Herr Loydl, Sie krempeln mit der Strategie Next:IT seit geraumer Zeit die IT-Organisation von Audi kräftig um. Hat die Coronapandemie diese Transformation ausgebremst oder eher noch beschleunigt?
Loydl: Beides. Wir haben sicherlich an der einen oder anderen Stelle erfolgreich und unerwartet schnell reagiert. Bestes Beispiel ist das Software Development Center, dort haben wir mittlerweile 95 Prozent Remote-Arbeit – und das obwohl die Softwareentwickler im Pair Programming arbeiten. So eine enge Zusammenarbeit klingt erstmal nicht nach der besten Voraussetzung für Homeoffice, aber das hat sich erfreulich gut eingespielt. Was natürlich fehlt, ist die soziale Interaktion im Büro. Bei Next:IT zum Beispiel haben wir gemerkt, dass noch zu viel operative Last im System ist, um den hohen Veränderungsdruck aufrechtzuerhalten. Da ist während der Pandemie etwas Geschwindigkeit verlorengegangen.
Rückgrat der neuen Aufstellung ist der IT-Steuerkreis mit dem Ziel, völlige Transparenz über Projekte, Ressourcen und Auslastung herzustellen. Transparenz gefällt nicht jedem und sicherlich werden Sie den einen oder anderen Fachbereich auch enttäuschen müssen. Wie dick waren die Bretter, die Sie haben bohren müssen, um das umzusetzen?
Loydl: Also, ich glaube, wir bohren noch. Wenn ich die Strecke grob abschätze, dann sind wir ungefähr bei der Hälfte angekommen. Jeder Fachbereich ist durch die Transformation in der Automobilbranche mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Da helfen Austausch und Synchronisation ungemein. Wir haben nun auf alle Fälle einen guten Überblick, was in der Pipeline ist. Was jetzt noch kommt, sind Priorisierungen und an der einen oder anderen Stelle auch Dinge zu streichen.
Große-Loheide: Die Bereitschaft, im Unternehmen fachbereichsübergreifend zu denken und zu arbeiten, ist enorm gewachsen. Die Transformation bewegt uns mit Höchstgeschwindigkeit und sorgt dafür, dass alle enger zusammenrücken. Die IT ist ein wichtiges Bindeglied, da sie überall gebraucht wird. Dieser Spirit, sich unterzuhaken, ist auf alle Fälle eine Stärke von Audi.
Sie dokumentieren Ihre Meilensteine für alle Kollegen in einer „Hall of Done“. Was ist denn 2021 bereits hinzugekommen?
Loydl: Wir befinden uns gerade in einer unheimlich bewegenden und bewegten Phase. Die letzten Wochen und Monate richtet sich der Fokus der Gespräche zunehmend auf fachliche und strategische Zukunftsthemen. Wenn man sich die „Hall of Done“ ansieht, wird deutlich, dass wir uns bisher im Wesentlichen mit uns selbst beschäftigt haben. Offensichtlich haben wir diese Zeit gebraucht, um die Organisation in einen Zustand zu bringen, dass wir jetzt über diese inhaltlichen Themen sprechen können. Stichworte sind datenzentrierte Organisationen, datengestützte Enterprise-Architekturen und ganzheitliche Prozessarchitekturen für das Unternehmen. Die IT soll als Fundament für die digitale Veränderung bei Audi aufgestellt werden. Um so eine Prozessarchitektur umsetzen zu können, brauche ich Daten. Und daran müssen wir weiter arbeiten. Der nächste Schritt muss sein, einen semantischen Data Layer zu erzeugen, der den Wandel bei Audi unterstützt. So wollen wir bis Jahresende 2021 die nächste Stufe von Next:IT zünden.
Herr Loydl, sprechen wir mittlerweile gar nicht mehr von einer Two-Speed-, sondern einer Multispeed-IT? Wird das in der IT-Abteilung schon lange gelebt oder handelt es sich dabei um einen revolutionären Ansatz?
