Doppelinterview_Brecht

Daimler-CIO Jan Brecht (links) und Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht sind sich einig: Wer Digitalisierung nur technisch interpretiert, springt zu kurz. (Bild: Claus Dick)

Meine Herren, die erste Frage geht an Sie beide: Wann sahen Sie sich an Ihrem Arbeitsplatz zuletzt mit einem Phänomen konfrontiert, das man eindeutig der sogenannten digitalen Transformation zuordnen kann? Um was hat es sich dabei gehandelt?

Michael Brecht: Das war erst vor Kurzem, als wir unser Social Intranet eingeführt haben. In einem Reverse Mentoring zeigte mir eine jüngere Kollegin, welche Funktionen es gibt und wie ich sie bedienen muss. Die zehn Einzelstunden fühlten sich ein bisschen wie Schule an, Hausaufgaben gab es auch … Hat aber alles prima funktioniert! Seit Mai habe ich einen Twitter-Account und auch dort führt mich unsere junge Mannschaft Stück für Stück in die Materie ein und motiviert mich, regelmäßig Beiträge zu veröffentlichen. Inzwischen ist es ganz selbstverständlich, dass ich kurze Infos über die wichtigsten Ereignisse der Woche poste und Highlights mit meiner Community teile.

Jan Brecht: Ich möchte Ihnen ganz bewusst ein nichttechnisches Beispiel geben: Letzte Woche habe ich mich mit einem Projektteam getroffen und ich konnte nicht mehr eindeutig sagen, welche Teilnehmer aus der IT und welche aus dem Fachbereich kamen. Alle hatten agile Arbeitsweise schon ganz tief verinnerlicht: Das heißt, das Team liefert kontinuierlich kleine, aber komplette Funktionalitäten, sogenannte Inkremente, und verbessert sie in den darauffolgenden Iterationen. Ganz anders als im Wasserfallmodell, das nach langen Planungs-, Test- und Implementierungsphasen ein komplexes System liefert, was dann oft fehleranfällig ist. Tatsächlich war sogar ein Kollege dabei, der nichts mit dem Begriff Wasserfall anfangen konnte. Das fand ich toll.

Wie empfinden Sie als Betriebsrat die Auswirkungen, die der digitale Wandel bei Daimler bislang mit sich gebracht hat? Überwiegen eher positive oder eher negative Erfahrungen?

Michael Brecht: Es findet sich beides im Unternehmen. Wenn wir in die Produktionslogistik schauen, sehen wir heute dort kaum noch Staplerverkehr. Die Materialandienung in der Montage erfolgt mannlos mittels hoch automatisierter Systeme. Bestimmte Tätigkeiten, die früher Menschen verrichtet haben, sind ersatzlos entfallen. Aber über steigende Produktionsvolumina haben wir es in der Vergangenheit immer geschafft, solche Effekte aufzufangen und konnten betroffenen Kollegen alternative Arbeitsplätze anbieten.

Das Beispiel mit den Staplerfahrern wird immer wieder gerne erzählt …

Michael Brecht: … was es nicht schlechter macht. Aber ich weiß, was Sie meinen: Natürlich gehen nicht immer gleich ganze Berufsbilder verloren, wenn automatisiert und digitalisiert wird. Es verändert sich aber die Art der Tätigkeit – und das entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Aktuell diskutieren wie sehr intensiv, welche Auswirkungen eine durchgängige Prozessdigitalisierung im Entwicklungsbereich mit sich bringt, dort wo zigtausende hochqualifizierter Ingenieure tätig sind. Einerseits verdrängen Digital Mock-ups händische Präzisionsarbeit, andererseits erlauben es uns dreidimensionale Datenmodelle, noch zielgerichteter zu entwickeln und mehr zu erproben.

Jan Brecht: Genau. Im Angestelltenbereich sehen wir durch künstliche Intelligenz und den Einsatz von Chatbots eine starke Transformation standardisierter Aufgaben, wie sie etwa das Mercedes-Benz Customer Assistance Center in Maastricht Tag für Tag abwickelt. Gleichzeitig tun sich viele neue Möglichkeiten auf, weil alle Anwendungsfälle auf einer extrem gut gepflegten und kuratierten Datenbasis aufsetzen müssen. Ich sehe da Chancen für neue Tätigkeiten.

