Ein Universum das aufgeteilt ist unter Android sowie Daimler und Volkswagen.

Im Frühling diesen Jahres kursierten Gerüchte, dass Daimler und Volkswagen bei der Softwareentwicklung an einem Strang ziehen wollen. (Bild: iStock/Just_Super)

In der Geschichte der Software ging es in Sachen Betriebssysteme eigentlich immer nur um eine Entweder-oder-Entscheidung in einer polarisierten Welt zweier Giganten. In der PC-Industrie schworen in den vergangenen 30 Jahren – abgesehen vom Open-Source-System Linux – die einen auf Microsoft Windows, die anderen auf Apples MacOS. Bei mobilen Endgeräten lautet die Gretchenfrage heute eigentlich nur noch: Googles Android oder Apples iOS. Die Bipolarität des Software-Universums unterstreichen Marktzahlen eindrucksvoll.

Herrschaftsansprüche der Autohersteller

Wesentlich komplexer könnte sich der Wettbewerb im Automotive-Sektor künftig darstellen. Das geflügelte Wort des „Smartphone auf Rädern“ insinuiert, dass sich einer der Titanen aus dem Big-Data-Kosmos die zentrale Softwareplattform im Fahrzeug unter den Nagel reißt und sämtliche Points of Interest in der automobilen Wertschöpfungskette über die eigene Architektur abwickelt. Doch ein Auto ist kein originäres Produkt aus der Unterhaltungselektronik. Hier prallt der datengetriebene Digital-Komet auf die Herrschaftsansprüche der großen Automobilhersteller, die ihrerseits den Wandel zu Softwareunternehmen schaffen wollen, verbunden mit dem Aufbau eigener Plattformen.

Allen voran Volkswagen. Die Wolfsburger vollzogen vergangenes Jahr mit Gründung der Car.Software.org (CSo) nicht nur die Ausgliederung einer eigenen Geschäftseinheit samt Konzernvorstand für Software. Zugleich kündigte man großspurig an, in den nächsten fünf Jahren konzernweit eine einheitliche Softwareplattform mit allen Basisfunktionalitäten für alle Fahrzeuge aller Marken aufzubauen – ein VW.OS, angedockt an die Automotive Cloud, die die Wolfsburger zusammen mit Microsoft entwickeln.

Volkswagen investiert in Softwareeinheit

Es geht Volkswagen darum, das unübersichtliche Geflecht aus mehr als 70 Steuergeräten mit Betriebssoftware von mehr als 200 Zulieferern sowie gleiche Funktionalitäten auf unterschiedlichen Systemen softwareseitig auf eine Basis zu stellen. „In der Welt der Software zählt allein die Frage, wer mit einer Plattform die meisten Kunden bedient. Und da haben wir bei Volkswagen ein enormes Skalierungspotenzial“, sagte der neue VW-Markenvorstand für Fahrzeugsoftware, Christian Senger, in einem Interview mit carIT.

Um das Ziel einer einheitlichen Softwareplattform, die Konnektivität, Infotainment, automatisiertes Fahren, Antriebslösungen und Mobilitätsdienstleistungen umfasst, zu erreichen, muss der Wolfsburger OEM massiv investieren – in Knowhow, Fachleute und Kooperationen. Bis 2025 sollen in der Softwareeinheit, in die Volkswagen rund sieben Milliarden Euro pumpt, mehr als 5000 Experten beschäftigt sein, verteilt auf verschiedene Kompetenzbereiche. Insider gehen sogar von mehr als doppelt so vielen Mitarbeitern aus. „Am Ende werden wir einen starken Software-Footprint vorweisen können, da bin ich mir sicher“, betont Senger.

Daimler wird ein vergleichbares Vorhaben unterstellt. Am Rande der CES in Las Vegas kündigte Entwicklungschef Markus Schäfer zu Beginn des Jahres ein eigenes Betriebssystem für Automotive-Anwendungen der Marke Mercedes-Benz an. Zeithorizont für die Realisierung: drei bis vier Jahre. Das „MB.OS“ soll den Stuttgarter Autobauer unabhängiger und schneller machen. Wie bei VW sollen dafür verstärkt eigene Kompetenzen aufgebaut werden. Im Frühling huschte sogar das Gerücht durch den Blätterwald, Daimler und Volkswagen wollen in Sachen Softwareentwicklung an einem Strang ziehen – ein logischer Schritt, denn die Konkurrenz aus dem Big-Data-Universum ist bei diesem Thema meilenweit voraus.

