Herr Krauss, im Februar 2013 fuhr der erste FlixBus von München nach Erlangen. Wie viel IT und Software von heute steckte damals schon in Ihrem Service?
Ich würde sagen, gut 25 Prozent. Von der Buchungsplattform, die wir seinerzeit nutzten, sind einige Elemente bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben. Auch unsere Data-Warehouse-Lösung steht technologisch noch immer auf demselben Fundament. Klar hat es über die Jahre hinweg an allen Ecken und Enden kontinuierliche Verbesserungen gegeben und wir sind von „on premises“ in die Azure Cloud von Microsoft umgezogen. Aber die Logik, mit der wir zum Beispiel Daten sammeln und auswerten – von Tag eins an bis heute –, hat sich kaum verändert. Und nicht zu vergessen: Eines der größten Alleinstellungsmerkmale von FlixBus war die Ausstattung der Busse mit WLAN – das war damals auch in Flugzeugen und Zügen keine Selbstverständlichkeit.
Viele CIOs in der Autobranche klagen über eine große IT-Legacy, auf der Hardwareseite wie auch bei den Applikationen …
(Lacht) Jammern gehört zum Geschäft. Das ist im Spannungsdreieck Innovationen, wachsende Funktionsumfänge und Kosten völlig normal. Wobei jeder CIO ja aber durchaus Einfluss darauf hat, auf welche Größe das unliebsame Erbe anwächst. Als Startup mussten wir die IT sehr schnell implementieren, um das Business zum Laufen zu bringen. Aber selbst wir tragen ein gewisses Erbe mit uns herum, weil beispielsweise unser zentrales Datenbanksystem im Laufe der Jahre monolithische Züge angenommen hat. Das muss ja aber nicht automatisch ein Nachteil sein. Time to market – allein das zählt. Im technologischen Umfeld ist die Dynamik heute so groß, dass den Teams schlicht und ergreifend die Zeit fehlt, um eine Architektur von vorne bis hinten zu durchdenken, Konzepte mit vielen hundert Seiten zu schreiben, Blaupausen abzuleiten und erst dann in die Umsetzung einzusteigen.
Wenn Sie einmal zurückdenken: Welche IT- oder Softwareherausforderung hat Sie in den vergangenen Jahren am stärksten auf Trab gehalten?
Das Interessante an unserem Geschäftsmodell ist, dass wir technisch gesehen die Herausforderungen zweier Welten beherrschen müssen. Züge sind in komplexen Netzen unterwegs, in denen es viele Haltestellen, Trassensysteme und Umsteigemöglichkeiten gibt. Aus der Zahl möglicher Kombinationen muss am Ende ein optimiertes und mit unserem Fernbus intermodal vernetztes Angebot entstehen, das für möglichst viele Kunden einen Mehrwert bietet. Beim Bus sind die Spielregeln andere: Bedienverbote, Grenzkontrollen et cetera – hier sieht das Prozessszenario Reiseplanung, Preisermittlung und -gestaltung völlig anders aus. Wir haben uns etliche Modelle aus der Luftfahrtbranche angesehen, uns dann aber entschieden, ein eigenes Tool zu entwickeln. Die Kombination aus Bus und Zug konnte kein bestehendes System abbilden.
Und das hat reibungslos funktioniert?
Ich gebe zu, dass wir die Herausforderungen zu Beginn etwas unterschätzt haben. Aber wir haben alle Probleme in den Griff bekommen. Heute sind wir technologisch Benchmark, nicht nur unter den Buchungssystemen in Europa, sondern weltweit. Bei uns finden Reisende einfach und schnell die Information, wie sie bestmöglich von A nach B kommen – egal ob sie mit dem Zug oder einem Bus fahren, egal ob sie in Deutschland, der Türkei oder in den USA unterwegs sind.
Sind günstige Ticketpreise ein erfolgskritischer Faktor?
Der Preis allein ist nicht der ausschlaggebende Punkt. Viel wichtiger ist, dass wir genau die Verbindungen anbieten, die die Menschen wollen. Welche Verkehrsträger wir künftig gemeinsam mit unseren Mobilitätspartnern einsetzen, muss sich zeigen. Wir sind offen für alles, was Sinn ergibt und umweltfreundlich ist. Von mir aus können das irgendwann auch autonome Fahrzeuge oder Hyperloops sein.
