Herr Kaiser, was sagen Sie zu den Gerüchten, dass der Drive Pilot zeitnah für mehr als 60 km/h freigegeben werden soll?
Ja, wir arbeiten derzeit daran, die Geschwindigkeit von 60 km/h auf 90 km/h zu erhöhen. Das ist unser großes Ziel, um den Kunden in noch mehr Situationen die Level-3-Erfahrung bieten zu können. Das ist mittlerweile auch rechtlich erlaubt. Ursprünglich waren nur 60 km/h gestattet.
In Deutschland rechtlich erlaubt oder weltweit?
Aktuell in Deutschland, basierend auf der UN ECE R157-Richtlinie, die von EU-Ländern in lokales Recht übernommen werden kann. Deutschland hat das sehr früh umgesetzt, sodass wir das System vor unserer eigenen Haustür entwickeln konnten. In den USA besteht mittlerweile auch die Möglichkeit, speziell in Kalifornien und Nevada, wo wir als erster Hersteller ein Level-3-System in Serienfahrzeugen anbieten.
Wie weit ist man davon entfernt, die Software freizuschalten, damit der Drive Pilot bis 90 km/h genutzt werden kann?
Sobald für Weiterentwicklungen die rechtliche Erlaubnis vorliegt, sammeln wir zunächst Erfahrungen, um sicherzustellen, dass unser Angebot sicher ist. Technisch könnten wir auch höhere Geschwindigkeiten testen, aber das bringt zusätzliche Herausforderungen mit sich. Wir brauchen Zeit, um die Sicherheit zu gewährleisten, was von der Sensorik abhängt. Ein Beispiel: Ich war begeistert von meinem ersten Full HD Fernseher, dann kamen 4K-Monitore, die noch beeindruckender waren. Was wir heute sensorisch im Auto haben, kann man mit 4K vergleichen. Für die nächste Generation streben wir 8K an. In der letzten Ausbaustufe soll der Drive Pilot auch 130 km/h können.
Noch mal, wie nah ist man dran, 90 km/h in Deutschland bis Ende des Jahres zu erreichen?
Es wird bald kommen.
Das heißt, die aktuell verbaute Sensorik in S-Klasse und EQS ist ausreichend für die Erweiterung auf 90 km/h?
Genau, die aktuelle Sensorik ist auf Geschwindigkeiten um die 90 km/h ausgelegt. Für 130 km/h läuft die Entwicklung. Der wichtigste Aspekt ist immer die Sicherheit. Wir planen, 130 km/h bis Ende der Dekade anzubieten. Was aktuell auf dem Markt verfügbar ist, reicht zwar theoretisch aus, aber es fehlt noch ein technologischer Schritt, den wir noch analysieren. Ab einem gewissen Punkt ist heute jedoch Schluss. Der wichtigste Aspekt, und das ist wirklich die Überschrift über jedem Thema, ist die Sicherheit.
Wie war es für Sie, von Anfang an bei diesem Projekt dabei zu sein? Welche entscheidenden Schritte gab es bis zur Zulassung?
Der erste merkliche Schritt war, als ich das erste Mal den Knopf gedrückt habe und gesehen habe, dass es funktioniert. Das war ein großer Aha-Moment. Der nächste Schritt war, als einem erlaubt wurde, sich Nebentätigkeiten zuzuwenden. Am Anfang im Entwicklungsstadium beobachtet man ständig die Straße, um das System zu überprüfen. Ab einem bestimmten Freigabegrad kann man dann wirklich Nebentätigkeiten machen. Und der dritte Aha-Moment war die Erkenntnis, wie wichtig es ist, auf der echten Straße zu fahren und Daten zu sammeln.
Welchen Stellenwert haben Simulationen für die Entwicklung und Validierung der Fahrsysteme?
Simulation ist ein sehr wirksames Werkzeug, um schneller zu entwickeln. Wir testen Softwarestände in der Simulation, um zu sehen, ob sie sich mit dem Gesamtfahrzeug vertragen. Wir prüfen auch, wie sich die Software im virtuellen Straßenverkehr verhält. Dann kommt der spannende Moment, wenn wir die Software ins Auto bringen und im echten Straßenverkehr testen. Manchmal lernt man in der Realität dazu und merkt, dass man nachbessern muss. Wir können auch Situationen aus dem realen Straßenverkehr in die Simulation einbauen und mit neuen Softwareständen überprüfen.
Welche Rolle spielt dabei KI?
KI ist ein wichtiger Punkt unseres täglichen Arbeitens, egal ob in Indien, Deutschland, USA oder China. Wir trainieren unsere Kameras mit einem künstlichen neuronalen Netz, damit sie lernen, wie Fußgänger, Verkehrszeichen und Spurmarkierungen aussehen. Allein in Deutschland gibt es über 60 verschiedene Spurmarkierungen. Im Fahrzeug selbst haben wir jedoch aus Sicherheitsgründen keine KI. Dort nutzen wir deterministische Algorithmen, um sicherzustellen, dass das Auto über seinen Lebenszyklus hinweg sicher bleibt und sich nicht unbemerkt falsche Erkenntnisse aneignet.
Welchen Stellenwert haben hochpräzise Karten?