Jan Brecht: „In einigen Bereichen tickt Daimler noch zu stark im Lebenszyklus seiner Fahrzeugprodukte. Die Zyklen, die wir heute brauchen, sind aber deutlich kürzer.“

Inzwischen greift die Erkenntnis um sich, dass sich mit KI irgendwann einmal tausende von Arbeitsplätzen substituieren lassen. Teilen Sie diese Einschätzung nicht?

Michael Brecht: Wir haben unsere Prozesse und Abläufe im Detail noch nicht daraufhin untersucht, ob und in welchem Umfang sich KI auf die Beschäftigtenzahlen auswirken wird. Aktuell diskutieren Betriebsrat und Unternehmensleitung deshalb eine interne Digitalisierungsstudie mit Fokus speziell auf den indirekten Bereich. Machen wir uns nichts vor: Selbstverständlich wird weiterhin Rationalisierung und Automatisierung stattfinden, so wie in den letzten vierzig Jahren auch. Im Lauf der Geschichte aber haben Maschinen bisher immer mehr Jobs erzeugt als ersetzt. Wir können uns dieser Entwicklung nicht entziehen. Wir sollten nur alles daran setzen, sie zu gestalten.

Jan Brecht: Auch der Computer galt früher mal als Arbeitsplatzschreck. Heute schätzen wir ihn als allgegenwärtiges Hilfsmittel. Die Zahl der Beschäftigten in der IT wächst auch deshalb, weil wir einerseits durch ein zielgerichtetes Insourcing Teile der Wertschöpfung zurück ins Unternehmen holen und damit wieder Kontrolle bekommen. Andererseits wandeln wir administrative IT-Tätigkeiten um in direkte technologisch-wertschöpfende Jobs, erhöhen so unsere Fertigungstiefe und senken Kosten. Wir müssen nicht nur uns selbst ständig weiterentwickeln, sondern auch unsere Technologien und die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten.

Michael Brecht: Stimmt. Wir brauchen rationelle Methoden und Abläufe, die durch Informationstechnik gestützt werden. Sonst wird uns die immense und immer weiter wachsende Komplexität im Produktportfolio irgendwann um die Ohren fliegen.

Wie gut sehen Sie das Unternehmen IT-seitig vorbereitet, um die mittelfristig noch kommenden digitalen Herausforderungen zu meistern? An welchen Stellen genau rechnen Sie mit größeren Verwerfungen?

Jan Brecht: Im Quervergleich zu industriellen Wettbewerbern und Partnern sind wir sicher gut aufgestellt. Richtig ist aber auch: Wir können uns immer noch weiter verbessern. So manches junge Unternehmen kennt keine langjährigen Produktzyklen oder Wasserfallprojekte, sondern war schon immer agil und mit einem digitalen Mindset unterwegs – Eigenschaften, die wir erst lernen mussten. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir das Thema Transformation nicht nur unter technischen Gesichtspunkten betrachten, sondern ebenso mit einem Blick auf Daten, Prozesse und die Menschen, die damit arbeiten. Manches junge Unternehmen kennt keine langjährigen Produktzyklen oder Wasserfallprojekte, sondern war schon immer agil und mit einem digitalen Mindset unterwegs – Eigenschaften, die wir erst lernen mussten. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir das Thema Transformation nicht nur unter technischen Gesichtspunkten betrachten, sondern ebenso mit einem Blick auf Daten, Prozesse und die Menschen, die damit arbeiten.

Michael Brecht: Aus meiner Sicht ist die Daimler-Belegschaft organisatorisch, kulturell und technisch noch nicht auf den großen Bruch vorbereitet, der uns erwartet. „Digital readiness“ muss auf allen Ebenen ermöglicht und unterstützt werden – am Montageband wie auf Managementebene. Dazu wollen Jan Brecht und ich uns nach der Sommerpause gemeinsam Anregungen an einigen Universitäten holen. Am Ende braucht es eine klare Zielrichtung, auf die hin man die Gesamtorganisation entwickeln möchte.
Jan Brecht: Zu den Anforderungen, an die wir uns anpassen, zählt auch hohe Veränderungsgeschwindigkeit. In einigen Bereichen tickt Daimler noch zu stark im Lebenszyklus seiner Fahrzeugprodukte – in der Automobilindustrie sind das klassischerweise um die sieben Jahre. Die Zyklen, die wir heute brauchen, sind aber deutlich kürzer. Auch das müssen wir vermitteln.

Sie haben es bereits angesprochen: Neben der technischen Ausstattung ändern sich vor allem einzelne Jobprofile. Sind Personalplanung und -bedarfsermittlung bei Daimler darauf ausgerichtet?

