Eins ist wohl sicher: Im Engineering wird es nicht langweilig. Schon lange hat es die Entwicklung mit sich oft widersprechenden Zielvorgaben zu Gewicht, Funktion und Kosten zu tun: Design to Cost und Security werden nun noch um das Prinzip Design to Sustainability ergänzt. „Das Engineering muss sich hier seine Steuerungswirkung bewusst machen“, meint Philipp Wibbing, als Partner beim Beratungsunternehmen Unity zuständig für die Themen Engineering und Digitalisierung im Automotive-Umfeld.
„Bisher sind Ingenieure nur verantwortlich für die Produktsicherheit und die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben. Jetzt müssen sie eine neue Perspektive einnehmen: Woher kommen die Materialien in der Rohstoffgewinnungsphase, wo und wie erfolgt ein Recycling der in den Markt gebrachten Produkte?“, erklärt Christoph Herrmann, Institutsleiter an der TU Braunschweig und Professor für Nachhaltige Produktion & Life Cycle Engineering sowie Leiter des Fraunhofer IST. Das bedeutet: Das Engineering muss nicht nur ein Produkt entwickeln und produzieren, sondern auch dessen Flüsse über den Produktlebensweg gestalten. Dazu ist mehr Wissen über die Herkunft der Rohstoffe und die damit verbundenen Nachhaltigkeitsdimensionen erforderlich. Zudem brauchen Ingenieure neue Schnittstellenkompetenzen, um mit entsprechenden Spezialisten zusammenarbeiten zu können.
„Das sind neue Skills und die Digitalisierung ist ein wichtiges Hilfsmittel, um erforderliche Transparenz und ein ganzheitliches Systemverständnis zu erlangen“, meint Herrmann. Was hat das Produkt in seinen Produktlebensphasen erfahren, wie intensiv wurde es genutzt und belastet, wie stark sind die Komponenten und Material gealtert oder degradiert? Mit Software-Werkzeugen und den geeigneten Daten aus dem digitalen Zwilling oder Schatten können in Form von Modellen virtuelle Lebenszyklusszenarien durchgespielt werden. „Daraus ergibt sich, welche Entscheidungen im Design zu treffen sind, und vor allem, welche relevanten Stellhebel es überhaupt gibt“, erklärt Herrmann.
Nachhaltigkeit braucht datenbasierten Ansatz
„Es gilt, neue KPIs zu entwickeln und zu berücksichtigen, die sich auch für Berichte und Nachweise eignen, zum Beispiel um CO2-Emissionen früh abschätzen zu können. Wir sprechen jetzt nicht mehr nur vom Business- sondern vom Impact-Case“, sagt Lars Holländer, Produktmanager bei Unity und verantwortlich für die Themenbereiche Sustainability und Circular Economy. Allein in der Kreislaufwirtschaft gibt es mit den 10 R (Rethink, Repair, Reuse usw.) diverse Strategien. „Wir sehen, dass eine deutliche Umstellung im Mindset mit Verhaltens- und Prozessänderungen nötig ist“, meint Wibbing.
Zugleich zeige sich bereits bei bisherigen Veränderungsprojekten, zum Beispiel infolge der höheren Software-Komplexität: „Es bereitet viele Schwierigkeiten, auf die etablierten Prozesse, die hohem Zeitdruck unterliegen, ein zusätzliches Zielsystem oben drauf zu setzen. Die zweite große Herausforderung liegt darin, die Daten über die Lieferkette hinweg zu erfassen, weiterzugeben und beim OEM zu aggregieren“, konstatiert Wibbing. Scope 3 des internationalen Bilanzierungsstandards GHG Protocol bezieht sich auf die Emissionen, die über die vor- und nachgelagerte Wertschöpfungskette kommen und oft bis zu 80 Prozent eines Unternehmens ausmachen. Hier stellt sich insbesondere die Frage nach dem Datenaustausch.
Neue Aufgaben für PDM und PLM
Zu den wichtigsten involvierten IT-Systemen gehören PDM und PLM. PLM-Systeme müssten dort erweitert werden, wo es um die Rohstoffgewinnung-, Nutzungs- und Recyclingphase geht, meint Herrmann. Das gilt dort, wo Informationen zu Rohstoffherkünften einfließen und Recyclingquoten oder die Mengen an Sekundärmaterial im Produkt nachgewiesen werden müssen, wie es zum Beispiel beim Batteriepass geplant ist.
