Das vergangene Jahr war für die Automobilindustrie kein gutes Jahr. Daran konnten auch die von Volkswagen und Porsche im Endspurt gemeldeten Volumensteigerungen nichts ändern. Der Internationale Währungsfonds sieht viele Volkswirtschaften weiterhin im Abschwung. Gewinnwarnungen, Kurzarbeit und Abfindungsprogramme bei Herstellern, Zulieferern und Ausrüstern dominieren die Schlagzeilen. Eine Prognose lautet: Das traditionelle Geschäftsmodell wird unter Druck bleiben. Nicht nur aufgrund der aktuell weltweit grassierenden Corona-Pandemie, sondern weil niemand in der Branche den Veränderungen in der automobilen Wertschöpfung wirklich etwas entgegenzusetzen hat.
Traditionelle Produktionsprozesse fallen aus der Zeit
Festgefügte Firmenkooperationen und eine ausgeklügelte Kompetenzverteilung bildeten jahrzehntelang den stabilen Backbone in der deutschen Fertigungsindustrie. Heute hat dieser Ansatz aus dem 19. Jahrhundert ausgedient und muss auf breiter Front digitalen Ökosystemen und flexiblen, hochdynamischen Netzwerken weichen. Öffentlich wird die Einsicht, dass dieser Wandel notwendig ist, stets beteuert und gerne medienwirksam mit digitalen Lösungen aus einem ausgegliederten Innovation-Lab untermauert. Zum Beispiel gibt es jede Menge Apps für die Smart Factory und neue Softwarelösungen, um Daten aus dem Fahrzeug zu generieren.
Doch dadurch stellt sich nicht automatisch ein Mehrwert ein. Kein Ingenieur kann ihn festlegen, keine Marketingabteilung verkaufsfördernd bewerben – in Zeiten der Digitalökonomie entscheiden allein Kunden und Nutzer, wofür sie tatsächlich bereit sind zu zahlen. „Digitalisierung wird noch immer zu stark als technologisches Thema begriffen. Ohne den Menschen ist zukunftsfähige Digitalisierung jedoch nicht umsetzbar“, bekräftigt Thomas Thiessen von der Business School Berlin und Leiter des Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrums Kommunikation. Sein Appell zielt in zwei Richtungen: nach innen, um die Belegschaft für die Digitalisierung zu gewinnen, und nach außen, um Kunden mit neuen Services zu begeistern. Keinesfalls dürfen Unternehmen, die digital erfolgreich sein wollen, allzu lange im Hier und Heute verhaftet bleiben.
Klingt banal, in der Corporate-IT aber ist das ein Riesenfass: Die Legacy-Welt aus Software, Hardware, Daten, Telekommunikation und Rechenzentren stellt für neue Anwendungen nicht eben eine ideale Startrampe dar. Im Gegenteil: „Oft erschwert es das Erbe der alten IT-Landschaften, das Nutzenpotenzial von Innovationen voll auszuschöpfen, sie zu skalieren. Die alte IT-Infrastruktur ist vielfach ein schwerer Rucksack am Weg zur Wertschöpfung“, weiß Michael Zettel von Accenture Österreich.
Plattformen bestimmen die Zukunft
Tatsächlich hemmen monolithische Systeme den Wechsel in die Cloud. Big Data, KI und Co. können ihr Potenzial nicht richtig ausspielen. Der eigentliche Punkt aber ist: Bei einer digitalen Wertschöpfung hat man es nicht länger mit international verwobenen Wertschöpfungsketten aus Zulieferern, Maschinenteilen und Vertriebsgesellschaften zu tun. Künftige Geschäftsmodelle wie Mobilitätsservices und dergleichen bestehen im Kern aus einer Plattform – über sie werden online Dienstleistungen vermittelt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Wertschöpfung besteht aus einer Kombination von Nutzerinteraktionen, Daten und Netzwerken. Genauer gesagt: Über die Interaktionen der Nutzer untereinander entsteht aus den Daten Wissen. Mit ihm steuert und verbessert ein durch und durch digital aufgestelltes Unternehmen sein Angebot permanent – beispielsweise indem es selbstlernende Programme mit immer mehr Daten füttert. Das weiterentwickelte Produkt kann etwa in ein immer besseres Matching zwischen Angebot und Nachfrage münden. Wichtig ist: Die Nutzer sind nicht nur Konsumenten, sondern gleichzeitig mehr oder weniger direkt als „Prosumenten“ an der Produktion oder Verbesserung eines Produkts beteiligt. „Interaktionen von Nutzern mit der Plattform und anderen Nutzern sind eine Grundvoraussetzung für die Wertschöpfung digitaler Geschäftsmodelle“, verdeutlicht ein Policy Paper der Bertelsmann-Stiftung.
Veränderungsdruck treibt OEMs um
In der Automobilbranche sind solche Beispiele – auch in kleinerem Rahmen – rar. Michael Brecht, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats und stellvertretender Aufsichtsratschef der Daimler AG, bringt seine Sorge offen zum Ausdruck: „Wir werden künftig unsere Produkte und Dienstleistungen in hohem Maße mit digitalen Werkzeugen entwickeln, erstellen und betreiben. Es geht um Plattformen, um die vernetzte Mobilität der Zukunft und individualisierte Lösungen, die weit über unser heutiges Kernprodukt Automobil hinausgehen. Aus meiner Sicht aber ist die Daimler-Belegschaft organisatorisch, kulturell und technisch noch nicht auf den großen Bruch vorbereitet, der uns erwartet.“
Zu den Anforderungen, auf die Daimler und andere Unternehmen aus der Automotive-Branche eine Antwort finden müssen, zählt vor allem die hohe Veränderungsgeschwindigkeit. OEMs und große Zulieferer ticken noch zu stark im Lebenszyklus einzelner Modellreihen. In der Branche sind das typischerweise um die sieben Jahre. In der Digitalökonomie ist das eine Ewigkeit.
Bilder: Volkswagen, Illustration: Andreas Croonenbroeck