Michael Brecht: Jede Planung kann so gut sein, wie sie will – am Ende bleibt immer eine gewisse Unschärfe, mit der man leben muss. Ist beispielsweise die Entscheidung für ein neues Fahrzeugprojekt gefallen oder wurde beschlossen, in eine neue Technologie zu investieren, ist die Personalplanung von Daimler gut und präzise. Aber in schnelllebigen Zeiten wie heute ist es ein Ding der Unmöglichkeit, sämtliche Qualifikationen vorrätig zu halten. Das ist wirtschaftlich nicht vernünftig, schon gar nicht, wenn die Luft wie jetzt dünner wird.

Wie stark wird die Digitalisierung die Unternehmensstrategie von Daimler und einzelne Geschäftsmodelle noch beeinflussen und verändern?

Jan Brecht: Da gibt es zahlreiche Aspekte. Beispielsweise wandern immer mehr Softwareelemente in die Fahrzeuge. Künftig – und daran arbeiten wir bereits – werden wir eine Software­architektur erstellen und darum das Blech formen. Auch bei Mobilitätsdiensten, die Sie über Plattformen nutzen können, gibt es großes Potenzial. Wir wissen, dass siebzig Prozent der Erdbevölkerung im Jahr 2030 in urbanen Gebieten leben werden. Das klassische Ein-zu-eins-Verhältnis zwischen Fahrzeug und Eigentümer erscheint in einem solchen Szenario eher unwahrscheinlich. Das alles sind Entwicklungen, auf die wir Antworten liefern.

Michael Brecht: Bitte lasst uns nicht immer nur vom Ende her diskutieren … Wir verfügen als Unternehmen doch bereits über reichlich Erfahrungen mit Veränderungen. Immer wieder hat sich gezeigt: Menschen müssen durch die richtige Einstellung in die Lage versetzt werden, mit Veränderungsprozessen umzugehen. Technische Schulungen brauchen eine kulturelle Grundlage, auf der sie aufsetzen. Sonst werden sie nicht greifen. Ganz ehrlich: Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob wir am Ende qualifizierte Datenanalysten finden. Mir geht es darum, dass die Mitarbeiter verstehen, was um sie herum passiert, dass bestehende Distanzen abgebaut werden und dass uns ob des hohen Tempos keine Ängste lähmen.

Jan Brecht: Deshalb haben wir in der IT für alle Führungskräfte ein Programm aufgelegt, das TwiceAsFast Certified heißt. Wir wollen kulturelle, methodische und technologische Aspekte der digitalen Transformation intensiv trainieren. Über ein Examen zu Beginn prüfen wir den Grundkenntnisstand ab. Dann folgen zehn Wochen Training und wieder ein Examen am Ende. Die Absolventen sollen das erworbene Wissen in die gesamte Organisation tragen und es multiplizieren.

Der beschlossene organisatorische Konzernumbau mit Ausgliederung der beiden Tochtergesellschaften Mercedes-Benz AG und Daimler Truck AG soll mehr als 600 Millionen Euro verschlingen und kostet viel Arbeitszeit. Wäre es nicht schlauer gewesen, diese Ressourcen in die digitale Transformation zu investieren?

Jan Brecht: Also diese Zahl kenne ich nicht … Mit dem Projekt Zukunft wollen wir den Konzern agilisieren. Die divisionale Weiterentwicklung führt zu kleineren Einheiten – sie können unabhängiger und flexibler agieren und beispielsweise technologische Kooperationen und Partnerschaften schneller eingehen. Ich verstehe Projekt Zukunft als Teil von Daimlers Transformation, nicht als Konkurrenz um Digitalisierungsbudgets.

Michael Brecht: Führt die neue Konzernstruktur wie gewünscht zu größerer unternehmerischer Freiheit in den Divisionen und sichert damit den Fortbestand des Gesamtunternehmens, ist das Geld in meinen Augen gut investiert. Das Signal an die Belegschaft ist wichtig: Projekt Zukunft ist kein Rationalisierungs- oder Stellenabbauprogramm, mit dem man Kosten drücken will. Im Gegenteil: Mit der Betriebsvereinbarung zum Projekt Zukunft ist uns ein in Deutschland einmaliger Interessenausgleich gelungen. Mit einer Beschäftigungssicherung bis zum Jahresende 2029 erhalten wir Jobs in Deutschland. Und das verhandelte Mitspracherecht bei der Fertigungstiefe gibt uns zum ersten Mal die Chance, bei Neuinvestitionen und der Frage nach Eigen- oder Fremdbezug mitzureden.