Loydl: Ob es revolutionär ist, weiß ich nicht. Aber das ist genau der Punkt: Wie bekomme ich diesen großen Tanker klein? Wir kommen immer noch aus einer Legacy-Welt, in der IT-Systeme seit Jahrzehnten stabil laufen. Nun muss ich aber in eine flexible Umgebung rein. Dafür wählen wir einen hybriden Ansatz mit einer starken Governance, da zum Beispiel bei gesetzlichen Änderungen parallel neben den eingefrorenen Systemen auch ein Daten-Layer bedient werden muss. So schaffen wir über die Zeit schrittweise die Entkopplung der Daten und können auf die Datenplattform einen neuen Application Layer setzen. So kann ich dann von oben, aus der neuen Anwendungsebene, auf diese semantischen Daten zugreifen und die Enterprise-Architektur schrittweise umbauen, ohne den großen Tanker auf einmal anzupacken.
Herr Große-Loheide, Sie sind jetzt seit über einem Jahr Audi-Vorstand für das Ressort Beschaffung und IT. Wie oft tauschen Sie sich mit Ihrem CIO aus?
Große-Loheide: Intensiv, also mindestens einmal pro Woche. Wir haben große Überschneidungen und vertreten uns gegenseitig. Im Audi Executive Committee ist Frank Loydl die Stimme von Beschaffung und IT und ich vertrete beide Bereiche umgekehrt in der Vorstandssitzung. Das kann nur funktionieren, wenn beide mit den gleichen Zielen und Logiken arbeiten.
Sind da die Überschneidungen vielleicht in der Vergangenheit auch noch stärker geworden?
Große-Loheide: Durch so einen Austausch merkt man ja, was auf der anderen Seite passiert. Ich lerne stetig dazu und Frank Loydl hat sich in die Beschaffungsspezifika eingearbeitet. Wir bleiben also nicht stehen. Der gesamte Audi-Konzern ist in einem riesigen Veränderungsprozess, daher wird der persönliche Austausch auch immer wichtiger, um zu verstehen, was die Fachbereiche aktuell bewegt. Mit Scheuklappen vor den Augen kann eine gute Zusammenarbeit nicht funktionieren.
Nicht nur in der IT hat die Coronakrise für große Umwälzungen gesorgt, auch die Beschaffung war massiv betroffen. Sind Sie in diesem Bereich in diesem Jahr wieder auf Kurs?
Große-Loheide: Das gesamte Audi-Team hat während der Pandemie einen tollen Job gemacht. Wir haben im letzten Jahr kein einziges Fahrzeug wegen fehlender Teile verloren, obwohl die Situation lange Zeit kritisch war. Wir sind aber noch lange nicht über den Berg. Die Nachwirkungen der Pandemie inklusive Halbleitermangel beschäftigen uns nach wie vor. Aktuell können wir Produktionsunterbrechungen auch kurzfristig nicht ausschließen. Das Thema wird uns auch im zweiten Halbjahr noch begleiten.
Etwas, das beide Bereiche eint, ist die permanente Veränderung als „New Normal“. Wie gehen Sie damit um?
Große-Loheide: Uns bleibt nichts anderes übrig (lacht). Aber gleichzeitig ist es auch ein Teil der DNA, besonders in IT und Beschaffung, sich immer wieder neu zu erfinden. Wer sich nicht verändert, wird berechenbar. Daher müssen wir permanent in Bewegung bleiben. Da helfen uns auch die Märkte, die sich stetig verändern. Viele Beschaffungsmärkte haben sich räumlich verändert. Man merkt in der aktuellen Situation, dass es an der einen oder anderen Stelle auch mal zu Engpässen in den Lieferketten kommt. Dennoch hat uns Corona dabei geholfen, dass die gesamte Belegschaft viel digitaler arbeitet und so auf neue Situationen viel schneller reagieren kann.
Loydl: Wir verändern uns ja nicht um der Veränderung willen, sondern weil die Situation eine Anpassung erfordert. Wenn ich mir nur die Audi-IT anschaue, dann wollen wir die Abteilung nachhaltig für die Zukunft aufstellen. Die digitale Zusammenarbeit funktioniert mittlerweile auf allen Ebenen, da hat Corona sicherlich im gesamten Unternehmen für ein Umdenken gesorgt.
Viele Unternehmen in der Automobilindustrie haben nach 2020 gerade etwas Fahrt aufgenommen, da steht mit dem globalen Halbleitermangel die nächste Krise vor der Tür. Wie gut kann die Beschaffung von Audi die aktuellen Geschäftsentwicklungen antizipieren und darauf reagieren?
