„Wehrindustrie wird keine Rettungsinsel der Autoindustrie“
Die Autoindustrie steckt im Umbruch – Jobverluste, Technologiewandel und geopolitischer Druck lenken den Blick auf die Wehrtechnik. Ein Interview mit Workforce-Expertin Sophia von Rundstedt zeigt, wie realistisch ein Branchenwechsel tatsächlich ist.
Martin LargeMartinLargeMartin LargeRedakteur
5 min
„Should I stay or should I change?“ – frei nach dem Hit von "The Clash" stehen viele Ingenieure vor der Frage, ob sie angesichts der Lage der deutschen Autoindustrie in ihrem angestammten Umfeld bleiben oder den Schritt in die Wehrindustrie wagen sollen, die lange als gesellschaftlich umstritten galt.Ideogramm
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Das ist nun wohl weniger eine Neuigkeit: Die deutsche Automobilindustrie steht massiv unter Druck – vor allem aus China. So weit, so schlecht. Heimische OEMs verlieren Marktanteile, während chinesische Hersteller und ein wachsendes Ökosystem aus Batterie-, Leistungshalbleiter-, Sensorik- und Software-Lieferanten in Europa immer stärker mitspielen.
Vor diesem Hintergrund rückt ein Feld neu in den Fokus, das lange weit weg schien: die Wehrindustrie.
Was früher Nischenarbeitsmarkt und politisch heikles Terrain war, wird heute zunehmend als industrielle Option und potenzieller zusätzlicher Absatz- und Beschäftigungsmarkt gesehen.
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Rüstungsindustrie als neuer Markt für deutsche Zulieferer
Schon jetzt sichern sich Teile- und Komponentenlieferanten aus dem Automotive-Umfeld Aufträge aus dem Rüstungsbereich, etwa der bayerische Zulieferer JOPP, der seine Spritzguss- und Zerspanungsanlagen nun auch für Komponenten militärischer Drohnen und unbemannter Fahrzeuge nutzt und bereits einen ersten Verteidigungsvertrag abgeschlossen hat, die Deutz AG, die neben Motoren für Bau- und Landmaschinen zunehmend Antriebsaggregate für Radpanzer und andere Militärfahrzeuge sowie Notstromsysteme für militärische Anwendungen liefert, oder Schaeffler, wo der Vorstand prüft, die über Jahre im Automotive-Sektor aufgebauten Kompetenzen gezielt als Zulieferer für verschiedene Waffensysteme in den Verteidigungsmarkt einzubringen. Parallel dazu wächst die Beschaffungsdynamik für gepanzerte Fahrzeuge, Logistikflotten und vernetzte Systeme, in denen Mechanik-, Elektronik- und Softwarekompetenz der Autoindustrie direkt andocken kann.
Prominente Beispiele wie die Diskussion um eine mögliche Nutzung des VW-Werks Osnabrück für Verteidigungsproduktion – öffentlich befeuert durch Aussagen des Rheinmetall-CEOs zeigen, dass industrielle Umrüstung kein theoretisches Gedankenspiel mehr ist.
Zugleich machen Meldungen, wonach die Bundeswehr Volkswagen als möglichen Partner für Militärfahrzeuge ins Spiel bringt, deutlich, dass die Schnittstellen zwischen den Sektoren inzwischen sehr konkret diskutiert werden.
Ebenso klar ist allerdings: Eine Konversion von Autofabriken zur Rüstungsproduktion ist komplex – von neuen Lieferketten über gepanzerte Werkstoffe bis hin zu Exportkontrollen und Sicherheitsauflagen.
Dual-Use-Perspektive und Beschäftigung
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Wichtig ist auch: Bislang gibt es keine großen Regierungsaufträge für deutsche Auto-OEMs, es geht vor allem um strategische Optionen und Dual-Use-Szenarien.
Volkswagen, die Porsche-Piëch-Holding und andere Akteure senden dennoch deutliche Signale der Öffnung hin zu Defence- und Dual-Use-Investitionen.
Auf technischer Ebene liegen die Schnittstellen auf der Hand: Leistungselektronik, Sensorik, Embedded-Software, Systemintegration sowie Test und Absicherung vernetzter Architekturen werden in Fahrzeugen wie in modernen Verteidigungssystemen gleichermaßen gebraucht.
Für die Branche stellt sich damit nicht nur die Frage nach Werken und Wertschöpfung, sondern auch nach Beschäftigten, Qualifikationen und Wechselbereitschaft.
