
BMW nutzt die MBSE-Methodik, um ein durchgängiges Architektur- und Anforderungsmanagement zu ermöglichen. (Bild: BMW)
Stapelweise Anforderungen an das zu entwickelnde Fahrzeug, epische Excel-Tabellen mit Prüfplänen und Power Points, die vor bunten Systemarchitekturen nur so flirren. Verwirrende Vergangenheit. So lässt sich längst nicht mehr ein Auto entwickeln. Schon gar nicht das Software-Defined Vehicle, das auf bis zu 150 Millionen Zeilen Code basiert, etliche Steuergeräte sowie Softwaremodule mit der Mechanik orchestriert - und das per Over-the-Air-Updates ein Autoleben lang absolut zuverlässig funktionieren muss. Zugleich müssen OEMs strengere Emissionsvorschriften erfüllen und sich wachsendem Konkurrenzdruck stellen. Das Gebot der Stunde heißt: schneller und effizienter innovieren.
Was leistet Modellbasierte Systementwicklung?
Zeit für einen Paradigmenwechsel im Engineering. Zeit für Modellbasierte Systementwicklung, kurz: MBSE. „MBSE sorgt für eine durchgängige, modellgestützte Entwicklungsmethodik, die komplexe Systeme beherrschbar macht und gleichzeitig Qualität sowie Time-to-Market deutlich verbessert“, erklärt Michele Del Mondo, Global Advisor Automotive des Softwareherstellers PTC. Der entscheidende Unterschied: „Anstelle rein dokumentenzentrierter Prozesse verwendet MBSE systematisch digitale Modelle als primäre Informationsquelle.“
Dies ermögliche eine durchgängige, disziplinübergreifende und konsistente Entwicklung: „Modelle fungieren hierbei als zentrale Referenz und Kommunikationsbasis für alle am Entwicklungsprozess beteiligten Disziplinen.“ Dabei ersetzt MBSE lineares Arbeiten durch interdisziplinäre, modellbasierte Workflows. „Statt Spezifikationen in isolierten Dokumenten abzubilden, entstehen digitale Systemmodelle, die als ‚Single Source of Truth‘ fungieren“, präzisiert Del Mondo.
Komplexität wird beherrschbar
Der Effekt – und die Notwendigkeit einer solchen Methodik – lässt sich kaum besser illustrieren als an der automobilen Königsdisziplin des autonomen Fahrens. „Der MBSE-Ansatz gibt Konstrukteuren die Möglichkeit, die erforderliche Komplexität und das Verhalten hoch entwickelter Echtzeitfunktionen für autonome Fahrzeuge zu erfassen“, bemerkt Piyush Karkare, Director Global Automotive Industry Solutions bei Siemens PLM Software, in einem Whitepaper, „MBSE gewährt Entwicklungsteams einen Einblick in Interessens- oder Problembereiche und ermöglicht die eindeutige Kommunikation zwischen interessierten Parteien.“
Mehr denn je sei der MBSE-Ansatz heute erforderlich, um komplexes, multidisziplinäres und domänenübergreifendes Engineering zu bewältigen. Karkare: „Die Entwicklung autonomer Fahrzeuge erfordert ein umfassendes Portfolio integrierter Lösungen für das modellbasierte Systems Engineering und eine digitale Innovationsplattform, die eine Vielzahl von Entwicklungsaufgaben umfasst.“ Vom Design von Ein-Chip-Systemen über die Systemintegration von Elektrik, Software und Hardware bis zu Simulationen auf Fahrzeug- und Insassenebene.
Darum erobert MBSE das Engineering
In der Praxis nutzen Fahrzeughersteller und -zulieferer MBSE längst. ZF kombiniert MBSE mit digitalen Zwillingen, um komplexe leistungselektronische Systeme wie Inverter für E-Fahrzeuge zu modellieren, simulieren und validieren. Ziel ist es, durch modellbasierte Systemtests möglichst früh Funktionalität und Energieeffizienz abzusichern.
Auf einen Blick: Was ist MBSE?
MBSE steht für Model-Based Systems Engineering – also Modellbasierte Systementwicklung. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel im Engineering, der statt dokumentenzentrierter Prozesse digitale Modelle als zentrale Informationsquelle nutzt.
🔍 Warum MBSE?
