Cloudcomputing setzt sich immer stärker durch. IDC meldet, dass der weltweite Cloudmarkt allein im vorigen Jahr um 26 Prozent auf 233 Milliarden US-Dollar angewachsen ist. Laut Gartner entfielen davon auf IaaS (Infrastructure as a Service) und PaaS (Platform as a Service) zusammen 63,4 Milliarden Dollar – ein Plus von 42,3 Prozent –, das entspricht gegenüber anderen Cloudsegmenten einer deutlich größeren Zunahme.
Der Grund ist eine verstärkte Vertikalisierung der Angebote: Inzwischen gibt es spezielle Plattformen für das Gesundheitswesen, für den Handel und vor allem für die Fertigungsindustrie. Unter dem Begriff „Industrial Cloud“ tummeln sich bereits über zwei Dutzend Anbieter auf diesem Gebiet. Ihre Lösungen umfassen sowohl hochspezielle Nischenprodukte als auch breit aufgestellte Branchenplattformen.
Volkswagen setzt auf Amazon Web Services
Die neuen Clouds bestehen meistens aus einer mehrschichtigen Architektur mit vielen vorgefertigten anwendungstypischen Komponenten. Sie reichen von der Streaming-Datenerfassung an der Edge über KI-Algorithmen für die Fertigungsoptimierung bis hin zur Integration unterschiedlicher Businesspartner. In der Automobilindustrie sind die gemeinsamen Anstrengungen von VW mit Amazon Web Services (AWS) beim Aufbau einer globalen Fertigungs- und Logistikplattform das bisher größte Einzelprojekt. Die Erwartungshaltung der Wolfsburger ist tatsächlich hoch: In den kommenden fünf Jahren soll die Produktivität in den Werken um 30 Prozent steigen.
Dazu müssen Digitalisierungsspezialisten aus dem Bereich Produktion und Logistik gemeinsam mit Plattformarchitekten aus der Unternehmens-IT mehr als 120 auf der ganzen Welt verteilte Fabriken in die Cloud heben, mit tausenden von Maschinen und Anlagen an jedem Standort. Planmäßig startete der Konzern 2019 mit Chemnitz, Wolfsburg und Polkowice (Polen). Jetzt wird die Schlagzahl erhöht und die Industrial Cloud breit ausgerollt: 2020 sollen bis zu 15 weitere Werke der Marken Audi, Seat, Skoda, Volkswagen Pkw, Volkswagen Nutzfahrzeuge, Porsche und VW Komponente angebunden werden.
Manche Pressen sind 30 Jahre alt
Der geografische Schwerpunkt liegt zunächst in Zentraleuropa. „Trotz Corona haben wir es geschafft, den Zeitplan für das technische Onboarding einzuhalten“, bestätigt Frank Göller, bei Volkswagen im Bereich Produktion und Logistik für die Digitalisierung zuständig. Heißt konkret: An den jeweiligen Standorten ist Konnektivität gegeben und die Industrial Cloud verfügbar. Dann aber geht die eigentliche Arbeit erst richtig los: Die Produktionshardware muss Schritt für Schritt angeschlossen werden.
Leider ist Volkswagen kein Startup, das nur mit neuen Maschinen hantiert – einige Pressen sind 30 Jahre und älter, laufen aber immer noch stabil und zuverlässig. Eine Leitfrage bei der Migration lautet daher, an welchen Stellen Sensoren und neue Steuergeräte überhaupt Sinn machen. „Es gibt Anlagen, die können einfach und schnell über eine OPC-UA-Schnittstelle mit dem Internet verbunden werden. Es gibt aber auch Prozesse, die Überbrückungslösungen brauchen und bei denen wir uns zunächst eine Orientierung verschaffen müssen, in welcher Höhe Folgeinvestitionen nötig sind“, so Frank Göller.
