autoMOTIVES – Der Live-Webcast
In der ersten Folge unseres redaktionellen Webcasts wird Peter Mertens an einer Paneldiskussion zum Thema Innovationslabore teilnehmen. Wie können Ideen auf die Straße gebracht und Innovationen mit Skalierungspotenzial ins Stammportfolio überführt werden? Am 25. März erfahren Sie mehr – Melden Sie sich kostenfrei an!
Herr Mertens, einige Autohersteller haben enge Entwicklungspartnerschaften mit großen IT-Konzernen geschlossen, andere wollen eigene Betriebssysteme entwickeln, wieder andere konzentrieren sich auf den Fahrzeugbau und kaufen Software zu. Welcher Ansatz verspricht langfristig das beste Ergebnis?
Das ist die Zehn-Milliarden-Dollar-Frage. Langfristig ist es sicher erforderlich, dass Automobilhersteller in der Lage sind, Software selber zu entwickeln. In den letzten Jahrzehnten waren die strategischen Entscheidungen auf OEM-Seite stark kostengetrieben. Man hat immer mehr Wertschöpfungsanteile an starke Zuliefer- und Dienstleistungspartner abgegeben, weil man glaubte, die könnten das besser und preisgünstiger. Speziell in der IT hat sich gezeigt, welche Nachteile mit aufwendigen Bestellprozessen und der bloßen Steuerung von Projekten in der Anwendungsentwicklung verbunden waren – man büßte Tempo ein und verstand die Software-Architekturen und eingesetzten Technologien im Detail nicht mehr. Die Folge waren Zeitüberschreitungen, fehlende Funktionalität, Unzufriedenheit bei den Anwendern im Fachbereich sowie oft eine Überschreitung der Budgets.
Wie sieht der Gegenentwurf aus?
Sehen Sie sich Tesla an: Nicht alles in diesem Unternehmen findet meine ungeteilte Zustimmung. Aber es gibt vieles, von dem die traditionelle Autoindustrie durchaus lernen kann, zum Beispiel die vertikale Integration. Tesla hat von Beginn an verstanden, wie wichtig es ist, zukunftsrelevante Bereiche wie Software und Elektronik inhouse zu halten und durchgängig selbst zu entwickeln. Strategische Partnerschaften, wie sie Daimler mit Nvidia oder Volkswagen mit Microsoft geschlossen haben, führen meiner Meinung nach in den Untergang, wenn sie zur Folge haben, dass sich die OEMs zurücklehnen und auf ihr Kerngeschäft Autobau konzentrieren. Es kommt kein Knowhow- und IP-Transfer in Gang. Um es ganz klar zu sagen: Die Entwicklung neuer Modelle muss mit der Software starten. Darin sehe ich eine Kernkompetenz für jeden Automobilhersteller.
Applikationen selbst zu entwickeln ist das eine. Ein komplettes Betriebssystem für das Fahrzeug zu bauen, das andere. Macht dieses Bestreben, wie es Volkswagen und Mercedes-Benz formuliert haben, Sinn?
Nein, es kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, dass nun jeder Hersteller versucht, ein eigenes Betriebssystem für seine Pkw-Marken aus dem Boden zu stampfen, einzig in dem Bestreben, Teile der Wertschöpfung in die eigenen Reihen zu halten. Smartphones, Games, Streamingangebote – egal, welches Segment Sie sich ansehen: Überall finden Sie nur zwei starke Player, die sich am Markt durchgesetzt haben. Und das aus gutem Grund: All die heterogenen Systeme, die jetzt entstehen sollen, müssen gepflegt und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Das verschlingt Unsummen von Geld, ohne dass Profit erwirtschaftet wird. Deshalb wünsche ich mir eine Open-Source-Entwicklungsinitiative der deutschen Automobilindustrie, besser noch eine auf europäischer Ebene – aber ich weiß natürlich, dass dies naiv und unwahrscheinlich ist.
Sind die Bordnetze und die IT-Strukturen im Backend den Herausforderungen gewachsen, die beispielsweise mit dem autonomen Fahren und einem Plus an digitalen Diensten Hand in Hand gehen?
Die Unternehmens-IT und das Backend sehe ich nicht als Flaschenhals. Die erforderliche Technologie ist verfügbar und wird beherrscht. Im sogenannten Smartphone auf Rädern aber hakt es noch ganz gewaltig. Über 100 Jahre lang haben wir immer aufwendigere Geometrien konstruiert, Clay-Modelle erstellt und dann das Blech entsprechend gebogen. Seit einigen Jahren versuchen wir nun zudem, Hochleistungscomputer und Software zu integrieren, und erkennen langsam, wie fehleranfällig das Planungsprinzip Outside-in ist. Wenn man sich immer nur daran orientiert, was im Produktregal bereits verfügbar ist – seien es nun Systeme auf Chipbasis oder Algorithmen und Datenstrukturen –, entsteht nichts Neues. Nur ein Hersteller ist als Newcomer sozusagen auf der Gegenspur unterwegs – das ist Tesla. Die denken und definieren ihre Modelle von der Elektronikplattform und der Software her und bauen dann das Blech herum. Mit diesem Ansatz fällt es offensichtlich erheblich leichter, softwarebasierte Dienste aufzusetzen und beispielsweise Over-the-Air-Updates für das Infotainmentsystem anzubieten.