Das Konzept des Digital Twins dürfte entscheidend sein, um aus kreislauftechnischer Sicht konkrete Auskunft über ein Fahrzeug, dessen Nutzung und zum Beispiel ausgetauschte Komponenten zu geben. Zwar haben Initiativen wie Prostep Ivip viel zur Standardisierung im Datenaustausch zwischen OEMs und Zulieferern beigetragen. Doch beim Thema Nachhaltigkeit wird es aus Sicht der Experten noch stärker um die Zusammenarbeit in Unternehmensverbünden und Wertschöpfungsnetzwerken gehen. Nur so lassen sich echte Sustainability als auch Rentabilität stemmen.
Die nächste Stufe sind hier definitiv Datenräume wie Catena-X oder weitere auf Gaia-X und IDSA basierende Datenräume, die sich langsam mit Leben füllen. Das könne die neue Heimat der Daten sein, die über die Lieferkette ausgetauscht werden: „Künftig wird es wohl mehr als hundert Datenräume geben, darunter sicherlich auch ein dedizierter Engineering-Datenraum, in dem Wissen für übergreifende Konzepte ausgetauscht wird“, ist sich Wibbing sicher.
Neue Engineering-Skills werden zum einen materialspezifisch zu Batterie- und Zellchemie sowie rund um Verfahrenstechnik zur Nachhaltigkeit von Materialen gebraucht. Zum anderen muss der Hauptfokus auf den Daten liegen, die vom ersten Materiallieferanten an in einer nachverfolgbaren Kette durchgereicht, angereichert und modifiziert werden müssen. „Dafür braucht es ein Mindset, das darauf ausgerichtet ist, Daten zu generieren und sie zueinander in Beziehung zu setzen“, sagt Holländer. Zudem müsse das PLM-System mit Material- und Substance-Datenbanken verknüpft werden.
Nachhaltigkeit braucht Life Cycle Engineering
„Die größte Herausforderung liegt darin, dass das Systems Engineering jetzt noch einmal um ein Life Cycle Engineering ergänzt werden muss. Bisher zielte es vor allem darauf ab, Hardware, Software und Elektronik zusammen zu bringen“, glaubt Christoph Herrmann. Das Wissen um Ökobilanzierung werde zwar in aktuellen Studiengängen vermittelt. „Wir müssen aber auch diejenigen schulen, die schon im Berufsleben stehen und noch einige Jahrzehnte vor sich haben“, konstatiert der Experte.
Zwar seien die deutschen OEMs beim Thema Life Cycle Engineering mit Blick auf die Umweltdimension schon recht gut dabei, schätzt Herrmann. Vor den Zulieferern liege mit abnehmender Größe aber noch ein weiterer Weg. Derzeit stehe für alle Unternehmen die Aufgabe an, die Anforderungen aus einer sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit in die Engineering-Sprache hineinzubringen und konkrete Innovationsfelder abzuleiten: Nur so könnten Werkzeuge entstehen, die Ingenieurinnen in die Lage versetzen, Innovation hervorzubringen.
Und neue Ideen sind definitiv gefragt. Wie kann ein Design sowohl funktional als auch optisch frisch gehalten werden, wie können sich vielleicht Teile der Hardware, zum Beispiel für künftig höhere Rechenperformance, oder sogar des äußeren Designs austauschen lassen? „Hier ergeben sich spannende strategische Zukunftsoptionen für neue Fahrzeugkonzepte mit erweitertem Lebenszyklus, um substanziell beim Thema Nachhaltigkeit weiterzukommen – anstatt sich auf Minimalziele wie bessere Verschrottungsmöglichkeiten zu beschränken“, sagt Wibbing.
„Ein Konzept wie Cradle to Cradle ermutigt Unternehmen, einen positiven Fußabdruck zu hinterlassen und sich jenseits von Ökoeffizienz aus Einsparungssicht eher mit Ökoeffektivität zu befassen“, glaubt Holländer. Dazu gehört zum Beispiel der Aspekt, dass Langlebigkeit besonders nachhaltig ist. Für so manche Design-Entscheidungen könnte das bedeuten, dass der Rückwärtsgang eingelegt wird. Zum Beispiel, wenn aus Gewichtsgründen ein Plastikclip statt einer Schraube verwendet wird, der das Produkt jedoch kurzlebiger macht.