.
Auf dem Weg zum datengetriebenen Frühwarnsystem
Obsoleszenz lässt sich nicht gänzlich vermeiden, aber es gibt Maßnahmen und Strategien damit umzugehen, um dem Worst Case vorzubeugen. „Die zentrale Herausforderung liegt in der Transparenz über den gesamten Produktlebenszyklus eines Fahrzeuges hinweg, denn das ist in wesentlicher Teil des Risikomanagements“, betont Del Mondo. Gleichzeitig stiegen die regulatorischen Anforderungen durch neue Normen und Richtlinien: „Ohne digitale Unterstützung ist dies kaum noch zu beherrschen.“ Über wesentliche Daten und Tools verfügten die Hersteller bereits, um aufwendige Redesigns oder teure „Last Time Buys“ weitgehend zu vermeiden: „Zentrale Datenbanken sind in der Lage, die Verfügbarkeiten und Lebenszyklen aller verbauten Komponenten zu erfassen“, sagt Del Mondo, „Durch die Vernetzung von PLM-, ERP- und ALM-Systemen entsteht ein durchgängiger Informationsfluss.“ So kommt Geschwindigkeit ins Krisenmanagement, wenn man etwa auf Knopfdruck sehen könne, welche alternativen Steuergeräte, die bereits zertifiziert sind, sowie die Anforderungen erfüllen, verfügbar sind und sofort freigegeben werden können. Doch oft mangelt es bei OEMs an dieser Transparenz.
Überdies ermöglichten digitale Zwillinge die Simulation von Szenarien, etwa bei Lieferantenausfällen, sagt Del Mondo: „Simulationen können auch dabei helfen, Entscheidungen über Redesigns oder Bevorratung fundierter zu treffen.“ Letztlich sorge eine durchgängige Digitalisierung des Obsoleszenzmanagements für ein datengetriebenes Frühwarnsystem – abseits des eher reaktiven Agierens mit Formularen.
Wie sieht eine Obsoleszenzmanagement-Strategie aus?
„Wie in vielen anderen Industriesegmenten auch, ist es aus Gründen der Risikominimierung künftig auch im Automobilsektor unerlässlich, schon in der Planungsphase jede einzelne in Frage kommende Komponente auf mögliche potenzielle Obsoleszenzrisiken hin zu untersuchen“, mahnt Wagner zu proaktivem Fehlteilmanagement bereits in der Design-in-Phase. „Das gilt sowohl für die einzelnen Hard- und Softwarekomponenten, als auch für deren funktionale Einbindung ins das Gesamtsystem.“
Mit der Digitalisierung kommt zunehmend Automatisierung des Risikomanagements ins Spiel: Es gebe bereits heute etliche Produkte und Services, die Part-Change-Notifications (PCN) oder End-of-Life-Mitteilungen (PDN) automatisiert verarbeiten, technische und organisatorische Maßnahmen vorschlagen und mit denen sich nicht nur der voraussichtliche Lebenszyklus einzelner Komponenten und deren aktuelle technische Parameter darstellen lassen, berichtet Wagner: „So kann mit diesen Tools beispielsweise auch der Status verschiedener Normen und Verordnungen wie etwa GADSL, RoHS, REACH, Conflict Minerals oder Biocid Regulations automatisiert überwacht werden - und es lassen sich mitunter auch mögliche Auswirkungen von Änderungen aufzeigen.“
Vier Säulen des digitalen Obsoleszenzmanagements
Erfolgreiches digitales Obsoleszenzmanagement gelingt durch klare Prozesse und enge Zusammenarbeit entlang der gesamten Lieferkette. Es sollte auf vier Säulen basieren:
- Unternehmensweite Workflows etablieren: Obsoleszenzmanagement darf nicht isoliert im Einkauf stattfinden, sondern muss Entwicklung, Qualität und Supply Chain einbeziehen.
- Frühzeitig mit Lieferanten kommunizieren: Digitale Plattformen ermöglichen, Abkündigungen schneller zu erkennen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
- Redesigns und Second Sourcing digital planen: Simulationen unterstützen die Entscheidung, ob und wann ein Bauteil ersetzt werden muss.
- Lagerstrategie datenbasiert optimieren: Safety Stocks oder „Last Time Buys“ können präziser geplant werden, um Über- oder Unterbevorratung zu vermeiden.