Die Grundlage ist die Sensorwahrnehmung. Das wird mit einer HD-Map abgeglichen. Wenn meine Sensoren Parallelstrukturen, Spurmarkierungen oder Leitplanken sehen, vergleiche ich das mit der Karte. On top kommt ein hochgenaues Positionierungssystem, das uns erlaubt, im Zentimeterbereich genau zu fahren. Dieses System ist so präzise, dass wir sogar den Kontinentaldrift der eurasischen Platte berücksichtigen müssen. Die Karte wird zusätzlich live mit Informationen zu Baustellen, Fußgängern, Pannenfahrzeugen und Wetterbedingungen aktualisiert, um das hochautomatisierte Fahren sicher zu machen. Diese Redundanz ist sehr wichtig und einer der Enabler für das hochautomatisierte Fahren.
Wie muss man sich die Entwicklungsarbeit am Drive Pilot insgesamt vorstellen?
Wir entwickeln Drive Pilot an mehreren Hubs, sodass wir über die 24 Stunden inklusive der Zeitverschiebung miteinander arbeiten können. Das hilft uns sehr, wenn die US-Kollegen das Thema übernehmen können. Wir gehen dann in den Feierabend und können am nächsten Tag wieder starten. Das sind Zukunftsforscher, Psychologen, Ethiker und Entwickler wie ich. Wir haben auf allen Kontinenten, außer Australien, Entwicklungsstandorte und insgesamt 20.000 Entwickler.
Kann man definieren, in welchem Bereich der Welt der Drive Pilot tatsächlich die höchste Relevanz hat?
Es ist weltweit relevant. Überall dort, wo es Stau gibt und Menschen ihre Zeit für wichtige Dinge nutzen wollen. Mit der kommenden Erweiterung der Geschwindigkeit ist das ein globales Thema. Wir müssen schauen, wo es erlaubt ist und wo wir es unseren Kunden anbieten dürfen.
Fehlt Ihnen die Genehmigung, um den Drive Pilot auch im Stadtverkehr einzuschalten?
Es gibt mehrere Punkte. Es ist nicht nur eine Genehmigung. Je nach Bereich gibt es andere Herausforderungen. Wir haben uns zuerst die Autobahn herausgepickt, weil wir da einen hohen Mehrwert für unsere Kunden gesehen haben, besonders für Pendler. Das gilt für Level 3. Wenn man aber automatisiert einparken möchte, können wir das schon beispielsweise mit der neuen E-Klasse. Die ganzen Features sind unabhängig von der Autobahn verfügbar.
Müssen Sie noch an der Sensorik oder anderen Aspekten arbeiten, um den Drive Pilot im Stadtverkehr zu ermöglichen?
Heute kann man schon Level 2 mit einem Abstandsregeltempomat und Lenkassistent in der Stadt nutzen. Aber hochautomatisiertes Fahren hat noch einige Herausforderungen mehr.
Welche Initiativen oder Forschungsprojekte haben aktuell eine hohe Bedeutung, um diese Herausforderungen künftig zu meistern?
Da gibt es ein sogenanntes VVM-Projekt. VVM steht für Verifikations- und Validierungsmethoden. Wir haben uns mit anderen Herstellern und Forschungsgruppen zusammengesetzt, um zu überlegen, wie wir automatisierte Fahrzeuge von Level 1 bis 5 testen und diese Test-Cases noch realer machen können. Das ist jetzt das Next Level. Diese Tests gehen weit über das hinaus, was bei Euro NCAP gefordert ist. Ein Beispiel ist ein Dummy, der an einem Cable-Robot hängt und dreidimensional gesteuert wird, wie die Seilkameras im Fußballstadion. Damit sind Testszenarien möglich, bei denen ein Fußgänger unkoordiniert von links nach rechts rennt und dann plötzlich in die Fahrspur. So können wir unser System weiter verfeinern.
Was bedeutet es für Sie persönlich, im Individualverkehr Weltmarktführer zu sein? Spüren Sie Druck, diese Position zu halten?
Ich bin sehr stolz darauf. Intern haben wir das immer als eine Art Mondlandung gesehen. Ich bin zwar erst 1991 geboren, also war die Mondlandung für mich weit entfernt. Aber das, was wir mit dem Drive Pilot erreicht haben, ist eine international gültige Zertifizierung für Level-3-Systeme als weltweit erster Hersteller. Ich lächle immer, wenn ich mit Personen fahre, die das noch nicht erlebt haben. Es ist ein großer Gewinn an Zeit, den ich durch Filmeschauen, Browsing oder Online-Gaming nutzen kann. Das Auto fährt für dich, und du kannst Nebentätigkeiten genießen. Das macht mich sehr stolz.
Zur Person:
Matthias Kaiser ist seit sechs Jahren in der Entwicklung des Drive Pilot tätig und hat die Entwicklung von den Anfängen bis zum fertigen Produkt begleitet. Er ist über die klassische Level-2-Entwicklung eingestiegen, hat zuvor in der Absicherung des Spurhalteassistenten gearbeitet, der heute serienmäßig in den Autos ist, und konnte diese Expertise in der Level-3-Entwicklung anwenden. Kaiser arbeitet als Senior Engineer in der Absicherung und Validierung des Systems. Er und sein Team testen regelmäßig die neueste Software im echten Straßenverkehr, suchen freiwillig nach Staus und bewerten das Verhalten der Autos, um wichtige Erkenntnisse für die Softwareentwicklung zu sammeln.