Ein Zettel mit der Aufschrift Homeoffice klebt an einer Bürotür.

Das kollektive Homeoffice und die Produktionsstopps verlangen nach einem digitalen Wandel in der Autobranche. (Bild: Shutterstock/KornT)

Manches Unternehmen in der Autobranche zögerte bis zuletzt, seine tradierte Geschäftspraxis abzulegen, Investitionen zu wagen und eine digitale Transformation der gesamten Wertschöpfungskette anzustoßen. Seit Jahren ist Digitalisierung zwar ein beliebtes Schlagwort, doch erst die Coronakrise offenbart, welch enormer Handlungsbedarf noch immer besteht.

Absatzverluste erhöhen Stellenwert der IT

Verwaltungs- und Arbeitsprozesse, Produktion und Logistik, Vertrieb und Handel – alle Geschäftsbereiche standen im Verlauf nur weniger Wochen auf dem Prüfstand. Obwohl sich der chinesische Absatzmarkt verhältnismäßig schnell erholt hat, verbesserte sich die Lage für OEMs und Zulieferer kaum.

In Europa droht laut Felix Mogge, Partner des Beratungsunternehmens Roland Berger, ein Absatzverlust von 20 bis 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In den USA könnten es aufgrund der hohen Anzahl vorproduzierter Fahrzeuge und der stark angestiegenen Arbeitslosigkeit gar 40 Prozent sein. Die Bedeutung von Informationstechnik wird in dieser Situation weiter zunehmen, meint auch Bitkom-Präsident Achim Berg. Je digitaler ein Unternehmen aufgestellt ist, desto schneller wird es sich von den Folgen des Shutdowns erholen.

Das Management steht vor einer Pflichtaufgabe

Kostenreduktion, Flexibilität und Transparenz sind in der Krise zu entscheidenden Transformationsaspekten geworden. Projekte, die hinsichtlich dieser Ziele keinen unmittelbaren Effekt aufweisen, werden aufgrund der zunehmenden Liquiditätsprobleme oftmals gestoppt oder verschoben.

Erster Ansatzpunkt für Erneuerung ist das Management – in zweierlei Hinsicht: Einerseits gilt es, die Organisationsstruktur zu überdenken, Papierberge und Verwaltungsaufwand zu reduzieren sowie endlich den „Digital Workplace“ zu priorisieren. Die schlagartig eingetretene Notwendigkeit des Home-Office hat vielen Unternehmen die eigenen Schwächen aufgezeigt. Jahrelang wurde der agilen Arbeitswelt keine Bedeutung zugemessen. Erst zahlreiche Betriebsschließungen haben ihr den notwendigen Schub verliehen, eine drohende zweite Infektionswelle macht sie nun für lange Zeit zum Pflichtprogramm.

Andererseits muss das Management Projekte anstoßen oder intensivieren, die einen krisenfesten Geschäftsbetrieb ermöglichen. Der Treiber für den Einsatz dieser intelligenten Technologien ist in erster Linie die IT-Abteilung. Trotzdem erkennt Mario Zillmann, Partner beim Beratungsunternehmen Lünendonk & Hossenfelder, in der Automobilbranche einen zunehmenden Hang zur externen Projektvergabe. „Diesen Trend beobachten wir beispielsweise im Engineering, also der Entwicklung von Fahrzeugsoftware.“

Eine Studie seines Beratungshauses zeigt, dass die Budgets für externe Dienstleistungen mitunter gekürzt werden, IT-Outsourcing in Verbund mit der Modernisierung veralteter Individualsoftware sowie dem Überführen von IT-Anwendungen in die Cloud jedoch wichtige Stellschrauben bleiben, um die IT-Kosten zu senken. Besser spät als nie, lautet wohl die Maxime in Krisenzeiten.