Große-Loheide: Wir haben gute Vorwarnsysteme. Beim Halbleitermangel kamen aber so viele Unwägbarkeiten ins Spiel. Während Europa noch im Lockdown steckte und noch diskutiert wurde, ob es jetzt eine U-förmige oder V-förmige Erholung gibt, hatten die Halbleiterhersteller auf anderen Absatzmärkten wie beispielsweise in der Unterhaltungselektronik schon viele Kapazitäten verkauft und sich entsprechend umgestellt. So kam es zum Lieferengpass, der uns heute noch nachhängt. Wir arbeiten uns jetzt Monat für Monat vorwärts, damit die Produktion bald wieder reibungslos laufen kann.
Haben Sie für diesen Zweck bereits den Kollegen Loydl nach einem Tool gefragt?
Große-Loheide: Ja klar. Die IT hat uns einen Bot programmiert, der weltweit rund um die Uhr am Brokermarkt anfragt, wo Halbleiter noch verfügbar sind. Das System ist darüber hinaus lernfähig und weiß genau, welche Broker dafür kontaktiert werden müssen. So konnten wir 22 Millionen Halbleiter an die entsprechende Stelle bringen und damit eine hohe Zahl an Fahrzeugen produzieren. Wenn ich an andere Situationen zurückdenke, musste unser Einkauf aufgrund der unterbrochenen Lieferketten fehlende Fahrzeugteile noch selbst auf den Weltmärkten zusammensuchen und das geschah selbstverständlich nicht rund um die Uhr.
Im vergangenen Jahr kam der IT durch die schnelle Umstellung auf das Homeoffice eine Schlüsselrolle zu. Herr Loydl, spüren Sie im Unternehmen, dass die Wichtigkeit Ihrer Abteilung nun auf allen Ebenen angekommen ist? Ist die Wertschätzung eine andere?
Loydl: Eindeutig ja. Wir haben aus dem gesamten Unternehmen während der Coronazeit so ein positives Feedback erhalten, das war schon außergewöhnlich. Die größten IT-Baustellen in der Belegschaft waren mal ein wackliges Bild oder ein paar Tonaussetzer bei dem ein oder anderen Teams-Call. Ich denke, das zeigt, welchen großen Einsatz die gesamte IT bei Audi während der Pandemie geleistet hat.
Müssen Sie beide eigentlich noch über das IT-Budget streiten?
Große-Loheide: Untereinander nicht. Wir investieren massiv in die IT, schauen Sie sich beispielsweise unsere Rechenzentren, den IT-Campus oder das Software Development Center hier in Ingolstadt an. Ich glaube Frank Loydl und ich liegen da auf einer Wellenlänge.
Für viele Automotive-Akteure war die Coronapandemie in Sachen Digitalisierung wie der Sprung ins kalte Wasser. Was haben Sie in dieser Zeit dazugelernt? Und wo lagen für Sie die größten Herausforderungen?
Große-Loheide: In einer Vorstandsposition kommt man oft nicht direkt in Kontakt mit den ganzen IT-Tools, aber im Homeoffice musste dann der eine oder andere auch mal nachfragen, wie ein bestimmtes Tool funktioniert. Insgesamt sehe ich aber bei der gesamten Belegschaft eine große Offenheit und Selbstverständlichkeit, sich digitalen Themen zu nähern.
Loydl: Den Kulturwandel kann ich bestätigen. Der wird auch langfristig bleiben. Persönlich bin ich unglaublich stolz auf das IT-Team. Durch den 2018 angestoßenen Wandel in der gesamten Abteilung hätte man durchaus erwarten können, dass nicht alles funktioniert. Das war nicht der Fall. Wir haben vor dem ersten Lockdown in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die VPNs umgebaut. Und nach wie vor arbeiten 85 Prozent der ITler und ein Großteil der anderen Audi-Belegschaft komplett remote. Das funktioniert nur mit stabilen Systemen. Das ist eine tolle Mannschaftsleistung, die ich nicht oft genug würdigen kann.
Herr Große-Loheide, Ihr Vorstandsvorsitzender Markus Duesmann hat angekündigt, dass in fünf Jahren der letzte Audi-Verbrenner vom Band laufen wird. Welchen Einfluss hat die Elektromobilität denn auf Ihren Geschäftsbereich?