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Klassische Entwicklungsmethoden mit Excel-Tabellen und PowerPoints stoßen bei modernen Fahrzeugen, besonders beim Software-Defined Vehicle, an ihre Grenzen
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Fahrzeuge enthalten heute bis zu 150 Millionen Zeilen Code, zahlreiche Steuergeräte und Softwaremodule – alles muss über den gesamten Lebenszyklus hinweg zuverlässig zusammenarbeiten
🛠️ Was leistet MBSE?
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Zentrale Modelle dienen als „Single Source of Truth“ und ermöglichen eine disziplinübergreifende Zusammenarbeit
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Die Entwicklung wird konsistenter, nachvollziehbarer und schneller – von der Idee bis zur Markteinführung.
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MBSE ersetzt lineares Arbeiten durch interdisziplinäre, modellbasierte Workflows
Softwareanbieter PTC bietet für solche Anwendungsfälle eine skalierbare Plattform, die modellbasierte Entwicklung, Anforderungsmanagement, Tests und Nachverfolgbarkeit in einem durchgängigen Workflow vereint. Volvo etwa nutzt diese, um eine durchgängige Modularisierung von Komponenten voranzutreiben, Entwicklungszyklen zu verkürzen und um besser auf kundenspezifische Anforderungen reagieren können. „Dabei zeigt sich, dass MBSE seinen Nutzen besonders dort entfaltet, wo Systemkomplexität, Variantendruck und Sicherheitsanforderungen gleichzeitig adressiert werden müssen“, betont Del Mondo.
BMW nutzt die SMArDT-Methodik (Systems Modeling Architecture for Requirements, Design and Test), um ein durchgängiges Architektur- und Anforderungsmanagement zu ermöglichen, das über mehrere Systemebenen hinweg Rückverfolgbarkeit und Qualität sicherstellt – unter anderem in sicherheitskritischen Steuergeräten. Zulieferer Veoneer wiederum nutzt MBSE im Engineering besonders bei Systemen wie Steer-by-Wire. Hier ist Echtzeit-Traceability entscheidend, um sicherheitskritische Normen zu erfüllen.
An diesen Beispielen zeigt sich, dass OEMs und Zulieferer nicht nur neue Technologien benötigen, um den Wandel zum Software-Defined Vehicle zu gestalten, sondern auch neue methodische Grundlagen. „MBSE gehört zu den zentralen Enablern dieses Wandels“, sagt Del Mondo. Modellbasiertes Arbeiten bringe eine Reihe Vorteile mit sich, sowohl für den Entwicklungsprozess als auch für das fertige Produkt: Allen voran beschleunigte Entwicklung durch parallele Prozesse.
„MBSE ermöglicht es, Anforderungen, Architektur und Testfälle synchron zu modellieren“, so der Experte, „Dadurch lassen sich Zielkonflikte oder Designfehler frühzeitig erkennen – lange bevor physische Prototypen gebaut werden.“ Validierungen könnten simulationsgestützt erfolgen, was die Anzahl realer Testzyklen reduziere. Das führt auch zu höherer Produktqualität und funktionaler Sicherheit: „Gerade bei sicherheitskritischen Komponenten, etwa im Bereich Fahrerassistenz oder Steuerung, ist Konsistenz essenziell“, unterstreicht Del Mondo. MBSE unterstützt die Einhaltung von Normen wie ISO 26262 (funktionale Sicherheit) oder ISO 21448 (SOTIF) durch integriertes Anforderungsmanagement, Rückverfolgbarkeit (Traceability) und systematische Verifikation. Inkonsistenzen zwischen Spezifikation, Umsetzung und Test werden minimiert.
Mehr als ein Methoden-Trend
Nicht zuletzt verbessert sich die Zusammenarbeit über Disziplingrenzen hinweg: Systemmodelle dienen als gemeinsame Kommunikationsgrundlage für Entwicklungsteams aus Software, Elektronik und Mechanik. „Anstelle statischer Lastenhefte entsteht ein lebendiges, gemeinsam gepflegtes Modell, das Änderungen transparent dokumentiert“, erklärt Del Mondo, „Die Kommunikation wird effizienter, das Risiko von Missverständnissen sinkt.“
Auf diese Weise gelinge es, nicht nur Transparenz und Konsistenz in der Produktentwicklung zu gewährleisten, sondern auch die Grundlage für Continuous Engineering, automatisierte Verifikation und langfristige Zukunftsfähigkeit im Software-Defined Vehicle zu schaffen. Für Del Mondo ist klar: „MBSE ist damit mehr als ein Methoden-Trend: Es ist ein Engineering-Paradigma für die nächste Generation mechatronischer Systeme.“