Fehlervermeidung in Logistik und Montage
Mit Siemens steht ein ausgewiesener Fachpartner an der Seite von Volkswagen, der dabei unterstützt, die Konnektivität in unterschiedlichen Anwendungsfällen herzustellen. Klar ist aber auch, dass VW die in den Werken installierte Produktionstechnik nicht durch komplett neue Hardware ersetzen kann. Vielmehr wird ein Schulterschluss zwischen OT und IT angestrebt. „In Zusammenarbeit mit den Ausrüstern machen wir Betriebsdaten aus den Maschinen und Anlagen verfügbar“, erklärt Roy Sauer, in der Group-IT verantwortlich für die Enterprise- und Plattformarchitektur.
Genau deshalb habe man sich für AWS und eine offene Plattformlösung entschieden – sie biete die Möglichkeit, ein möglichst großes Ökosystem aufzubauen und zu einem späteren Zeitpunkt auch Lieferanten einzubinden. Sauer: „Mit der Industrial Cloud haben wir die Chance, die Prozesse aller Partner in der Wertschöpfungskette zu optimieren.“ Am Ende soll auf der Habenseite ein Effizienzplus in der Produktion sowie im IT-Betrieb stehen. Für das Qualitätsmanagement wird zum Beispiel die vorausschauende Vermeidung von Fehlern ein Riesenthema sein.
Mit hochautomatisierten Prozessen und eingewebter KI können Fehlteile in der Logistik und der Einbau falscher Teile am Montageband vermieden werden. Zudem wird es auf der Plattform zu Skaleneffekten kommen, die sich positiv auswirken – sei es nun in den Bereichen Technologie, Security, Compliance oder Vertragsmanagement. „Jede Position, in der wir unseren Aufwand verringern können, zahlt auf das positive Gesamtergebnis ein“, sagt Roy Sauer.
Renault kooperiert mit Google
Auch Google und die Renault-Gruppe kooperieren beim Thema Cloud. Laut den Franzosen zielt die technologische Partnerschaft darauf ab, „die Digitalisierung der weltweiten Industrieanlagen sowie Industrie 4.0 voranzubringen“. Zudem sollen die Lieferketten optimiert werden, mehr Effizienz in der Fertigung entstehen, eine bessere Produktqualität und eine geringere Umweltbelastung. Renault setzt dabei vor allem auf Googles Erfahrungen mit KI, ML und Analytics. „Durch die Zusammenarbeit mit Google wollen wir nicht nur den Einsatz von Industrie 4.0 schneller voranbringen, sondern auch die digitale Transformation unserer weltweiten Produktionsanlagen mit allen Logistikpartnern verbessern und beschleunigen“, sagt José Vicente de los Mozos, in der Renault-Gruppe für Produktion und Logistik verantwortlich.
Google unterstützt Renault tatkräftig mit Knowhow und industriegerechten Angeboten. Auf den ersten Blick erscheint diese Kooperation anderen Projekten von Cloudanbietern mit großen Herstellern zu ähneln. Doch es gibt bemerkenswerte Unterschiede. „Im Gegensatz zu vielen anderen legen wir allergrößten Wert auf eine Unabhängigkeit der jeweiligen Lösung, beispielsweise gehen wir kein Joint Venture mit einem OEM ein“, lautet die Strategieerklärung von Dominik Wee, Director Manufacturing, Industrial and Transportation bei Google. Als Beispiel für diesen offenen Ansatz verweist er auf die jüngst eingegangene Mitgliedschaft in der OPC-Foundation, einer Organisation, die sich um offene Standards beim Datenaustausch unterschiedlicher Hersteller in der IT- und Automatisierungstechnik bemüht. Die Organisation hat über 700 Mitglieder, davon 222 aus Deutschland, unter anderen Bosch, Siemens, Kuka, SAP und VW.
