8,2 Milliarden Euro. So viel Umsatz machten die Top 25 IT-Dienstleister 2024 in Deutschland. Diese konstant hohe Zahl verdeutlicht die strategische Bedeutung technologischer Partnerschaften. Doch wie gelingt es OEMs, digitale Innovationen nachhaltig zu skalieren, ohne in Abhängigkeit zu geraten? Welche Rolle spielen Plattformen, Governance-Modelle und neue Technologien wie Agentic Systems oder digitale Zwillinge?
Antworten auf diese Fragen liefert Prof. Dr. Nils Urbach, einer der führenden Experten für digitale Transformation in der Industrie. Er ist Professor für Wirtschaftsinformatik & Digital Business an der Frankfurt University of Applied Sciences, Direktor des Research Lab for Digital Innovation & Transformation (ditlab) sowie Direktor am FIM Forschungsinstitut für Informationsmanagement. Zudem ist er stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des Institutsteils Wirtschaftsinformatik am Fraunhofer FIT. Mit seiner Forschung und Beratungstätigkeit begleitet er Unternehmen auf dem Weg in die digitale Zukunft.
Herr Urbach, Wie verändert sich aktuell die strategische Rolle von IT-Dienstleistern in der Automobilindustrie im Kontext softwaredefinierter Fahrzeuge (SDV)?
Die Rolle der IT-Dienstleister verschiebt sich deutlich von der reinen Umsetzung hin zur Co-Innovation. Im Zeitalter softwaredefinierter Fahrzeuge sind IT-Dienstleister nicht mehr nur verlängerte Werkbank, sondern strategische Partner in der Produktentwicklung. Sie bringen Know-how in Bereichen wie Embedded Systems, Cloud-native Architekturen, DevOps und Cybersecurity ein, also genau dort, wo OEMs oft Kompetenzlücken haben. Gleichzeitig müssen sie sich stärker auf Produktlogik, agile Entwicklung und Lifecycle-Management einstellen.
Welche Governance-Modelle halten Sie für besonders geeignet, um die Zusammenarbeit zwischen OEMs und IT-Dienstleistern effizient und innovationsfördernd zu gestalten?
Hybride Governance-Modelle, die klassische Steuerung mit agilen Kollaborationsformen verbinden, sind aktuell am wirksamsten. Erfolgreiche Beispiele zeigen sich dort, wo OEMs zentrale Leitplanken (z. B. Architektur- und Plattformentscheidungen) definieren, aber in der Umsetzung auf autonome, cross-funktionale Teams setzen, idealerweise mit gemeinsamen KPIs und klar verteilten Verantwortlichkeiten. „Co-Creation Governance“ mit iterativer Steuerung, integriertem Feedback und geteiltem Risiko- und Wertemodell ist besonders innovationsfördernd.
Welche Erfolgsfaktoren sehen Sie für OEMs, um digitale Innovationen gemeinsam mit IT-Partnern nachhaltig zu skalieren?
Ein zentraler Erfolgsfaktor für OEMs bei der nachhaltigen Skalierung digitaler Innovationen mit IT-Partnern ist strategische Klarheit. Es muss eindeutig definiert sein, welche digitalen Produkte oder Plattformen skaliert werden sollen und mit welchem geschäftlichen Ziel, sei es Effizienzsteigerung, Kundenerlebnis oder neue Erlösmodelle. Ohne diese Zielorientierung drohen Projekte in der Experimentierphase zu verharren. Zweitens ist technologische Modularität entscheidend. Nur wenn Softwarearchitekturen, Schnittstellen und Datenmodelle standardisiert, entkoppelt und wiederverwendbar sind, lassen sich Innovationen effizient über Fahrzeuglinien, Märkte oder Regionen hinweg ausrollen. Drittens hängt die Skalierbarkeit maßgeblich von einer partnerschaftlichen Umsetzung ab. IT-Dienstleister müssen frühzeitig eingebunden werden, nicht erst in der Delivery, sondern bereits in der Konzeptions- und Designphase. Erfolgreiche OEMs setzen dazu auf gemeinsame Teams, iterative Entwicklungsmodelle und geteilte KPIs. Besonders wirksam sind sogenannte „Innovation Hubs“ oder Co-Creation-Modelle, in denen internes und externes Know-how gezielt zusammengeführt wird. Damit entsteht nicht nur technologischer Fortschritt, sondern auch eine gemeinsame Innovationskultur.
