Engineers working on a digital car design in a high-tech automotive factory.

Europäische Hersteller müssen F&E-Abteilungen transformieren, kosteneffizienter werden und sich auf künftig relevante Innovationsfelder fokussieren. (Bild: Adobe Stock / Curioso.Photography)

Junge chinesische Automobilhersteller erhöhen zunehmend den Wettbewerbsdruck auf die etablierten europäischen OEMs. Sie kombinieren hohe Stückzahlen mit starken Gewinnmargen – und das bei deutlich geringeren Ausgaben für Forschung und Entwicklung pro Modell. Laut einer Studie der Unternehmensberatung Bain & Company müssen etablierte Hersteller ihre F&E-Strategien überdenken und ihre entsprechenden Abteilungen grundlegend neu ausrichten, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Die durchschnittlichen Entwicklungskosten pro Fahrzeug lagen der Studie zufolge bei einigen der führenden chinesischen Automobilherstellern im Zeitraum von 2020 bis 2024 bei nur 27 Prozent der Kosten der fünf größten deutschen Hersteller. Zudem geben letztere in Summe deutlich mehr aus. Ein zentraler Grund dafür sei die ausgeprägte Modellvielfalt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten brachten Europas Autobauer wesentlich mehr verschiedene Fahrzeugmodelle auf den Markt als ihre asiatischen Wettbewerber. Zwei führende europäische Marken beispielsweise hätten ihr Modellportfolio seit dem Jahr 2000 um 250 Prozent vergrößert.

„Innovationen aus Forschung und Entwicklung bestimmen, wie attraktiv künftige Fahrzeuge sein werden. Gleichzeitig sind sie mit sehr hohen Investitionen verbunden“, erklärt Bain-Partner Eric Zayer, Leiter der Praxisgruppe Automotive und Mobilität und Co-Autor der Studie. „Daher wird es entscheidend sein, die Effizienz der F&E-Ausgaben zu steigern und sich auf die wesentlichen Punkte zu konzentrieren.“

OEMs müssen Entwicklungszeiten deutlich verkürzen

Europäische Automobilhersteller würden derzeit durchschnittlich 48 bis 54 Monate für die Entwicklung neuer Modelle benötigen, während aufstrebende Wettbewerber hingegen oft mit nur 24 bis 30 Monaten auskämen. „Um diesen Abstand zu verringern und einen Schritt vorauszubleiben, müssen etablierte Hersteller ihre Modell- und Variantenvielfalt reduzieren sowie die Produktentwicklungszeiten spürbar verkürzen“, so Zayer. „Dazu sind zentrale Prozesse stärker zu parallelisieren, KI-gestützte Tools zu nutzen und einzelne Entwicklungsschritte zu automatisieren.“

Möglichkeiten hierfür eröffneten sich bereits heute in Bereichen wie der Dokumentation von Softwarecode oder der Qualitätsprüfung von Konstruktionszeichnungen. Zudem helfen digitale Zwillinge und simulationsgestützte Testverfahren, den Bedarf an Tests mit physischen Prototypen zu reduzieren. Laut der Studie sollten etablierte Automobilhersteller gezielt in Innovationen und Fähigkeiten investieren, die ihnen bislang intern fehlen. Künftige Kernkompetenzen werden unter anderem Batterietechnologie, Energiemanagementsysteme, softwaregesteuerte Funktionen wie Fahrerassistenzsysteme, Datenmanagement und Infotainment sein. Vor diesem Hintergrund gelte es für die Hersteller, ihre Innovationsfelder neu zu definieren und Ressourcen gezielt auf diese zukunftsweisenden Bereiche auszurichten, so die Analyse. Beschleunigte Entwicklungszyklen ermöglichen es zudem, neue Modelle schneller mit aktuellen, marktgerechten Funktionen auf die Straße zu bringen.

Auslagerung von F&E bleibt strategisch relevant

Eine weitere Schwierigkeit: Europas Autobauer betreiben ihre F&E-Abteilungen überwiegend in Hochlohnländern nahe ihrer Heimatmärkte. Chinesische Wettbewerber hingegen setzen verstärkt auf Entwicklungszentren in Mittel- und Niedriglohnländern. Dies verschafft ihnen nicht nur eine höhere Kosteneffizienz, sondern auch mehr Flexibilität im Wettbewerb. „Für europäische Hersteller bleibt es daher ein strategisch relevantes Thema, F&E-Kapazitäten zu verlagern“, betont Suter. „Neben der Optimierung der Kostenstruktur kann es auch sinnvoll sein, F&E gezielt in Schlüsselmärkten anzusiedeln.“

Dort ließen sich die Bedürfnisse und Präferenzen der lokalen Kundschaft – etwa die Gestaltung von Innenräumen und Benutzeroberflächen – oft besser verstehen und könnten direkt in die Produktentwicklung einfließen. F&E-Kapazitäten im Ausland aufzubauen, sei ein langfristiger Prozess, der meist schrittweise erfolge – beginnend mit den weniger komplexen Aufgaben und Kompetenzen. Doch der Handlungsdruck ist laut Bain bereits heute hoch: „Aufstrebende Wettbewerber aus Asien haben sich das Prinzip ‚Weniger ist mehr‘ zu eigen gemacht“, bilanziert Suter. „Die etablierten europäischen Automobilhersteller benötigen einen Gangwechsel. Noch verfügen sie über  eine gute Ausgangsposition, um ihre F&E-Prozesse zu optimieren und die Zukunft der Branche auch künftig maßgeblich zu prägen.”

Automobilindustrie fordert mehr Unterstützung der EU

Der Europäische Automobilherstellerverband (ACEA) verweist hingegen auf administrative Hürden und übermäßige Compliance-Anforderungen von Seiten der EU, die das innovative Potenzial des europäischen Automobilsektors hemmen würden. „Die EU muss unseren technologischen Vorsprung fördern, anstatt ihn auszubremsen. Automatisierte Fahrzeuge sind die nächste große Herausforderung – ein Bereich, in dem wir die Führung übernehmen können. Doch dafür brauchen wir Rahmenbedingungen, die den Aufbau einer starken digitalen Industrie begünstigen“, erklärt Sigrid de Vries, Generaldirektorin des Europäischen Verbands der Automobilhersteller (ACEA). „Es ist zudem unverständlich, dass die Kommission ausgerechnet jetzt, während sie mit der Industrie einen strategischen Dialog zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit führt, ohne vorherige Konsultation oder Diskussion den Vorschlag zu standardessenziellen Patenten zurückzieht – ein entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit und die europäische Führungsrolle im teil- und vollautonomen Fahren.“

Benjamin Krieger, Generalsekretär von CLEPA, dem Europäischen Verband der Automobilzulieferer, betonte zudem, dass die USA und andere Länder massiv in Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz und Cloud Computing investieren und bei digitalen Marktplätzen bereits führend seien. Europa müsse mit einer mutigen Strategie reagieren, um einen florierenden Markt für digitale Mobilitätsdienste zu sichern und ausreichende Investitionen bereitzustellen, damit die nächste Generation vernetzter und automatisierter Fahrzeuge hier entwickelt werde. Die EU müsse hierfür ihr Ökosystem für Halbleiter und Automobilelektronik stärken, Forschung und Entwicklung vorantreiben sowie globale Partnerschaften und einen einheitlichen Markt für autonome Fahrzeuge fördern. Um nachhaltige Mobilität und Digitalisierung voranzutreiben, seien eine ausgewogene FP10-Finanzierung und eine starke Unterstützung der Industrie essenziell.

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