Herr Östberg, wo steht Ihr Betriebssystem MB.OS aktuell?
Die erste Version unseres MB.OS ist bereits in der E-Klasse verfügbar. Dort haben wir eine von vier Domänen in der Praxis. Das Feedback unserer Kunden ist sehr positiv und gleichzeitig unglaublich wertvoll für uns. Der zweite Teil, der bereits live ist, ist unser Cloud-Backend. Es ist das Gehirn unseres Systems. Es unterstützt uns bei OTA-Updates und ist hauptsächlich für die Datenverarbeitung zuständig. Dadurch sind wir in ständigem Kontakt mit all unseren Fahrzeugen und Kunden. Mit dem neuen CLA wird im kommenden Jahr das MB.OS dann vollumfänglich ausgerollt.
Wie definieren Sie für sich wettbewerbsdifferenzierende Inhalte, die Sie selbst entwickeln wollen und nicht nach außen geben würden?
MB.OS basiert auf einer sogenannten Chip-to-Cloud-Architektur, die sämtliche Domänen im Fahrzeug mit unserem Cloud-Backend verknüpft. Wir sind und bleiben die Bauherren und Projektleiter dieser Architektur und müssen sie vollständig beherrschen. Dabei liegt unser Fokus auf der Software, ohne jedoch jede einzelne Komponente selbst zu entwickeln. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Grundarchitektur und auf den Aspekten, die der Kunde direkt wahrnimmt, wie die Benutzeroberfläche. Das „Mercedes-Gefühl“ soll sowohl durch physische Elemente als auch durch digitale Schnittstellen wie Bildschirme und Sprachassistenten vermittelt werden. Diese Kontaktpunkte mit den Kunden gestalten wir selbst. Gleichzeitig investieren wir viel Energie in Partnerschaften, sei es in den Bereichen Sprachsteuerung, Navigation oder Fahrerassistenzsysteme. Das ist wichtig, damit wir auf Augenhöhe diskutieren, verstehen und gemeinsam gestalten können. Und noch etwas ändert sich durch das MB.OS…
Und das wäre?
Wir ändern unsere Geschäftsmodelle mit unseren Lieferanten. Wir kaufen nun nicht mehr Hardware und Software als eine Einheit, sondern trennen diese. Das bedeutet, dass wir spezifische Hardwarekomponenten kaufen, dabei aber genau definieren, welche Chips verbaut werden sollen. Die Software entwickeln und liefern wir selbst. Dieser Ansatz ermöglicht es uns, schneller neue Features einzuführen.
Mercedes-Benz spricht sich gegen die Kontrolle seitens CarPlay von sämtlichen Bildschirmen im Fahrzeug aus. Wo ist Ihre rote Linie?
Wir sind davon überzeugt, dass MB.OS eine deutlich bessere Nutzererfahrung bietet als Remote UIs, da es alle Domänen integriert und eng mit unseren Fahrzeugen verbunden ist. So können wir Angebote und Erlebnisse gestalten, die mit Android Auto oder CarPlay gar nicht möglich wären. Wir sind allerdings keine Fundamentalisten: Wenn in bestimmten Märkten oder für spezielle Bedürfnisse jemand eine Vorliebe für diese Systeme hat, verbieten wir deren Nutzung nicht. Die klassische Implementierung dieser Remote UIs bleibt weiterhin als Option verfügbar. Unser Ziel ist es jedoch, eine deutlich bessere Erfahrung zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist die vollständige Integration von Dolby Atmos und Sound-to-Light, wodurch die gesamte Atmosphäre im Fahrzeug angepasst werden kann. Genau diese nahtlose Integration und das daraus resultierende Erlebnis machen einen Mercedes zu einem Mercedes. Das wird auch von unseren Kunden honoriert: Unsere Analysen haben gezeigt, dass die Nutzung unserer neuen Benutzeroberfläche und unseres neuen Systems stark gestiegen ist, während die Nutzung der Remote UI deutlich abgenommen hat.
Wir ändern unsere Geschäftsmodelle mit unseren Lieferanten. Wir kaufen nun nicht mehr Hardware und Software als eine Einheit, sondern trennen diese
Software und Hardware in der Automobilindustrie implizieren ein unterschiedliches Mindset: Während der klassische Ingenieur eine einhundertprozentige Lösung anstrebt, arbeitet der Softwareentwickler am offenen Herzen und updatet im Feld. Müssen Sie diese Unterschiede im Unternehmen noch oft erklären?