Wie bewerten Sie die zunehmende Tendenz von OEMs, eigene Softwareeinheiten aufzubauen– als Ergänzung oder Konkurrenz zu klassischen IT-Dienstleistern?
Diese Entwicklung erachte ich als ambivalent. Einerseits stärken eigene Softwareeinheiten die digitale Souveränität der OEMs und fördern internes Know-how. Andererseits entstehen Schnittstellenkonflikte und komplexe Abhängigkeiten zu klassischen IT-Dienstleistern. Entscheidend ist, ob es gelingt, klare Rollen zu definieren: Die interne Softwareeinheit als Produktverantwortlicher und Architekt, der Dienstleister als Implementierungs- und Skalierungspartner. Wird das strategisch sauber orchestriert, ergänzen sich beide Seiten sehr gut.
IT-Dienstleister müssen frühzeitig eingebunden werden, nicht erst in der Delivery, sondern bereits in der Konzeptions- und Designphase.
Nils Urbach
Welche Rolle spielen Plattformstrategien und digitale Ökosysteme in der Zusammenarbeit zwischen OEMs und IT-Dienstleistern?
Sie sind der Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit. Plattformen ermöglichen es, neue Funktionen über OTA-Updates auszurollen, Third-Party-Services zu integrieren und datenbasierte Geschäftsmodelle zu realisieren. IT-Dienstleister müssen hier nicht nur technisches Plattform-Know-how mitbringen (z. B. Kubernetes, Data Mesh), sondern auch ein Verständnis für Governance, Monetarisierung und API-Strategien. Die Fähigkeit, Ökosysteme aktiv zu gestalten, also Partner zu integrieren, Standards zu setzen und Interoperabilität zu gewährleisten, wird zum strategischen Differenzierungsfaktor.
Wie verändert sich Ihrer Einschätzung nach die Machtbalance zwischen OEMs und IT-Dienstleistern durch den zunehmenden Einfluss von Cloud- und KI-Technologien?
Die technologische Macht verschiebt sich. Wer Cloud- und KI-Kompetenzen beherrscht, setzt die Standards. Große Hyperscaler und global aufgestellte IT-Dienstleister nehmen daher zunehmend eine Gatekeeper-ähnliche Rolle ein. Für OEMs bedeutet das: Sie müssen souverän bleiben, durch Multicloud-Strategien, Open-Source-Orientierung und gezielte Eigenentwicklungen in sensiblen Bereichen wie KI-Modellen oder Fahrzeugdatenmanagement. Gleichzeitig gilt: Wer früh und partnerschaftlich mit diesen Akteuren kooperiert, kann erhebliche Innovationsvorteile erzielen.
Welche Risiken sehen Sie in der wachsenden Abhängigkeit von wenigen großen IT-Dienstleistern für die digitale Souveränität von OEMs?
Die wachsende Abhängigkeit von wenigen großen IT-Dienstleistern birgt für OEMs erhebliche Risiken in Bezug auf ihre digitale Souveränität. Besonders kritisch ist die Gefahr eines strategischen Lock-ins, sei es durch proprietäre Plattformen, einseitige Vertragsbeziehungen oder die Konzentration von Schlüsselwissen beim Partner. In solchen Fällen geraten OEMs in eine strukturelle Abhängigkeit, die ihre technologische Handlungsfähigkeit einschränkt und langfristig Innovationskraft und Verhandlungsmacht untergräbt. Um dem entgegenzuwirken, ist eine aktive Steuerung der Partnerlandschaft erforderlich. Dazu gehören technologische Redundanzen, etwa durch Dual-Vendor-Strategien oder offene Schnittstellen, sowie ein konsequenter Einsatz von Open-Source-Komponenten in sicherheits- oder geschäftskritischen Bereichen. Ebenso wichtig ist der gezielte Aufbau interner Kompetenzen, um zentrale Architekturen und digitale Assets langfristig selbst steuern zu können. OEMs sollten ihre IT-Partner regelmäßig auditieren, ihre Abhängigkeiten transparent machen und partnerschaftliche Modelle etablieren, die neben der technischen Lieferung auch Wissenstransfer und gemeinsame Roadmap-Entwicklung vorsehen. Digitale Souveränität entsteht nicht durch Abschottung, sondern durch strategische Unabhängigkeit innerhalb verlässlicher Partnerschaften.