BMW und Microsoft entwickeln eine Plattform
Microsoft setzt mit der Azure Cloud ebenfalls auf vertikale und anwendungsspezifische Plattformen in der Automobilbranche. Seit einem Jahr kooperieren Microsoft und BMW beim Aufbau der Open Manufacturing Platform (OMP). Dabei handelt es sich um eine spezielle Technologieplattform für die Automobil- und Fertigungsindustrie. Ziel ist es, die Entwicklung industrieller IoT-Anwendungen maßgeblich zu beschleunigen. Die Plattform basiert auf der IoT-Cloudplattform von Azure und bietet eine Industrie-4.0-Referenzarchitektur mit zahlreichen Open-Source-Komponenten. Das alles gründet auf einem offenen Datenmodell und unterstützt den OPC-UA-Standard. Hersteller, Zulieferer und Partner sollen keine komplett neue Software mehr entwickeln, sondern weitestgehend bereits vorhandene Module nutzen. Hinzu kommt eine bessere Kollaboration des heterogenen Ökosystems in der globalen Automobilbranche.
Mehrere Unternehmen sind bereits der OMP beigetreten, unter anderem die Zulieferer Bosch und ZF. „Für uns ist die OMP ein wichtiger Wegbereiter, um unsere digitalen Fertigungsfähigkeiten weiterzuentwickeln und die aktuellen und künftigen Anforderungen für die nächste Stufe von Industrie 4.0 zu erfüllen“, gibt der IT-Chef von ZF, Jürgen Sturm, als Grund für das neu eingegangene Engagement an. Trotzdem ist die Akzeptanz bislang geringer, als man es anfangs erhofft hatte. Bereits Ende 2019 sollten „vier bis sechs Partner und 15 Anwendungsfälle in ausgewählten Produktionsumgebungen“ eingeführt sein. Doch dieses Ziel wird wohl auch Ende 2020 nicht erreicht.
Lösungen werden branchespezifischer
Auch traditionelle Softwareanbieter wie Oracle und SAP haben branchenspezifische Lösungen entwickelt. Beide Unternehmen portierten ihre klassischen On-Premises-Lösungen für die Automobilbranche in die Cloud und profitieren jetzt von einer nahtlosen Integration der Business- und Backoffice-Welten mit der Fertigung. Oracle verweist auf die „Synchronisation aller weltweiten Geschäftsaktivitäten, inklusive aller Zulieferer“. Als ein besonders wichtiger Partner gilt Bosch Rexroth. Das Unternehmen bietet eine fertigungsspezifische Cloudlösung an, bei der die von einem IoT-Gateway gesammelten Daten analysiert, visualisiert und gespeichert werden.
Außerdem verbindet Oracles IoT-Cloud das Gateway über Processing-Apps mit weiteren speziellen IoT-Clouddiensten. Die Echtzeitdaten des Gateways werden von Oracle zusätzlich dahingehend genutzt, dass ein Digital Twin der Maschine erstellt werden kann. Boschs Kooperation mit Oracle ist vom Prinzip her ähnlich gelagert wie die Kooperation von Siemens und SAP bei der Mindsphere-Plattform. Diese beiden Angebotsformen fallen dann schon in eine dritte Kategorie der Industrial-Cloud-Plattformen, die von Design- und Automatisierungsunternehmen betrieben werden. Unter anderem bieten General Electric (GE), Honeywell und PTC hochspezielle industrieorientierte Plattformen an, die sich vorwiegend auf IIoT, Event Monitoring und weitreichende Analytics fokussieren.
Geschütztes Wissen: Industriecloud mit Datenschließfach
Der Volkswagen-Konzern nutzt keine digitale Produktionsplattform von der Stange. Vielmehr entwickeln die Wolfsburger gemeinsam mit Amazon Web Services industriespezifische Services, die der Provider irgendwann vielleicht einmal standardmäßig zur Verfügung stellen wird. Klar ist aber auch, dass die Daten, die im Rahmen dieser Services genutzt werden, eindeutig im Besitz von Volkswagen verbleiben. Architektur und Schutzmechanismen ermöglichen es VW, die Datenhoheit vollumfänglich auszuüben. Das gilt ebenso für alle heutigen und zukünftigen Partner, die die Industrial Cloud nutzen – die Daten verbleiben stets im Besitz des jeweiligen Unternehmens. Man muss sich das ähnlich vorstellen wie ein Bankschließfach: Die Bank als solche ist bereits gut geschützt, zum Inhalt eines Datenschließfachs aber hat nur der jeweilige Besitzer Zugang.