Gemeinsame Industriestandards als Königsweg

Doch was bedeutet es eigentlich, ein eigenes Betriebssystem aus dem Boden zu stampfen, und wieso gehen Autobauer, die einst mit dem Verheiraten von Blech und Ottomotor zu Weltruhm gelangten, ein solches Wagnis ein? Für den Automobilexperten Hans-Georg Frischkorn, der viele Jahre unter anderem bei BMW für die Elektrik-/Elektronikentwicklung verantwortlich war, sind die Ambitionen der Autobauer bislang nur Marketing-Ballons, die über kurz oder lang platzen werden. „Meiner Einschätzung nach sind die Vorstöße in der aktuell kommunizierten Form häufig ein Overselling, das nicht das ganze Bild der Software im Fahrzeug widerspiegelt.“

Denn mitnichten werde es sich um ein klassisches OS handeln, sondern um einen Softwarestack, der mit anderen Komponenten eine gemeinsame Plattform bilden wird, etwa dem seit vielen Jahren in Fahrzeugen zum Einsatz kommenden System Classic Autosar und weiteren COTS-Komponenten (Commercial Off-the-shelf). „Die Hersteller sind allesamt noch in einer ganz frühen Phase der Entwicklung“, analysiert Frischkorn. „Am Ende wird die Softwareeigenleistung vielleicht 20 Prozent ausmachen, der Rest kommt von anderen Anbietern. Und gerade das Betriebssystem ist nicht differenzierend, da ist ein gemeinsamer Ansatz sinnvoller als OEM-spezifische Vorgehensweisen.“

Das Ziel, so ist sich nicht nur Experte Frischkorn sicher, sollten daher gemeinsame Industriestandards sein, die eine deutlich höhere Qualität mit sich bringen und eine schnellere Weiterentwicklung versprechen. Schon zu Beginn des Jahrtausends wurden mit Classic Autosar und später auch mit Adaptive Autosar die Grundsteine hierfür gelegt.

Big-Data-Player dringen in den Markt

Volkswagen verhehlt nicht, dass diese etablierten Architekturen weiterhin Basis für die Software im Fahrzeug bleiben. Die Frage ist nur, zu welchem Anteil OEM-eigene Stacks hinzukommen. Dass die Fahrzeugarchitektur vereinfacht und vereinheitlicht werden muss, bezweifelt niemand. Zu komplex sind die Anforderungen der Softwarefunktionen – sei es beim autonomen Fahren, beim Infotainment oder im Antriebsbereich. Die Frage wird sein, ob Automotive-Schwergewichte wie Volkswagen oder Daimler allein durch ihre schiere Marktmacht und die Möglichkeit, ihr riesiges Zuliefernetzwerk mitzuziehen, am Ende in Sachen Softwareplattform den Ton angeben werden.

Zulieferer wie Continental zeigen durchaus die Bereitschaft, den „eigensinnigen“ Weg der OEMs mitzugehen und sich an der Entwicklung eines Betriebssystems zu beteiligen. Und natürlich geht es um Geschwindigkeit. Die trägen Kolosse der Autowelt müssen agiler werden und sich beim Thema Softwareentwicklung dringend gegenüber Ansätzen wie Open Source öffnen. Denn auch die neue Konkurrenz aus der Big-Data-Welt dringt im Eiltempo immer tiefer in die Infrastruktur der Fahrzeuge vor, wie das Beispiel Android Automotive zeigt.

Die von Google und Intel entwickelte Plattform geht einen Schritt weiter als der ältere Bruder Android Auto, der eigentlich nur der verlängerte Arm des Smartphones ist. Android Automotive ist ein eigenständiges, im Cockpit integriertes Betriebssystem, das bislang jedoch nur den Infotainmentbereich abdeckt und sicherheitskritische Fahrfunktionen unangetastet lässt. Doch Googles Weiterentwicklung scheint Anklang in der Autoindustrie gefunden zu haben: Während VW die Plattform wegen ihres Datenhungers ablehnt, wollen Volumenhersteller wie General Motors und Renault-Nissan-Mitsubishi oder Volvos E-Performancemarke Polestar künftig Android Automotive in vollem Umfang einsetzen. Damit hat Google einen Fuß in der Tür zur komplexen Welt der Fahrzeugsoftware. Wer weiß, wie lange sich die alte Autowelt mit eigener Kraft noch dagegenstemmen kann.

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