Diese Reise haben wir bereits hinter uns, aber sie hat viel Zeit und Energie gekostet. Wie ich schon sagte: Wir haben Software als eigenständiges Produkt bei Mercedes etabliert. Das ist nicht nur ein Marketing-Claim – es ist die Grundlage unserer gesamten Softwareentwicklung. In der Vergangenheit war Software in Hardware verpackt und als ein einziges Produkt verkauft. Wir mussten viel Zeit investieren, um unsere gesamte Pipeline – wir nennen das CI/CD (Continuous Integration/Continuous Deployment, Anm.d.Red.) – sowie unsere Vertriebskette zu optimieren. Dies betrifft nicht nur die direkte Bereitstellung an Kunden über OTA-Updates, sondern auch die Verteilung an Werke, Werkstätten und verschiedene Stationen innerhalb von Mercedes. Nun ist Software aber ein eigenständiger, wertvoller Bestandteil unseres Unternehmens. Diese Reise mag für jedes Unternehmen unterschiedlich sein, aber für uns bei Mercedes ist sie abgeschlossen. Wir haben die nötigen Schritte unternommen, um Software als integralen und selbständigen Teil unserer Produktpalette zu etablieren.
Sie haben das Stichwort bereits gegeben: Wie weit ist Mercedes-Benz bei OTA-Updates? Welche Hürden gibt es noch?
Over-the-Air-Updates nutzen wir bereits, unser Cloud-System führt Millionen dieser Updates durch. Der nächste große Schritt wird mit dem vollumfänglichen Release von MB.OS kommen. Dann können wir jede Domäne mit OTA-Updates unterstützen. Derzeit ist dies auf eine Teilmenge beschränkt. Der entscheidende Vorteil unserer Software-Architektur liegt in der Standardisierung: Durch die Vereinheitlichung der Chips, der Software-Basis-Layer und der Schnittstellen können wir OTA-Updates für alle Domänen ermöglichen.
Sie arbeiten derzeit vor allem an Entertainmentfeatures im Fahrzeug, haben etwa das Rennspiel „Need for Speed“ in ihre Modelle integriert. Was ist der Gedanke dahinter?
Entertainment ist sehr wichtig für uns. Mit dem automatisierten Fahren werden unsere Kunden immer mehr Zeit mit digitalen Inhalten verbringen. Wir möchten unseren Kunden also Zeit zurückzugeben, ihnen die Möglichkeit geben, sich auf längeren Strecken zu entspannen, sei es im Stau oder auf längeren Autobahnfahrten. Entertainment wird also eine enorm wichtige Rolle spielen. In China sehen wir das bereits. Unsere Kunden dort sind im Vergleich zu Deutschland sehr jung, meist in den 30ern, und kaufen häufig ihr erstes Fahrzeug. Sie sind das Online-Gaming auf mobilen Geräten gewohnt. Deshalb haben wir uns etwa für die von Ihnen angesprochene Kooperation mit Need for Speed entschieden – eine perfekte Kombination aus Unterhaltung und unserer Sportmarke Mercedes-AMG. Selbstverständlich muss auch das Geschäftsmodell stimmen, das ist klar. Ich würde aber sagen, im ersten Schritt ist es wichtiger, Angebote zu finden, die zur Marke Mercedes-Benz und unserem Luxusanspruch passen.
Wie sehr müssen Sie sich in Ihrer täglichen Arbeit mit landesspezifischen Unterschieden in der Software befassen, etwa wenn wir nach China schauen?
Lokale Anpassungen sind ein tägliches Fokusthema bei uns in der Entwicklung. Erst im April waren wir in China und haben die neuesten Themen diskutiert. Wenn es um länderspezifische Unterschiede geht, haben wir insbesondere in China zwei große Standorte und kürzlich einen neuen Standort in Shanghai aufgebaut. Ziel ist es, chinaspezifische Apps und lokale Themen zu integrieren und sicherzustellen, dass die Regularien eingehalten werden. Unsere Grundarchitektur ist so konzipiert, dass länderspezifischer Content eine zentrale Rolle spielt. Dies gilt nicht nur für China, sondern auch für Japan, Korea und die USA. Alle Kunden haben sehr unterschiedliche Lieblings-Apps, die müssen verfügbar sein. Wenn Kunden etwas vermissen, wechseln sie zu einem anderen System, und das wollen wir vermeiden.
