Die großen Automobilhersteller befassen sich schon seit Jahren mit Anwendungen der Digitalen Fabrik (DF). Heute ist die rasante Entwicklung von Modellen und Varianten mit vorhandenen Ressourcen ohne DF-Werkzeuge nicht mehr vorstellbar.
Das Ganze hat etwas von Second Life, der 3D-Welt aus dem Internet. Doch die Digitale Fabrik ist kein Spiel, sondern Teil der künftigen Planung bei den Autoherstellern. Wenn neue Anlagen vorab schon virtuell in Betrieb genommen werden, liegen die Einsparungspotenziale hinsichtlich Zeit und Kosten, aber auch der Qualitätszuwachs auf der Hand: Funktionieren die SPS wie gedacht? Wo passt es nicht mit der Ergonomie für die Mitarbeiter? Eine Reihe von Fehlern lässt sich so schon im Vorfeld ausklammern – statt kostenintensiv in der Praxis behoben zu werden. Volkswagen geht hier mittlerweile noch einen Schritt weiter und verbindet die unterschiedlichen Gewerke wie Gebäude-, Förder- und Versorgungstechnik sowie die Elektrik bereits in der 3D-Simulation, so dass sich bauliche Fehler vor der Umsetzung ausschließen lassen. Die Technik ist so weit: „In der Zwischenzeit wurde ein Reifegrad erzeugt, der einen flächendeckenden Einsatz der DF-Werkzeuge in den klassischen Feldern der Digitalen Fabrik – wie 3D-Planung und -Absicherung, Austaktung sowie Ablaufsimulation – erlaubt. Seitens der Hardware sind kaum mehr Restriktionen darstellbarer Modellgrößen vorhanden“, sagt Rainer Eißrich, Leiter Digitale Produktionsplanung bei Daimler. Die steigende Anzahl von Produktvarianten ist nach Ansicht von Experten auf Sicht ohne Standardtools nicht mehr zu bewältigen, denn auch beim Umrüsten und Verschieben von Maschinen hilft die virtuelle Fabrikplanung. „Der Zeitgewinn liegt vor allem in der Parallelität
der Planungsphasen – was früher sequenziell erledigt wurde, zum Beispiel mechanisches Design, Elektroplanung und SPS-Programmierung, findet heute weitgehend gleichzeitig statt. Auch die steigende Zahl der (späten) Änderungen lässt sich leichter in Planungswerkzeugen verkraften. Der Planungsaufwand wird nicht unbedingt geringer – der Anlauf kann im Sinne der schnellen „Time to Market“ aber zeitlich vorweggenommen werden“, meint Olaf Sauer, verantwortlich für den Bereich Leitsysteme beim Fraunhofer IITB.
„Für Daimler ist die Digitale Fabrik ein ganz wesentlicher Stellhebel für Effizienzin der Planung, frühzeitige Qualitätsabsicherungder Produktionsprozesseund Optimierungen in der Anlaufphase.Fahrzeugplanung wird ohne dieDigitale Fabrik nicht mehr denkbar sein“,so Eißrich. Daimler setzt DF-Anwendungenin den Kernbereichen Rohbau-,Montage- und Logistikplanung in allenFahrzeugprojekten produktiv ein. Auchim Volkswagen-Konzern, der mittlerweileneun Marken unter seinem Dach vereint,ist ein Leben ohne die Digitale Fabrikmittlerweile undenkbar: So wollendie Wolfsburger im Zuge ihrer Strategie„Mach 18 plus“ im Jahr 2018 den Absatzder Marke Volkswagen auf 6,6 MillionenFahrzeuge pro Jahr steigern, 2008waren es 3,67 Millionen. Hinzu kommteine Vielzahl neuer Modelle, schon heutestemmt allein die Marke Volkswagenjährlich rund 20 Neuanläufe. Da ist – bei etwa gleichbleibenden personellen Ressourcen– IT-gestütztes Produktivitätswachstumgefragt. „Jedes Fahrzeug mussmit allen Prozessen und Anlagen neu indie Fabrik eingebracht werden. Das gehtnur mit Digitaler Fabrik“, sagt Roy Sauer,Leiter des Projekts Digitale Fabrik/Produktionsplanungin der Konzern-IT vonVolkswagen. Schon jetzt setze man einMehrfaches der früheren Modellzahlenmit der bestehenden Mannschaft um.Beispiel für gelebte Digitale Fabrik: Beim neuen Fabrikprojekt in Chattanooga, Tennessee, vergingen von der Standortentscheidung bis zu den ersten Erdbewegungen nur neun Monate.
