Herr Brecht, wie definieren Sie im Zeitalter der Datenökonomie das Selbstverständnis der Daimler-IT? Mit welchen Leistungsversprechen positionieren Sie sich im Konzern?
Wir bleiben auf dem eingeschlagenen Weg und halten an unserem Fokus TwiceAsFast fest. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass Geschwindigkeit nicht nur einer der ganz wesentlichen Erfolgsfaktoren in der IT ist, sondern fast schon eine Strategie an sich. In Zeiten, in denen sich Veränderungen immer schneller vollziehen, müssen unsere Teams dazu in der Lage sein, umgehend und flexibel zu reagieren. Als zweites zentrales Leistungsversprechen sehe ich einen messbaren digitalen Mehrwert. Wir haben in den letzten Monaten ganz konkrete Vorhaben ausgewählt und beispielsweise unserer Pkw-Division Mercedes-Benz Cars versprochen, in den nächsten Jahren einen signifikanten dreistelligen Millionenbetrag zu heben – durch Prozessoptimierungen, vorausschauende Systemwartungen und eine noch bessere Datenqualität, auf der strategische Entscheidungen getroffen werden können.
Sie sind seit Herbst 2015 CIO von Daimler. Wie hat sich in dieser Zeit die Geschwindigkeit in der Konzern-IT verändert?
Nicht nur in der Informationstechnik spüren wir mehr Drive als je zuvor, die gesamte Industrie verändert sich rasend schnell. Um dranzubleiben oder – noch besser – das Tempo vorzugeben, sind Geschwindigkeit und Innovation wichtiger denn je. Nehmen Sie unsere Releasezyklen: In der Vergangenheit haben wir zwei, drei, maximal vier große Systemreleases pro Jahr geplant. Heute fahren wir Softwareupdates in vielen Fällen monatlich, wöchentlich oder sogar noch häufiger. Durch integrierte Toolketten hat unsere Liefergeschwindigkeit dramatisch gewonnen. Und trotzdem stehen wir noch immer am Anfang des Weges.
Heißt konkret: Das Karussell wird noch einmal richtig Schwung nehmen?
Die programmatische Ansage TwiceAsFast muss wohl umformuliert werden in „Doppelt so schnell … alle drei oder vier Jahre“. Ich sehe exponentielle Steigerungsmöglichkeiten.
Auf der Hauptversammlung im Mai haben die Aktionäre einer neuen Unternehmensstruktur zugestimmt. Unter dem Dach der Daimler AG entstehen drei neue selbstständige Einheiten. Werden sich dadurch Ihre strategischen Prioritäten ändern?
Sie sprechen das Projekt Zukunft an. Mit den rechtlich selbstständigen Einheiten Mercedes-Benz AG, Daimler Truck AG und Daimler Mobility AG wird sich der Konzern neu organisieren. Ziel ist es, den drei Divisionen mehr unternehmerische Freiheit zu geben, damit sie sich noch stärker an Märkten und Kunden orientieren und schnell und flexibel Kooperationen schließen können. Die Agilisierung, die damit Hand in Hand geht, passt gut zu unserer IT-Kernstrategie TwiceAsFast. Wir marschieren in dieselbe Richtung, von daher sehe ich keine Notwendigkeit für Anpassungen. Auch strukturelle Änderungen sind nicht erforderlich – schließlich waren wir schon in der Vergangenheit divisional aufgestellt.
Es wird also keinen Super-CIO geben, der künftig für drei börsennotierte Unternehmen verantwortlich ist, sollte es mittelfristig dazu kommen?
(Lacht) Ich weiß nichts von solchen Börsenplänen. Ich bin in meiner CIO-Doppelfunktion sowohl für den Konzern als auch Mercedes-Benz Cars zuständig. Das wird so bleiben. Marcus Claesson leitet die IT im Truck-Bereich, Udo Neumann ist für Daimler Mobility zuständig – beide sind Teil meines Teams und werden weiterhin an mich berichten.
Daimler ist auf einen Sparkurs eingeschwenkt. Es heißt, alles komme auf den Prüfstand – auch die IT?