Welche Bedeutung messen Sie dem Einsatz digitaler Zwillinge zu – in der Entwicklung als auch während der späteren Betriebsphase?
Digital Twins sind wichtig, weil ich sie in zweierlei Hinsicht einsetzen kann. Zum einen sorgen sie beispielsweise im Umfeld des autonomen Fahrens für die erforderliche Systemredundanz bei Hardware und Software. Oder ich nutze die Technologie, um den gigantischen Datenpool mit unterschiedlichen Fahrsituationen, Verkehrsdaten und Umfeldinformationen zu spiegeln und intelligent zu verwalten. Dass Tesla in jedem seiner verkauften Modelle Betaversionen mitfahren lässt, um neue Software-Releases zu trainieren, haben die traditionellen Autobauer so nicht auf dem Schirm.
Welche Veränderungen sollten Hersteller in ihrer Organisation anpacken, damit Produkt-IT und Unternehmens-IT bestmöglich kooperieren können?
Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob die bestehenden Strukturen bei den OEMs die eigentlich notwendige enge Kooperation überhaupt zulassen. Tatsächlich verfügt die Unternehmens-IT über einen ungeheuren Erfahrungsschatz, den sie über viele Jahrzehnte hinweg stetig angereichert hat. Dieses Knowhow über Softwaresysteme und IT-Architekturen sollte viel intensiver genutzt werden. Eine stabile Verbindung zwischen der Corporate-IT und den Fahrzeugsystemen erscheint unverzichtbar. Doch jetzt passiert Folgendes: Ob Volkswagen oder Bosch – alle ziehen plötzlich ihre Software-Ressourcen in neuen Organisationseinheiten zusammen, vergessen aber, die Schnittstellen zur Unternehmens-IT zu definieren. Und statt kleiner autarker und agiler Teams arbeiten plötzlich tausende von Mitarbeitern an Themen, die sich sehr schnell drehen. Ob das in Zeiten von Rapid Prototyping zielführend ist, bezweifle ich. Ich muss mich heute doch am konkreten Use Case orientieren, daran, was der Kunde am Ende im Fahrzeug erleben soll. Mit großen Softwareschmieden, die als eigenständige Unternehmen organisiert sind und sich an meterdicken Lastenheften abarbeiten, ist das nicht zu schaffen.
Und zu einer Verkürzung der Entwicklungszeiten trägt dieser Ansatz auch nicht bei.
Natürlich nicht. Es wäre sehr viel klüger, würde die Unternehmens-IT von Teilen ihrer aufwendigen Betriebstätigkeit entlastet. Ein gutes Beispiel ist die Produktdokumentation, die bei vielen Herstellern statt in flexiblen Cloudumgebungen noch immer auf uralten Cobol-Mainframes läuft. Alle IT-Experten stellen sich verzweifelt die Frage, wie lange es dafür noch Ersatzteile und Programmierer geben wird. Dieser gordische Knoten gehört mutig zerschlagen und die Produktdokumentation neu aufgesetzt. Statt veraltete Stücklistensysteme zu pflegen, könnte die Unternehmens-IT dann ihre Ressourcen und Kompetenzen nutzen, um zum Beispiel die Technische Entwicklung massiv mit softwaregestützten Simulationstools dabei zu unterstützen, die Dauer von Entwicklungsprojekten von 36 Monaten auf unter 20 Monate zu drücken.
Aus der Sicht eines ehemaligen Entwicklungschefs: Welche Wünsche und Vorstellungen würden Sie heutzutage an einen CIO richten?
Ich habe mir immer eine durchgängig attribuierbare Stückliste gewünscht. Ich weiß: Das klingt schrecklich dröge. Aber eine intelligente Produktdokumentation ist die Urmutter aller Dokumentationen und Steuerungssysteme in einem Automobilunternehmen. Hätten wir einzelne Software-Releases mit einer eigenen Teilenummer auszeichnen können, wäre das genial gewesen. Und natürlich kann es in der Fahrzeugentwicklung niemals genügend Tools geben, die Simulationen und eine automatisierte Validierung unterstützen.
Ein OEM, der in Sachen Software und digitales Fahrzeug vieles richtiggemacht hat, ist Tesla. Jetzt kommen die Kalifornier nach Brandenburg und zeigen deutschen Herstellern vor der eigenen Haustür, wie man eine E-Autoproduktion in kürzester Zeit hochzieht. Welche Signale kommen in Stuttgart, München und Wolfsburg an?