Aber wie realistisch ist der Wechsel von Automotive-Ingenieuren in die Wehrtechnik, welche Profile werden tatsächlich gesucht und welche Vorbehalte bremsen?
Genau darüber haben wir mit der Sophia von Rundstedt, CEO beim Personalberatungsunternehmen von Rundstedt, gesprochen – im folgenden Interview ordnet sie die Perspektiven, Hürden und Chancen für Beschäftigte aus der Autoindustrie ein.
Wer aus der Automotive-Branche kommt, empfindet die Wehrindustrie trotz IG-Metall-Tarif oft nicht als finanziell attraktiv genug.
Sophia von Rundstedt. Personalberaterin
Frau von Rundstedt, was sind Vorbehalte und Hemmnisse, in die Wehrindustrie zu wechseln?
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Die Wehrindustrie sieht sich als Arbeitgeber mit sehr unterschiedlichen Vorhalten und Hemmnissen konfrontiert. Erstens: Das Beschäftigungspotenzial: Aufgrund der starken Reduzierung der Verteidigungsausgaben nach dem Kalten Krieg spielte die Wehrindustrie in der Bundesrepublik für die heute am Arbeitsmarkt aktiven Generationen eine periphere Rolle. Das Beschäftigungsvolumen war im Vergleich zu den Schlüsselindustrien Automotive, Maschinenbau und Chemische Industrie bis heute zu gering und stellte damit einen engen Nischen-Arbeitsmarkt dar. Zweitens: Weit verbreitete Vorbehalte in der Arbeitnehmerschaft: Hier spielt die lange Gewöhnung an die Friedensdividende nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine große Rolle. Die viel zitierte Zeitenwende nach dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine ist bis heute in weiten Teilen der bundesdeutschen Bevölkerung noch nicht in ihrer vollen Tragweise akzeptiert worden. Dies wird noch Jahre stringenter Überzeugungsarbeit von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften brauchen. Zudem das Gehaltsgefälle: Beschäftigten aus renommierten Industriekonzernen mit überdurchschnittlichen Gehältern fällt es besonders schwer, in Unternehmen der Wehrindustrie zu wechseln. Trotz des verbreiteten Personalabbaus bei ihren bisherigen Arbeitgebern erscheinen ihnen die finanziellen Konditionen der Wehrindustrie noch nicht attraktiv genug. Zwar wird hier überwiegend nach IG Metall-Tarif bezahlt, es fehlen jedoch häufig Sonderleistungen, die die Beschäftigten bereits in ihre langfristige private Finanzplanung bereits integriert haben. Darüber hinaus langwierige Prozesse und Prüfverfahren: Die langwierigen Abläufe in Freiwilligenprogrammen in schrumpfenden Industriebranchen sowie die aufwendigen Prüfverfahren vor einer Einstellung in einem Unternehmen der Wehrindustrie können den Jobwechsel hemmen oder sogar verhindern. Zusätzlich das Image der Wehrindustrie: Dieses ist nach wie vor stark vom Panzerbau und der Munitionsproduktion geprägt, obwohl die Branche inzwischen deutlich stärker von Produkten und Dienstleistungen der elektronischen Kriegsführung geprägt ist. Daher unterschätzen häufig Ingenieure und Facharbeiter aus anderen Industriebranchen attraktive Jobprofile in der Wehrindustrie.
Die Wehrindustrie war für die heute aktiven Generationen lange nur ein peripherer Nischen-Arbeitsmarkt – das rächt sich jetzt beim Hochlauf.
Sophia von Rundstedt. Personalberaterin
In welchen Bereichen sind Fachkräfte besonders gesucht?
Aufgrund des unter extremen Zeitdruck notwendigen Hochlaufs der gesamten Wehrindustrie werden von allen Unternehmen dieser Branche Fachkräfte gesucht. Aufgrund ihrer hochgradigen Spezialisierung sind es sehr unterschiedliche Bewerberprofile, die teilweise auch in anderen Branchen stark nachgefragt werden. Auf unserer fünften Workforce-Transformation-Konferenz hatten wir einen Personalvorstand eines renommierten Unternehmens der Wehrindustrie zu Gast, das u.a. Lasersysteme entwickelt. Er betonte den enormen Wachstumsschmerz, da die notwendige Skalierung von Entwicklung und Produktion einen erheblichen Personalaufbau in kurzer Zeit erfordert. Hier werden vor allem Ingenieure aus den Bereichen Elektronik, Mechatronik, Sensorik, Softwareentwicklung, Simulation, KI-Integration und Cybersecurity gesucht. Da sich auch Unternehmen, die bislang ausschließlich im zivilen Sektor engagiert waren, schrittweise in der Produktion von Ausrüstung für die Landesverteidigung betätigen werden, wird die Nachfrage nach spezialisierten Fachkräften noch steigen. Dies wird teilweise auch zur Abwerbung von Knowhow-Trägern aus langjährigen Unternehmen der Wehrindustrie führen. Dem Beispiel des Familienunternehmens Trumpf, das seine Lasertechnologie für den Aufbau von Drohnenabwehr-Systemen einsetzen will, werden sicherlich viele anderen Firmen folgen.