Ihr Unternehmen ist innerhalb weniger Jahre rasant gewachsen – vom Startup zum Marktführer. Konnte die IT dieses Tempo stets reibungslos mitgehen?
Nein, wir sind mehr als einmal an unsere Kapazitätsgrenze gestoßen. In Businessplänen und in Excel-Tabellen wird Unternehmenswachstum gerne steil linear abgebildet. Die Wirklichkeit aber ist herausfordernder. Niemand kann vorher wissen, wann genau sich die beste Chance dazu bietet, den Fahrbetrieb in einem neuen Land aufzunehmen oder durch eine Übernahme zu expandieren. Auf der IT-Seite versuche ich immer so zu planen, dass wir eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben und dazu in der Lage sind, neue Produkte zu entwickeln. Der entscheidende Punkt aber ist, dass am Markt entsprechende Fachkräfte oft nicht von heute auf morgen zur Verfügung stehen. Also muss ich akzeptieren, dass es immer wieder Situationen geben wird, in denen wir hinterherhinken und nicht so viel Personal an Bord haben, wie wir es aktuell bräuchten. Ein Backlog mit noch nicht bearbeiteten Aufgaben an sich stellt aber kein Problem dar: Bei FlixMobility haben wir einen agilen Entwicklungsprozess etabliert und sind es gewöhnt, unsere Projekte zu priorisieren.
Sie gelten als Freund der Inhouse-Entwicklung. Was macht FlixMobility alles selbst und was kaufen Sie zu?
Das stimmt überhaupt nicht. Ich rate nur dazu, diejenigen Programme selbst zu entwickeln, die den Kern des Unternehmens ausmachen, die wir brauchen, um unser Leistungsversprechen zu erbringen und uns gegenüber Wettbewerbern zu differenzieren. Wir haben bereits darüber gesprochen: Jede Eigenentwicklung hat einen langen Lebenszyklus und muss oft mit viel Aufwand am Laufen gehalten werden. Das sollte kein CIO unterschätzen. Unser Revenue-Management-System, unsere Planungssoftware, unser Buchungsprogramm – dafür gab es keine passenden Lösungen am Markt. Deshalb haben wir sie selbst entwickelt und heben uns heute damit vom Wettbewerb ab. Alles andere kaufen wir ein: Oracle Fusion Cloud, Workday, Salesforce. Die zugrundeliegende Prämisse ist Teil unserer IT-Strategie und lautet: Cloud only. Bei FlixMobility haben wir keine Kisten mehr im Keller.
Greift das Paretoprinzip? 20 Prozent selbst entwickelte Software, 80 Prozent Standardapplikationen?
Nein, das kommt nicht hin. Umgelegt auf unser Budget liegt das Verhältnis wohl eher bei 30 Prozent extern und 70 Prozent intern.
Empfinden Sie FlixMobility noch als Mobilitätsanbieter oder bereits als Softwareunternehmen?
Wir sind definitiv kein reines Softwareunternehmen wie Microsoft oder SAP und werden es auch nie sein. Wir verkaufen Mobilität. Sind wir mit unserer Plattform eine softwaregetriebene, stark digitalisierte Company? Auf jeden Fall. Es ist unser Alleinstellungsmerkmal, Kunden anzusprechen und ihnen passende Angebote zu vermitteln, den Buchungsprozess schlank und reibungslos zu gestalten und das Reiseerlebnis bestmöglich zu begleiten. Wir haben es geschafft, mit unserer digitalen Kompetenz eine Traditionsbranche extrem aufzuwerten.
Können Sie sich vorstellen, dieses Wissen mit anderen zu teilen und Interessenten Ihre Software zu verkaufen?
Generell ja. Allerdings hatten wir in der Vergangenheit schlicht und ergreifend keine Zeit, diese Idee zu verfolgen. Klar ist: Baut man Software mit dem Gedanken, sie zu verkaufen, ist sie in der Entwicklung schnell um den Faktor acht teurer. Skalierbare Architektur, Mandantenfähigkeit, Sicherheitsaspekte – das alles sind Punkte, die berücksichtigt werden müssen. Vom Produktsupport mal ganz abgesehen. Aber dennoch: Wir schließen nichts aus.
Sie konnten einen Mobilitätsanbieter auf der grünen Wiese schaffen. Wie sind Sie das angegangen, was war Ihr gedanklicher Startpunkt?