Das ist ein Warnschuss und ich weiß, dass inzwischen die gesamte Automobilbranche mit Respekt darauf schaut, was Elon Musk mit Tesla erreicht hat. Durch die Kostenbrille betrachtet hätte er mit seiner Gigafabrik irgendwo in Osteuropa aufschlagen müssen, wo die Löhne niedriger sind und der Einfluss der Gewerkschaften nicht so stark ist wie 60 Kilometer von Berlin-Mitte entfernt. Aber auch diese Entscheidung zeigt, dass Elon Musk nicht in Kostenstrukturen denkt, sondern in Innovationen. Insidern zufolge war neben Berlin noch Paris als Produktionsstandort auf der Shortlist, weil die Nähe zu einer europäischen Metropole wichtig ist, um die Marke Tesla in einem Markt fest zu verankern.
Auf der anderen Seite aber häufen sich Fälle, in denen von großen Mängeln an Tesla-Modellen berichtet wird. Akzeptiert die neue Kundschaft Fehler an der Hardware ebenso wie mangelhafte Software? Oder hat auch Tesla schlicht noch zu lernen?
Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass Apps auf dem Smartphone nicht immer von Anfang an optimal laufen. Auch Tesla-Fahrer, die mit einer Funktion unzufrieden sind, hoffen einfach darauf, dass sie schnell ein Update erhalten, das die Mängel behebt. Diese Denke ist in der Softwareindustrie gelebt und akzeptiert, aber Tesla kann sie nicht eins zu eins auf die Hardware übertragen. Dem Wunsch, eine möglichst hohe Stückzahl an Neufahrzeugen zu produzieren, darf die Verarbeitungsqualität nicht untergeordnet werden. Es mag ja sein, dass Tesla-Kunden diesbezüglich bislang weniger kritisch sind. Trotzdem sollte Musk alles tun, das schnell und dauerhaft in Ordnung zu bringen. Lieber pro Quartal einige tausend Fahrzeuge weniger auf die Straße bringen, die dafür aber in 1A-Qualität.
Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Lage von Herstellern und Zulieferern gegenwärtig ein? Ist die corona-bedingte Krise eher eine existenzielle Bedrohung oder vielleicht doch eine Chance für Innovationen?
Beides ist der Fall. Die Corona-Pandemie hat etwas, was ohnehin gekommen wäre, beschleunigt und verstärkt: die Notwendigkeit, alle Unternehmensprozesse durchgängig zu digitalisieren. Zudem stehen die Automobilhersteller und ihre Lieferanten vor einem gigantischen Berg wirtschaftlicher Herausforderungen und durchleben eine extrem disruptive Phase, in der sie mit neuen Technologien und neuen Wettbewerbern klarkommen müssen. Wer jetzt die richtigen Entscheidungen trifft, hat die Chance, seine Marktposition zu sichern und sogar auszubauen. Es braucht den Mut, sich zu fokussieren und die Budgets entsprechend neu zuzuschneiden. Elektromobilität, autonomes Fahren, softwaregestützte Services – das sind die Entwicklungsthemen, die gestärkt werden müssen.
Diese sind aber längst noch nicht überall in den Unternehmen angekommen.
Richtig. Nach allem, was ich zu hören bekomme, liegt der Fokus nicht immer allein auf diesen Zukunftsthemen. Statt voranzuschreiten, machen einige Unternehmen ja sogar einen Schritt zurück: Jobabbau, gekürzte Budgets, neue Kostensparprogramme. Der Impuls, in Krisenzeiten immer und ewig denselben Mechanismen zu vertrauen, ist nach wie vor stark ausgeprägt. Mit einer solchen Einstellung lässt sich Zukunft nicht gestalten.
Zur Person:
Peter Mertens leitete die Technische Entwicklung der Audi AG in Ingolstadt, bevor er 2018 das Unternehmen aus gesundheitlichen Gründen verließ. Nach einer Ausbildung zum Werkzeugmacher studierte Mertens an der Hochschule in Ostwestfalen-Lippe Produktionstechnik und machte 1985 seinen Master of Science in Industrial Engineering and Operations Research am Virginia Polytechnic Institute in den USA. Danach leitete er die Abteilung Technologietransfer an der Universität Kaiserslautern und promovierte dort 1990 zum Doktoringenieur. Seine erste Station in der Autoindustrie war Mercedes-Benz. In den Folgejahren war Mertens für Opel und GM Europe tätig, wechselte Ende 2010 in das Management Board von Jaguar Land Rover und übernahm in Personalunion die Leitung der Corporate Quality für die gesamte Tata Motors Group. Ab März 2011 war er Senior Vice President Research and Development der Volvo Car Corporation. Heute sitzt er in mehreren Aufsichtsräten und engagiert sich als Startup-Investor.