Mit Sicherheit. Die Informationstechnik ist nun mal einer jener Bereiche im Konzern, die einen großen Beitrag zu mehr Effizienz leisten können. Das Stichwort lautet: digitaler Mehrwert – wir haben bereits darüber gesprochen. Ich sehe zwei Stoßrichtungen: erstens mehr Investitionen in die Digitalisierung aller Geschäftsprozesse, zweitens mehr Effizienz und ein straffes Kostenmanagement in der IT selbst. Da gibt es – ganz klar – Potenzial, das wir heben müssen. Die Frage, die wir uns dabei stellen sollten, ist ganz einfach: Was würde jeder einzelne von uns tun, wenn ihm das Unternehmen gehören würde? Mit diesem Bewusstsein im Hinterkopf sind wir ganz bestimmt auf dem richtigen Weg.
Interessant. Was würde Jan Brecht denn tun, wenn ihm Daimler gehören würde?
Mich treibt radikale Vereinfachung an. Wir haben in den mehr als 130 Jahren unserer Unternehmensgeschichte einzigartige Produkte entwickelt und dafür Abnehmer auf der ganzen Welt gefunden. Wir haben intern aber auch Komplexität aufgebaut – dort können wir ansetzen, um effizienter und agiler zu werden.
Heißt konkret: Daimler biegt auf den japanischen Weg ein, lässt alles Unnötige beiseite und konzentriert sich auf das Wesentliche?
Ob das ein japanischer Ansatz ist, weiß ich nicht. Aber bei der Konzentration auf das Wesentliche bin ich voll bei Ihnen.
Sie sind vor vier Jahren mit dem Ziel angetreten, den Eigenanteil in der Softwareentwicklung konsequent zu erhöhen. Sind Sie bislang mit den erreichten Ergebnissen zufrieden?
Die interne Wertschöpfungstiefe der IT ist tatsächlich deutlich gestiegen. Zum einen haben wir Mitarbeiter aus verwaltenden Aufgaben rausgeholt und in direkte Tätigkeiten verlagert. Zum anderen haben wir qualifiziertes Personal zielgerichtet eingestellt und unsere Töchter gestärkt, beispielsweise in Indien. Dort entwickeln bereits über 2000 Kolleginnen und Kollegen in einem Captive Offshore Center Software für Daimler. Durch all diese Maßnahmen haben wir es geschafft, unseren Eigenanteil am Softwareengineering in den letzten drei Jahren um fünf Prozentpunkte zu steigern.
Ist das ein Wert, mit dem Sie sich bereits wohlfühlen?
Wir haben bewusst keine numerischen Ziele festgelegt. Wichtig ist einfach, die richtige Balance im Dreieck Qualität, Kosten und Geschwindigkeit zu finden – dabei sind wir definitiv besser geworden.
Können Sie uns am Beispiel Digital Engineering aufzeigen, wie sich die Aufgaben und Kompetenzen der Daimler-IT heute bereits global verteilen?
Die Zeiten, in denen unsere Ingenieure ausschließlich in Sindelfingen, der Herzkammer der Mercedes-Benz-Fahrzeugentwicklung, tätig waren, sind schon lange vorüber. Sie arbeiten heute im kalifornischen Sunnyvale ebenso wie in Bangalore, Peking und anderen Lokationen. Aufgabe der IT ist es nicht nur, an diesen Standorten eine nahtlose Zusammenarbeit zu unterstützen. Unsere Services und Kompetenz sind darüber hinaus weltweit bei Innovationsschwerpunkten wie zum Beispiel dem autonomen Fahren gefragt. Deshalb haben wir die Systemarchitekturen so angelegt, dass ein global verteiltes Arbeiten jederzeit möglich ist. Vor zehn Jahren hatten wir bei umfassenden Anwendungen und großen Datenmengen noch mit den Latenzzeiten zu kämpfen. Heute spricht niemand mehr über Zugriffszeiten. Viel entscheidender ist die Frage geworden, wer auf was zugreifen darf – aber das ist keine rein technische Aufgabenstellung.
Wenn wir Sie fragen, wofür Sie dieses und nächstes Jahr am meisten Budgetmittel verwenden – wie lautet dann Ihre Antwort?
Einen Großteil der Betriebs- und Projektbudgets brauchen wir, um den täglichen Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten, unsere Systeme und Anwendungen weiterzuentwickeln und zu beschleunigen. Gleichzeitig steigen die Budgets für Innovationen im Umfeld unsere CASE-Strategie.
Lassen Sie uns einen Blick auf Arbeitsmethoden und Prozesse werfen: Was halten Sie von Buzz-Wörtern wie Agile, Scrum und Schwarm?