Große-Loheide: Das hat gewaltige Auswirkungen. Unsere größte Triebfeder ist, dass die Fahrzeuge bis zur letzten Verbrenner-Modellgeneration wettbewerbsfähig sind. Wir sprechen von einem Zeitraum bis mindestens 2033. Für einen Beschaffer ist dies das schwierigste Jahrzehnt. Denn die Summe der Kunden verteilt sich auf zwei unterschiedliche Technologien, die wir beide bedienen wollen und werden. So stellt sich die Frage nach der Planbarkeit: Wie schnell nimmt die Nachfrage nach Verbrennern ab? Wie schnell steigt die Nachfrage in den verschiedenen Märkten, die ja völlig unterschiedlich funktionieren, nach Elektromobilität? Und es verschieben sich die Rahmenbedingungen bei den Zulieferern und bei uns: Der Kostenfaktor in der „alten Welt“ sind Motor und Getriebe, wogegen bei der Elektromobilität die Batterie der mit Abstand größte Kostenblock ist.
Herr Loydl, wie sehr bekommen Sie den Schwenk zur Elektromobilität zu spüren? Hat es überhaupt Auswirkungen auf die IT?
Loydl: Dadurch, dass wir direkt mit den Prozessveränderungen verzahnt sind, spüren wir natürlich den Wandel der Antriebsformen. Im Moment läuft bei uns die erste SAP-Anwendung für die Batteriefertigung an. Ein großer Teil der Themen, die wir in der technischen Entwicklung machen, betrifft auch die IT. Von daher ist es ein Schwerpunktthema im gesamten Veränderungsprozess der Audi-IT.
Auch die IT soll einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, Stichwort: Green IT. In Norwegen nutzen Sie bereits gemeinsam mit Volkswagen ein Rechenzentrum für Fahrzeugentwicklungsprojekte. Wo geht die Reise hin?
Loydl: Im Vergleich zur Fahrzeugfertigung fällt unser Anteil an CO2-Emissionen natürlich sehr viel kleiner aus. Dennoch gibt es auch in der IT bestimmte Instrumente, die in Summe zu mehr Nachhaltigkeit bei Audi beitragen. Alle Rechenzentren auf dem Werksgelände nutzen bereits Grünstrom. Ein weiteres Beispiel ist, dass wir das Drucken deutlich reduziert haben. So können wir ab dem kommenden Jahr circa 920 Tonnen CO2-Emissionen vermeiden. Auch bei neuen Geräten achten wir natürlich auf einen möglichst geringen Stromverbrauch. Altgeräte haben wir an gemeinnützige Institutionen gespendet, bevor sie im Müll landen. Auf Produktseite fahren wir mit der IT viele Optimierungsprogramme und Datenanalysen, die für einen nachhaltigen Wandel relevant sind. Zusammen mit dem Thema Cybersecurity sehe ich an dieser Stelle das größte Wachstumspotenzial.
Trotz aller Euphorie um die digitale Transformation wachsen die Sorgen vor Cybervorfällen. Der Hackerangriff auf die US-Firma Kaseya ist dabei nur ein prominentes Beispiel. Wie schützt Audi seine kritische Infrastruktur in Anbetracht der aktuellen Bedrohungslage?
Loydl: Wir arbeiten sehr stark an dem Thema Awareness. Viele Angriffe werden nach wie vor über Phishing-Mails gefahren. Da werden wir auch weiterhin intensiv für Aufklärung sorgen. Was die Gesamtstruktur angeht, agieren wir in Bereichen der Autonomie nach wie vor sehr konservativ und vorsichtig, das hat sich in der Vergangenheit bewährt. Ich gehe aber davon aus, dass Cybersicherheit in der IT in den nächsten Jahren am stärksten wachsen wird.
Zum Abschluss: Haben Sie beide eigentlich schon zusammen programmiert? Wie gut sind Ihre Coding-Skills, Herr Große-Loheide?
Große-Loheide: Gemeinsam haben wir das bisher noch nicht gemacht. Meine Skills sind in diesem Bereich aber definitiv noch ausbaufähig. In meinem bisherigen Berufsleben habe ich zwei Dinge gelernt: Erstens, dass das Wichtigste ist zu wissen, was man nicht kann, und zweitens, dass man niemals zu alt ist, noch etwas Neues zu lernen.
Loydl: Ich bin mir sicher, da kommt bald was (lacht).