Obwohl sich CIO Jan Brecht als ausgewiesener Verfechter von radikaler Vereinfachung positioniert, nimmt die Komplexität im Konzern zu – auf Organisations­ebene, in der Modellpalette, in den Projekten, gefühlt auch am eigenen Arbeitsplatz. Was läuft da schief?

Jan Brecht: Moment, da läuft gar nichts schief. Eine breite Produktpalette ist die Basis für unseren Markterfolg. Ein Großteil der Komplexität wird aktuell durch Regularien getrieben. Umso wichtiger ist, dass wir überflüssige Komplexität überall dort radikal vereinfachen, wo wir die Chance dazu sehen. Das ist für mich ein ganz wesentliches Element der digitalen Transformation: Es darf nicht darum gehen, technischen Zuckerguss über Komplexität zu gießen und diese zu zementieren. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, wie Prozesse ablaufen sollen und welche Sonderregelungen wir bereit sind zuzulassen. Je schlanker wir agieren können, desto schneller werden wir sein.

Michael Brecht: Die Botschaft hör ich wohl … Wenn ich sehe, was wir uns als Unternehmen vorgenommen haben, und wenn ich meine Arbeitserfahrung der letzten Jahrzehnte hinzunehme, dann wäre ich schon glücklich, wenn es uns mit einer gut funktionierenden IT gelänge, die wachsende Komplexität zu beherrschen.

Jan Brecht: … was aus meiner Sicht ein Grund mehr ist, sich Komplexität überall dort, wo sie keinen Sinn ergibt, vehement entgegenzustellen.

Stichwort Agilität: Was erzählen Ihnen Führungskräfte, die beispielsweise im Zuge von DevOps auf ihre liebgewonnenen Eckbüros verzichten müssen und sich plötzlich in einem Großraumbüro wiederfinden? Wie begeistert sind Teammitglieder, wenn der Chefschreibtisch direkt an ihren grenzt?

Jan Brecht: Natürlich gibt es im Vorfeld solcher Umzüge große Bedenken, in der ersten Woche vielleicht noch immer persönliche Befindlichkeiten – aber in den allermeisten Fällen spricht sich dann die Mehrheit vorbehaltlos für die neue Büroumgebung aus. Weil sie nämlich die Zusammenarbeit in gemischten Teams nachhaltig stärkt. Wir legen übrigens Wert darauf, dass die Mitarbeiter die Flächen aktiv mitgestalten. Strukturierung, Aufbau, individuelle Positionierung der Möbel – das alles muss passen, wenn man eine produktive Arbeitsumgebung möchte.

Michael Brecht: Das stimmt. Aber solche Programme dürfen nicht um der Flächenoptimierung willen gefahren werden. Wenn es plötzlich zwanzig Prozent weniger Arbeitsplätze im Büro gibt und sich Mitarbeiter einen Schreibtisch mit Kollegen aus anderen Bereichen teilen müssen, mit denen sie gar nicht zusammenarbeiten, flammen die Diskussionen zu Recht auf. Mir sind Fälle bekannt, in denen Mitarbeiter nach erfolgter Umgestaltung doch wieder an ihrem angestammten Platz saßen … so etwas führt die Prinzipien interaktiver Büroarbeit ad absurdum.

Wie stark hängt Ihrer Meinung nach die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens von einer erfolgreichen digitalen Transformation ab?

Michael Brecht: Wir werden künftig unsere Produkte und Dienstleistungen in hohem Maße mit digitalen Werkzeugen entwickeln, erstellen und betreiben. Es geht um Plattformen, um die vernetzte Mobilität der Zukunft und individualisierte Lösungen, die weit über unser heutiges Kernprodukt Automobil hinausgehen. Um es auf den Punkt zu bringen: Für mich geht es um die Frage, ob Daimler beim rasanten Wandel der Mobilitätsbranche morgen noch selbstbestimmt im Geschäft sein wird oder nicht. So wichtig ist die Digitalisierung für uns.

Jan Brecht: Zu häufig wird Digitalisierung noch rein technisch interpretiert. Im Kern aber geht es um eine extrem konsequente Ausrichtung des Geschäftsmodells am Kunden. Auf dieses Ziel sollten wir alle Kräfte, die im Konzern vorhanden sind, bündeln.

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