Transparenz und Flexibilität in der Produktion

Solider aufgestellt ist die Branche hingegen in der Produktion, immerhin wurde die Industrie 4.0 in den letzten Jahren deutlich vorangetrieben. Der teilweise existenzbedrohende Druck, softwaregestützte Fahrzeuge zu entwickeln und zu fertigen, hat insbesondere bei deutschen Autobauern zu einem belebenden Konkurrenzverhältnis geführt. Ohne Investitionen in die IT würden Tesla oder chinesische Hersteller ihnen den Rang ablaufen, fasst Mario Zillmann die Lage zusammen.

Bestraft werden in der Krise zudem Überkapazitäten sowie die ausufernde Hyperglobalisierung. Wie fragil die Lieferketten geworden sind, zeigen nicht nur die allerorts verschobenen Produktionsstarts, sondern auch die erneuten Unterbrechungen aufgrund von Komponentenmangel. Es liegt an den Unternehmen selbst, aus der jetzigen Situation zu lernen, indem bisherige Ansätze optimiert und Kapazitäten angepasst werden.

Da die eingeführten Hygienemaßnahmen sich zudem für längere Zeit negativ auf die Produktivität auswirken werden, seien Investitionen in die Produktionselastizität unabdingbar, merkt Analyst Felix Mogge an. Eine transparentere Lieferkette und die Möglichkeit, Produktionsvolumina zwischen einzelnen Werken hin und her zu schieben, sind angesichts eines möglichen zweiten Shutdowns wichtiger denn je.

Folgerichtig feiert die Prozessautomatisierung während der Krise eine Sonderkonjunktur. Doch während etwa im Bereich künstlicher Intelligenz noch ungenutztes Potenzial vorhanden ist, scheinen die manuellen Tätigkeiten in der Fahrzeugproduktion an anderer Stelle längst auf das Minimum reduziert. Der technologiebedingte Verzicht auf Arbeitskräfte ist demnach ein Trugschluss, dem die Branche nicht unterliegen sollte.

„Die Automatisierung erfordert in aller Regel eine erhebliche Investition, schafft im Zweifelsfall neue Kapazitäten und ist vergleichsweise unflexibel in Bezug auf Volumenschwankungen. Alle drei Dinge passen schwerlich zur momentanen Realität der Automobilindustrie in der Covid-19-Krise“, erläutert Roland-Berger-Berater Mogge.

Der Vertrieb ist zum Handeln gezwungen

Die Transformation des Managements mag ein notwendiges Übel und der Handlungsbedarf in der Produktion ein marginaler Feinschliff sein. Von grundlegenden Veränderungen im Automobilhandel aber hängt tatsächlich die Existenz der Hersteller ab. Zu lange haben sie die Digitalisierung der Verkaufskanäle nicht richtig in den Fokus genommen. Während das Marketing zu großen Teilen längst auf digitalen Pfaden wandelt, verharrt der Fahrzeugverkauf im letzten Jahrhundert.

Angesichts geschlossener Händlerbetriebe und vollstehender Autohöfe wird die Autobranche nun mit diesem Versäumnis konfrontiert und zu einer umfassenden Konsolidierung gezwungen. Die zahlreichen Maßnahmenpakete für Händlerbetriebe werden darüber wohl kaum hinweghelfen, glaubt Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach. „Die Konsolidierung ist ohnehin die ganzen Jahre im Gange gewesen und wird durch die Coronakrise wesentlich beschleunigt.“

Lediglich ein Drittel der Händler sei seinen Analysen nach gut aufgestellt, ein weiteres Drittel wären sogenannte Low Performer – und das seit Jahren. Der Ausbau des Onlinevertriebs samt digitalem Showroom, Kundenberatung per Datenbrille, Video-Calls mit Verkaufsberatern und vermehrt genutzte Online-Konfiguratoren könnten für viele Autohändler das Aus bedeuten.

Erst wenn sich der Direktverkauf über das Internet durchgesetzt hat, werden Beratung, Verkauf und Aftersales im einundzwanzigsten Jahrhundert ankommen. Eine nochmalige Schonfrist, das zeichnet sich bereits ab, wird es nicht geben.

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