„Teilweise findet noch kein ausreichender Abgleich zwischen der Planungund dem real ausgeführten Projektstatt“, sagt Olaf Sauer. Er rechnet damit,dass die nächste oder übernächste DFGenerationeinen Durchbruch beim standardisiertenDatenfluss zwischen denSystemen bringt. Aus der Praxis gibt esjedoch wenig Klagen: „Die Stücklistenund Prozesspläne fließen aus der Planungdirekt in die operativen Systeme,und auch in anderer Richtung findet einDatenaustausch statt – zum Beispiel Informationenüber die Maschinenlaufzeitenund die Anzahl von Störungen“, soRoy Sauer. Das Ende der Fahnenstangesei hier jedoch noch nicht erreicht. „Esgibt noch Optimierungspotenzial: dieRückführung von Informationen aus denManufacturing-Executive-Systemen indie Simulation. Damit ließe sich, vergleichbarmit dem Wetterbericht, eineVorhersage machen, wie der Fertigungsstandin zwei Wochen aussieht“, sagtDieter Geckler von der Produktionsplanungbei Volkswagen. Statt auf selbstgebauteInsellösungen setzt der Volkswagen-Konzern weltweit auf durchgängigeStandards. Nur im Bereich der Schnittstellenund der Benutzeroberflächen sindAnpassungen möglich. Auch nach Ansichtvon Eißler gibt es durchaus nochWeiterentwicklungsbedarf, nicht nurbeim Thema 3D-Absicherungen: „Es gilt,die Lücke in der Prozesskette zu den Werkenim Sinne des kontinuierlichen Verbesserungsprozessesüber den gesamtenProduktions-Lifecycle eines Fahrzeugeszu schließen. Handlungsbedarf sehenwir zudem in der Integration der Zuliefererkette,insbesondere auch von Zuliefererzu Zulieferer“, erklärt Rainer Eißrich.
Für die Zulieferer liegen im Thema DF erhebliche Differenzierungschancen,von ihnen kommt aufgrund ihrer höherenBeweglichkeit auch ein Gutteil derDF-Innovationen. Zum einen werden derEinsatz von DF-Werkzeugen und die Fähigkeitzum entsprechenden Datenaustauschimmer stärker zur Voraussetzungfür die Zusammenarbeit mit den Automobilherstellern.Zum anderen: Wohindie OEMs auch gehen, die Zuliefererfolgen. Märkte wie China, Russland, Indienund Brasilien sind im Kommen – derUmsatz wird künftig in anderen Teilender Welt generiert. Der Zeit- und Kostendruckgilt gleichermaßen für mittelständischeZulieferer. DF-Anwendungensind nicht mehr so kostenintensiv wienoch vor Jahren, für vieles reicht ein PCstatt teurer Spezialhardware. Die OEMssind nach eigenem Bekunden bestrebt,gemeinsame Standards zu schaffen, beispielsweiseim Rahmen der ArbeitsgruppeDigital Factory. Dazu zählen Ansätzewie AutomationML, eine an XML angelehnteSprache, die den standardisiertenDatenaustausch zwischen Engineering-Systemen fördert. Neben der Standardisierungim Datenaustausch hat Volkswagenauch andere Standards im Sinn:In den nächsten Ausbaustufen der DigitalenFabrik sollen Mehrmarkenfabrikenunterstützt werden, in denen parallelverschiedene Fahrzeugmodelle unterschiedlicherMarken gefertigt werdenkönnen. Basis dafür: die weitreichendeStandardisierung aller Prozesse.