Welche Qualifikationen und Fähigkeiten sind für die Arbeit in der Wehrindustrie entscheidend?
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Aufgrund der Vielzahl der Zielprofile in der Wehrindustrie lässt sich diese Frage nicht pauschal beantworten. Aus unserer Beratung zur beruflichen Neuorientierung von Beschäftigten in der Automobilindustrie wissen wir, dass neben dem jeweiligen technischen Fachwissen (Micro Skills) auch die Macro Skills wie Systemdenken, Prozessdisziplin sowie die Kommunikation mit Behörden, Zertifizierungsstellen und NATO-Partnern sehr gefragt sind. Neben klassischen Stellenausschreibungen und Image-Kampagnen lohnt es sich für Unternehmen der Wehrindustrie daher, mit Instrumenten der Direktvermittlung aus abbauenden Industriebranchen zu arbeiten. Im engen Austausch mit ihren Fachexperten können auf diese Weise die Skills-Gaps der Ingenieure und Facharbeiter ermittelt werden und Optionen zur Überbrückung durch Qualifizierung vorgeschlagen werden. Dazu zählen betriebliche und überbetriebliche Personaldrehscheiben, die für die beteiligten Unternehmen und für die Arbeitnehmer im Karriereübergang Vorteile und Chancen generieren.
Ingenieure für Elektronik, Mechatronik, Sensorik, Software, Simulation, KI-Integration und Cybersecurity werden in der Wehrindustrie händeringend gesucht.
Sophia von Rundstedt. Personalberaterin
Wie gelingt es dennoch, Mitarbeitende zu einem Branchenwechsel zu motivieren?
Zunächst muss ein offenes Wort der Desillusionierung ausgesprochen werden: Die wachstumsstarke Wehrindustrie wird die Jobverluste in der schrumpfenden Automobilindustrie nicht kompensieren können. Derzeit arbeiten elfmal so viele Menschen im Automotive-Sektor wie in der Wehrindustrie. Selbst bei einem extrem starken Wachstum der Wehrindustrie in den nächsten Jahren, wird diese Branche für die Mehrheit der von Abbau betroffenen Beschäftigten der Automobilindustrie keine „Rettungsinsel“ werden. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft müssen hier alternative Lösungswege für die sozialpolitische Abfederung des Strukturwandels entwickeln. Beschäftigte in abbauenden Automotive-Unternehmen sollten daher zu einem offenen Branchenwechsel beraten werden. Unter bestimmten Voraussetzungen kann dieser auch zu einem Arbeitgeber aus der Wehrindustrie führen. Eines der größten Hemmnisse für einen Branchenwechsel aus der Automotive-Industrie, die eine Hochlohn-Branche ist, sind die teilweise erheblichen Gehaltsverluste. Hier können die Arbeitgeber aus der Automotive-Industrie durch attraktive Abfindungsregelungen Job-Brücken in andere Branchen bauen. Diese sollten jedoch mit Beratungsangeboten flankiert werden. Für viele Beschäftigte ist es nach langjähriger Tätigkeit in der Automobilindustrie schwer zu akzeptieren, dass ihre Kompetenzen und beruflichen Erfahrungen auf dem externen Arbeitsmarkt deutlich weniger wert sind. Daher sollte die psychologische Komponente beim Branchenwechsel nicht unterschätzt werden. Unsere Projekte in der Automobilindustrie, seien es Personaldrehscheiben, Freiwilligenprogramme, Outplacement oder Transfergesellschaften, zeigen die dringende Notwendigkeit für eine umfassende Unterstützung von Automotive-Beschäftigten beim Branchenwechsel. Dabei bietet die Wehrindustrie einer Minderheit von ihnen eine gute Chance für einen beruflichen Neustart.
Über die Interviewpartnerin
Sophia von Rundstedt ist eine Expertin für Workforce
Transformation in DACH. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin der
gleichnamigen Beratung für Personalveränderung, die ihr Vater vor 40 Jahren
gegründet hat.