Ich trenne die Buzz-Wörter gerne davon, was tatsächlich passiert. Aber klar: Hinter den Begriffen, die Sie genannt haben, steckt viel Substanz. Wenn Sie zu einem Szenario wie TwiceAsFast gelangen wollen, brauchen Sie die Agilisierung Ihrer Projekte – nicht nur durch weiche, wenig konkrete Faktoren, sondern durch ein deutliches Plus an Disziplin gegenüber traditionellen Wasserfallprojekten. Alle Rollen müssen wirklich sauber ausgeprägt sein. Es reicht nicht, alte IT-Projekte neu anzustreichen und „Agile“ drauf zu schreiben. Es braucht schon ein grundlegend neues methodisches Vorgehen – in der IT, in den Fachbereichen und bei unseren Zulieferern.
Kann man nur gemeinsam digital werden?
Sagen wir so: Wir benötigen neue Prozesse, neues Knowhow und eine neue Denkweise, um mit der Geschwindigkeit der Digitalunternehmen mitzuhalten. Produktverantwortliche Teams, die von Anfang bis Ende Produkte konzipieren, entwickeln und optimieren, sind ein erfolgversprechender Ansatz. Nehmen Sie die Zusammenarbeit im Digital House in Stuttgart als Beispiel: Dort arbeiten die Bereiche Marketing und IT in agilen und flexiblen Strukturen, um digitale Produkte zu entwickeln. Unser weltweiter Webauftritt wurde dort ebenso aus der Taufe gehoben wie unsere Digital-Commerce-Plattform, eine Daimler-übergreifende E-Commerce-Lösung für den Onlineverkauf von Produkten und Services.
Software hin, Datenplattform her: Warum hängt Ihrer Meinung nach am Ende alles daran, wie konsequent Geschäftsmodelle auf Kunden ausgerichtet sind? An welchen Stellen lässt sich der Stellhebel Informationstechnik besonders gut ansetzen?
Mir geht es weniger um technologische Aspekte. Ich glaube, dass der Kern der Digitalisierung einer konsequenten Ausrichtung des Geschäftsmodells am Kunden gleichkommt. Im traditionellen Verständnis waren Pkw und Trucks für uns seit jeher hochwertige automobile Produkte mit Karossen, Fahrwerk, Achsen und Motor. Aus Kundensicht betrachtet stellt sich das ganz anders dar: Einen Mercedes-Pkw wollen zwar viele besitzen, wirklich brauchen aber tut ihn niemand, weil es kostengünstigere Alternativen gibt. Wer dagegen einen Truck kauft, will ihn vermutlich gar nicht haben, braucht ihn aber, um damit Güter und Waren zu transportieren. Was ich damit sagen will: Wir dürfen beide Produkte nicht mehr ausschließlich von der Hardwareseite aus denken, sondern müssen sie auf Basis von Kundendaten entsprechend den jeweiligen individuellen Anforderungen entwickeln, bauen und anbieten. Durch Software und Services können wir den Mehrwert unserer physischen Produkte erheblich aufladen. Das ist der große Change!
Stichwort Vision 2020+: Welche neuen Aufgaben kommen in den nächsten Jahren auf die Daimler-IT zu? Welche neuen Technologien werden an Bedeutung gewinnen?
Wir sind gefordert, neue Technologietrends zu erden und zu zeigen, ob und welchen Mehrwert sie tatsächlich bieten können – siehe das 5G-Netz in Sindelfingen. Profitable Skalierung heißt das Zauberwort, das wir mittelfristig auch auf Edge Computing und Quantum Computing übertragen wollen. Daneben richten wir unser Augenmerk auf die methodische Ebene, um Ansätze wie TwiceAsFast und neue IT-Liefermodelle sicher über die Ziellinie zu bringen. Last, not least geht es um die Qualifizierung und die richtige Einstellung der gesamten Mannschaft. Ich persönlich mache das Digital Mindset auch an einer starken Produktorientierung fest. Wir müssen wegkommen von einer reinen Budget- und Zeitverwaltung hin zu einer Orientierung an messbarem Mehrwert. Diese neue Denke muss in jeder Ecke des Konzerns ankommen.
Fotos: Wilhelm Mierendorf
Weitere exklusive Hintergründe zur IT-Strategie Daimlers lesen Sie im automotiveIT-Sonderheft „Konzern-IT Daimler“, das am 3. September mit der Ausgabe 5/2019 der automotiveIT erscheint.