Wir wollten unternehmerisch tätig sein. Als 2013 die Liberalisierung des Fernbusverkehrs in Deutschland anstand, sind wir ohne Zögern auf den Megatrend Mobilität aufgesprungen. Es war schnell klar, dass wir die Busse nicht selbst kaufen oder leasen würden, weil sich diese Kapitalbindung nicht rechnen würde. Dann sind wir mit dem Partnerschaftsmodell gestartet – und es hat sich bewährt, weil alle Beteiligten einen unternehmerischen Part übernehmen und ein gemeinsames Interesse am Geschäftserfolg haben. Aktuell haben wir circa 500 Partner weltweit.
FlixBus, FlixTrains, FlixCar und FlixBus Mieten – haben Sie nun alle Puzzlestücke für Ihr Angebot zusammen? Oder sehen wir in Zukunft weitere grüne Verkehrsmittel auf den Straßen?
Mal grundsätzlich: Wir wollen Bodentransport auf der Langstrecke anbieten und verstehen uns als öffentliches Verkehrsmittel, das sich mehrere Reisende teilen. Das macht Flix-Fahrten günstig und ökologisch, egal ob mit Bus oder Zug. Wir sondieren den Markt kontinuierlich und schauen, wo sich sinnvolle Möglichkeiten auftun, unser Angebot zu ergänzen. Ad hoc haben wir aber nichts Konkretes in der Pipeline. Fest steht nur: Wir werden keine innerstädtischen Angebote aufbauen und in Konkurrenz zum ÖPNV treten. Und es wird auf absehbare Zeit auch keine FlixFlugzeuge geben. Wir sehen bei Bussen und vor allem bei Zügen noch reichlich Wachstumspotenzial. Wir wollen nicht nur in Deutschland unterwegs sein, sondern haben uns zum Ziel gesetzt, Europa zu verbinden. Covid-19 wird zeigen, dass man einige Strecken nicht mehr fliegen muss, sondern bequem mit dem Zug fahren kann.
Die IT stellt die geografische Erweiterung vor keine unlösbare Aufgabe, oder?
Im Gegenteil: Wir können unsere Mobilitätsplattform beliebig skalieren und müssen lediglich Sprache, Währungen, Steuersätze und so weiter konfigurieren. Diese Details sind lange vor Marktstart bekannt und können eingepflegt werden. Klar kommen vor Ort dann noch irgendwo neue Büros hinzu. Aber sobald die über einen Internetanschluss verfügen, können wir alle Tools, die unsere neuen Kollegen brauchen, sofort zur Verfügung stellen. Wir arbeiten mit einem internationalen Distributionspartner für mobile Endgeräte zusammen, der Notebooks und Smartphones ausliefert. Schon kann es losgehen.
Zum Schluss: Wie sieht für Sie ein gutes Kundenerlebnis im Mobilitätsbereich aus?
Wir wollen es Kunden so einfach wie möglich machen, bei uns Tickets zu buchen. Das geht inzwischen nicht nur am Computer oder über die App, sondern auch über die Sprachassistenten Alexa oder Google Assistent. Das ist die eine Seite. Die andere ist das Reiseerlebnis selbst – und da wird sich in Zukunft noch eine ganze Menge tun. In den USA experimentieren wir zum Beispiel mit Augmented-Reality-Anwendungen, um die Fahrt noch interessanter zu machen. Stellen Sie sich vor, Sie tragen im Bus oder Zug eine VR-Brille und können beim Blick aus dem Fenster ein perfekt auf die Strecke abgestimmtes Sightseeing-Programm absolvieren. Weiter in die Zukunft gedacht freue ich mich darauf, wenn Busse auf der Autobahn autonom fahren können – dann müssten sich die Fahrer nicht mehr ausschließlich auf den Verkehr konzentrieren, sondern könnten sich noch viel stärker um das Wohlbefinden der Passagiere kümmern. In drei bis fünf Jahren könnte es soweit sein.
Zur Person:
Daniel Krauss, Jahrgang 1983, hat zusammen mit André Schwämmlein und Jochen Engert 2011 FlixBus gegründet und verantwortet seither als CIO den Technology Stack des Mobilitätsunternehmens. Um die Themen Business Intelligence und Produktmanagement kümmert er sich ebenso wie um die Infrastruktur- und Softwareentwicklung. Krauss hat an der Fern-Universität Hagen Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Organisationsentwicklung studiert und an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Personalmanagement. Zur IT kam er über berufliche Stationen bei Siemens, IFS, Marquardt und Microsoft.