Bekommen Sie eigentlich genügend gut ausgebildete Fachkräfte, um die Herausforderungen der Software im Fahrzeug meistern zu können?
Damit haben wir tatsächlich kein Problem. Insgesamt haben wir über 3.000 Software-Experten in die Firma integriert. Das war unser Ziel und mehr benötigen wir aktuell auch nicht. Diese Experten sitzen natürlich nicht nur in Deutschland, sondern auch in China, den USA oder Indien. Um Fachkräfte mit der richtigen Kompetenz zu gewinnen, war es entscheidend, unsere Ziele klar zu kommunizieren. Wir mussten erklären, was wir erreichen wollen und welche Herausforderungen wir diesen Fachkräften bieten können. Es war sehr erfrischend zu hören, dass diese talentierten Ingenieure gerne zu uns kommen und mit uns arbeiten möchten. Sie schätzen die systemischen Herausforderungen der Automobilindustrie. Im Gegensatz zu einem Algorithmus für Werbung geht es bei uns um ein Produkt, das sich in der realen Welt bewegt und komplexe Herausforderungen bewältigt. Unsere Fachkräfte müssen nicht nur eine Domäne beherrschen, sondern auch die Zusammenhänge mit anderen Domänen verstehen. Dieser Aspekt war ein großer Vorteil für uns, um talentierte Fachkräfte zu gewinnen – übrigens auch von großen Technologieunternehmen.
In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Kritik daran, dass einige deutsche OEMs ein jeweils eigenes Betriebssystem entwickeln. Welche Rolle spielen Open Source und Collaboration für Sie in der Softwareentwicklung?
Der Name „Operating System" ist tatsächlich etwas irreführend. Selbstverständlich entwickeln wir nicht alles selbst, insbesondere nicht die Grundkomponenten. Diese Teile werden entweder gekauft oder als Open-Source-Lösungen genutzt. Zu Ihrer Frage: Wir arbeiten intensiv daran, ein Teil der Open-Source-Community zu sein. Wir sehen darin einen enormen Wettbewerbsvorteil, wenn wir Standard- und Open-Source-Komponenten verwenden und unsere eigenen Standardkomponenten als Open-Source-Teile in die Community einbringen können. Für uns und für mich ist Geschwindigkeit ein enorm wichtiger Faktor, und diese Geschwindigkeit können wir nur durch die Verwendung von Standards erreichen. Open Source ist dabei ein wesentliches Werkzeug.
Gewähren Sie uns zum Abschluss einen kleinen Einblick in Ihre Schublade: Worauf kann man sich bei Mercedes-Benz in Zukunft in Sachen Software und Nutzererlebnis freuen?
Der "Big Bang" wird natürlich mit dem offiziellen MB.OS-Release kommen. Aber ich kann ein paar Einblicke geben. Wir haben bereits angekündigt, dass künstliche Intelligenz eine enorm wichtige Komponente in unseren Fahrzeugen sein wird. Neue Beta-Programme zeigen bereits, in welche Richtung wir gehen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Fahrerassistenz, insbesondere in China. Im Gegensatz zu Europa ist das automatisierte Fahren im Stadtverkehr dort bereits sehr relevant. Level 2++, also die Fähigkeit, von A nach B in der Stadt automatisch zu fahren, wird in China bereits zur Realität. Auch in Deutschland werden wir die Grenzen weiter verschieben, zum Beispiel mit der Erhöhung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf 90 km/h für das autonome Fahren.
Zur Person:
Magnus Östberg ist seit September 2021 als Chief Software Officer bei Mercedes-Benz tätig. In dieser Funktion hält er die Gesamtverantwortung für das Fahrzeug-Betriebssystem MB.OS. Nach Abschluss seines Masterstudiums in Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Chalmers im Jahr 1992, erlangte er 2006 berufsbegleitend den Executive Master of Business Administration an der Universität Göteborg. Seine Karriere startete Östberg beim Software- und Beratungsunternehmen Mecel. Anschließend übernahm er in Deutschland und den USA verschiedene Leitungsfunktionen bei Delphi. Zuletzt war Östberg als Vice President Software Platform & Systems beim Automobilzulieferer Aptiv in den USA tätig. Dort verantwortete er die Entwicklung und den Launch der ADAS Satellite Architecture bei mehreren Autoherstellern.