Die wachsende Abhängigkeit von wenigen großen IT-Dienstleistern birgt für OEMs erhebliche Risiken in Bezug auf ihre digitale Souveränität.
Nils Urbach
Wie können OEMs sicherstellen, dass sie nicht nur Technologie einkaufen, sondern auch digitale Kompetenzen intern aufbauen?
„Build-and-Transfer“-Modelle sind hier zentral: Projekte werden gemeinsam mit IT-Partnern umgesetzt, aber parallel erfolgt gezielter Kompetenzaufbau beim OEM, etwa durch Pair Programming, interne Communities of Practice oder Rotationen. Auch der Aufbau interner Tech Academies und Innovationslabore trägt dazu bei. Wichtig ist, dass digitale Kompetenz nicht nur in der IT-Abteilung verankert wird, sondern in Produktentwicklung, Strategie und Geschäftsmodellen mitgedacht wird.
Welche Unterschiede beobachten Sie in der Zusammenarbeit von OEMs mit globalen IT-Dienstleistern im Vergleich zu spezialisierten europäischen Anbietern?
Globale Dienstleister punkten mit Skalierung, Prozessstandardisierung und Zugriff auf globale Talentpools, besonders bei großen Transformationsprogrammen oder IT-Betrieben. Europäische Spezialisten bringen dafür oft tiefere Branchenexpertise, kulturelle Nähe und eine höhere Anpassungsfähigkeit mit. Erfolgreiche OEMs kombinieren beide Typen strategisch: Global Player für Skalierung und Effizienz, europäische Partner für innovationsnahe, strategische Projekte.
Welche Trends sehen Sie für die nächsten fünf Jahre in der Zusammenarbeit zwischen OEMs und IT-Dienstleistern – insbesondere im Hinblick auf KI, Agentic Systems und digitale Zwillinge?
In den kommenden Jahren wird sich die Zusammenarbeit zwischen OEMs und IT-Dienstleistern fundamental verändern, nicht nur technologisch, sondern auch in ihrer Grundlogik. Künstliche Intelligenz wird dabei eine zentrale Rolle spielen: Sie wird zunehmend in Entwicklungs-, Test- und Betriebsprozesse integriert, etwa durch automatisierte Codegenerierung, intelligente Assistenzsysteme in der Softwareentwicklung oder prädiktive Funktionen im Fahrzeugbetrieb. IT-Dienstleister müssen daher nicht nur klassische Softwarekompetenzen mitbringen, sondern auch fundiertes Know-how in der Integration und verantwortungsvollen Anwendung von KI. Gleichzeitig gewinnen sogenannte Agentic Systems, also autonome, KI-basierte Softwareagenten, an Bedeutung. Sie ermöglichen eine neue Form der Interaktion zwischen Fahrzeug, Backend und Nutzenden und verändern grundlegend, wie Funktionen orchestriert und Entscheidungen getroffen werden. Um hier gemeinsam erfolgreich zu sein, braucht es enge Kooperationen bei der Entwicklung von Standards, Sicherheitsmechanismen und ethischen Leitplanken. Auch digitale Zwillinge werden immer wichtiger als Bindeglied zwischen physischer Welt und digitalen Services. Sie eröffnen neue Möglichkeiten in Simulation, Wartung, Qualitätssicherung und datengetriebenen Geschäftsmodellen. Für OEMs und IT-Dienstleister bedeutet das, dass die Zusammenarbeit technischer, integrativer und zugleich strategischer wird. Wer frühzeitig in gemeinsame Plattformen, Datenmodelle und Governance-Mechanismen investiert, verschafft sich klare Vorteile – technologisch wie wirtschaftlich.