In den kommenden Jahren stehen Verschärfungen bei den EuroNCAP-Crashtests und auch bei den gesetzlichen Regelungen an. Was genau ist geplant?
Es werden zahlreiche Richtlinien auf den neuesten Stand gebracht. Dabei geht es vor allem darum, Unterschiede bei Gewicht, Statur und Geschlecht stärker zu berücksichtigen. Bisher sind Airbags und Gurte an abstrakten Normpersonen ausgerichtet. In Wahrheit sitzen aber ganz unterschiedliche Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Alte, Junge, Dicke und Dünne im Auto, die alle möglichst gut gesichert werden müssen. Bei einem Kind sollte man den Gurt beispielsweise nicht so stark straffen wie bei einem Erwachsenen, da der Körper nur geringe Kräfte aufnehmen kann. Die Rückhaltesysteme werden daher künftig steuerbar sein.
Wie lassen sich Statur und Gewicht von Insassen denn feststellen?
Wir haben eine Software entwickelt, die mit Kamerahilfe einschätzt, wie groß und wie schwer eine Person ist. Und auch, wo sich ihre Gliedmaßen befinden. Das System kann zum Beispiel erkennen, wenn der Fahrer mit der rechten Hand das Infotainment bedient oder den Kopf zu den Fondinsassen dreht. Auf dieser Basis können wir auch prognostizieren, wie sich die Gliedmaßen im Crashfall verhalten. Über diese Prognose errechnen wir, wie sich der Airbag aufblasen muss, damit er den Insassen während des Aufpralls sehr gut schützt. Auch das eingesetzte Gasvolumen sowie die Airbag-Abström-Öffnungen – und damit die Härte des Airbags - selbst sind künftig steuerbar.
Die Erkennung der Sitzposition dürfte auch in künftigen autonomen Fahrzeugen eine wichtige Rolle spielen.
Schon heute haben wir es nicht immer mit der klassischen Sitzposition zu tun. In Chauffeurs-Fahrzeugen finden Sie bereits Sitze wie in der Business-Klasse eines Flugzeugs! Komfort-Sitzpositionen benötigen allerdings spezielle Rückhaltesysteme, um den Insassen gut zu schützen. So können zum Beispiel Sitzrampen-Airbags dazu beitragen bei einer Kollision ein Durchrutschen des Insassen unter dem Gurt zu vermeiden. Helfen können auch aktive Sitzsteuerungen und Sicherheitsgurte, die schon vor dem Crash Fahrer und Sitz in die ideale Position bringen. Das machen wir heute mit Pyrotechnik, künftig auch mit elektrischen Stellmotoren – die E-Mobilität schafft die Möglichkeit, solche Antriebe mit sehr viel mehr Strom und Spannung zu versorgen, so dass sie deutlich schneller und kräftiger werden.
Hat die E-Mobilität noch auf andere Weise Einfluss auf die passive Sicherheit?
Ein wichtiges Thema für uns ist das höhere Fahrzeuggewicht von E-Autos. Und auch die hohe Steifigkeit durch den massiven Akku im Unterboden, der bei einem Crash nicht nachgibt, also keine Verformung zulässt. Dadurch wirken stärkere Beschleunigungskräfte auf die Insassen ein, die über die passiven Sicherheitssysteme wieder abgefangen werden müssen.
Geschieht das vor allem mit dem Airbag oder über den Gurt?
Der Gurt macht immer die größte Arbeit der Verzögerung, der Airbag nimmt dann die Spitzen weg, federt noch einmal weich ab. Es ist wichtig, das Zusammenspiel zu beherrschen und beide Systeme optimal aufeinander abzustimmen. Hinzu kommt die Verknüpfung mit den aktiven Sicherheitssystemen und ihren Sensoren – von der Kamera bis zu Radar. Für uns ist es beispielsweise wichtig zu wissen, von welcher Seite ein Aufprall kommt.
Welchen Vorteil hat das?
Wenn Sie heute beispielsweise auf einen LKW auffahren, haben Sie über den Beschleunigungssensor ein Signal – und der Airbag löst aus. In Zukunft wird es so sein, dass das System beispielsweise erst einmal detektiert, dass der Beifahrersitz unbelegt ist. Dann nehmen wir die Signale aus den Assistenzsystemen und sehen vielleicht, dass es sehr viel schlauer wäre, nicht auf den Lkw aufzufahren, sondern ein wenig auszuweichen und einen überdeckten Aufprall mit der Beifahrerseite zu machen. Damit haben wir Möglichkeiten, nur die Fahrseiten-Airbags auszulösen und die Auslösung so zu modulieren, dass ich den Fahrer optimal auffange. Die so genannte „passive Sicherheitstechnik“ wird also zunehmend aktiver – hier verschwimmen die Grenzen mit der steigenden Leistungsfähigkeit der Systeme.
Passive Sicherheitstechnik bleibt also wichtig. Wie wird sich der Markt entwickeln?
In den etablierten Märkten sehen wir ein Wachstum zwischen 5 und 7 Prozent in den nächsten Jahren, also durchaus respektabel. Noch dramatischer ist die Situation in den neu aufkommenden Märkten, zum Beispiel in Indien. Dort waren beispielsweise bisher Seiten-Airbags nur in wenigen Fahrzeugen verbaut, es gibt hier also einen riesigen Nachholbedarf. Außerdem wissen wir natürlich, dass in einigen Ländern die Systeme nicht auf dem Niveau sind wie zum Beispiel in Europa. Das wird sich aber immer mehr annähern.
Trotz der positiven Aussichten will der ZF-Konzern aus dem Geschäftsbereich passive Sicherheit aussteigen. Wie kommt das?
Es ist ein großes Wachstumspotenzial da, aber Wachstum muss auch finanziert werden. Sie müssen in die Entwicklung und natürlich auch in Produktion investieren. Und nachdem ZF mitten in der Transformation zur Elektromobilität steckt, werden umfangreiche Mittel für den Umbau des Konzerns gebraucht. Daher streben wir eine Öffnung des Bereichs für Investoren an. Bis Ende des Jahres werden wir als eigenständiges, komplett autarkes Unternehmen aufgestellt sein, so dass eine Übernahme relativ reibungslos erfolgen könnte.