Entwickler arbeitet mit VR Brille an Autokonzept

Dank Virtual und Augmented Reality können Ingenieure mittlerweile von überall, zu jeder Zeit an an Fahrzeugkonzepten kollaborativ arbeiten. (Bild: Adobe Stock / Валерия Стоганенко)

Digitalisierung, Vernetzung, Elektromobilität. Die Transformation der Branche ist rasch umrissen. Heißt auch: Das Engineering hat sich innerhalb der letzten Dekade praktisch neu erfunden und wandelt sich weiter. Gewissermaßen softwaregetrieben. „Schätzungsweise 100 Millionen Programmzeilen Softwarecode stecken in einem heutigen Fahrzeug“, verdeutlicht Steffen Rilling, Principal in der Automotive & Manufacturing Industries Practice von Oliver Wyman, „OEMs benötigen auch im Engineering zunehmend Experten bei der Entwicklung von Software für das Auto.“

Bei der Wertschöpfung wird das entscheidend, betont Christof Horn, Automotive-Experte bei Accenture: „Der Bedarf an Software-Managern nimmt ab, während die Nachfrage nach Softwareentwicklern und -architekten deutlich zunimmt – auch bei den OEMs.“ Das Mindset im Engineering wandele sich weg von Maschinenbau und Mechatronik hin zu einem Software-First-Ansatz.

Die Ära des datengetriebenen Ingenieurs

„In den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich in der Welt des Automotive Engineers vieles immer mehr in Richtung Software verschoben. Zudem haben sich die Entwicklungszyklen neuer Baureihen verkürzt“, sagt auch Martin Schmölders, Head of Software Platform bei Continental Automotive, „Viele neue Funktionen sind bei Entwicklungsbeginn nicht mehr ‚ausspezifiziert‘. Dem versucht man mit einer agilen Entwicklung zu begegnen.“ Das Software-defined Vehicle ist eben mehr als ein trendiges Schlagwort, es treibt den Fortschritt: „Dadurch werden Fahrzeugfunktionen viel schneller entwickelbar, aber auch die Unterstützung und Aktualisierung wird leichter“, unterstreicht Schmölders.

Das bleibt für Kompetenzen und Jobprofile in der Entwicklung nicht ohne Konsequenzen: Aus dem klassischen Entwickler, mit Fokus Mechanik, wird zunehmend einer, der in virtuellem Engineering versiert ist. Ganz zu schweigen Entwicklern für Verbrennungsmotoren, die sich ungeachtet aktueller Bremsmanöver in der Elektromobilität klar als Entwickler für Elektromotoren oder in der Batteriezellentwicklung neu erfinden müssen.

„Für das Automotive Engineering bedeutet dies, dass die Firmen sicherstellen müssen, weiterhin attraktiv als Arbeitgeber für Verbrenner-Motoren zu bleiben, um genügend wichtige Kompetenzen für den Übergang in die E-Mobilität vorzuhalten“, sagt Louisa Eisert, Senior Abteilungsleiterin Automotive bei Hays, „Andererseits muss die Ressourcenplanung und -allokation im klassischen Automotive Engineering auch das Timing des Verbrenner-Aus sowie die Abwanderung von Wissen durch Altersteilzeit berücksichtigen.“ Um diesen Spagat zu meistern, registriert die Personalexpertin, dass „in großem Stil“ Weiterbildungs- oder auch Umschulungsangebote auf E-Mobilität oder im Bereich autonomes Fahren angeboten und genutzt werden. Das Engineering läuft in der Übergangsphase nicht nur mehrgleisig, es erfordert auch eine nie dagewesene Vernetzung über Abteilungen, Fachbereiche und Disziplinen hinweg.

Wie ändern sich die Arbeitsweisen im Engineering?

In Silos vor sich hin zu werkeln, um am Ende alle Einzellösungen zu einem Ganzen zusammenzufügen funktioniert angesichts der softwaregetriebenen Komplexität, kurzer Entwicklungszyklen, aufwändiger Nachweispflichten und hoher Individualisierungsansprüche der Kundschaft immer weniger. Den „Elefanten zu zerteilen“, wie seit Jahrzehnten in einem Geflecht von Entwicklungsabteilungen üblich, ist obsolet geworden. „Fahrzeuge existieren nicht mehr isoliert. Die Vernetzung mit städtischer Infrastruktur, Cloud-Diensten, Ladestationen und sogar Satellitenkommunikation ist entscheidend“, erklärt Horn, „Dies erfordert ein systematisches Verständnis und die Anwendung passender Methoden des Systems Engineering.“

Das ist das Gebot der Stunde, um Komplexität zu beherrschen. Heißt: Raus aus den Silos, rein in interdisziplinäres, agiles, kollaboratives Entwickeln, das das Ganze im Blick hat. Ein für manch detailversessenen Ingenieur alter Schule herber Shift. F&E-Teams müssen jetzt und künftig in der Lage sein über moderne Cloud-Plattformen statt lokaler Systemketten zu kollaborieren. „Nur so kann man mit den Kollegen am jeweils aktuellen Stand eines Modells arbeiten“, erklärt Frank Möring, Vice President Solutions Consulting in Zentraleuropa (DACH) bei dem Softwareunternehmen PTC, „Mitglieder eines Engineering-Teams sehen sofort, wenn etwas an Fahrzeug-Konfigurationen oder Bauteilständen geändert wurde.“

Kollaborationssoftware unterstützt bei der Analyse von Auswirkungen auf davon betroffene Komponenten. Was die Sache vereinfacht: Zugang und Nutzung solcher Systeme werden immer einfacher und sicherer. „Dazu benötigt man häufig nur noch einen Browser und kann sogar per Smartphone Entwicklungsprozesse mitverfolgen und mitgestalten“, betont Möring. Denn die enorme Rechenleistung wird in die Cloud verlagert und ist im großen Maß skalierbar.

„Wir können anytime, anywhere arbeiten“, berichtet Torsten Schmitt, der bei BMW die Bereiche Virtual Reality, Nutzererlebnismodelle, Cubing Interieur und Exterieur leitet. Der Autobauer setzt konsequent auf Augmented, Virtual und Mixed Reality, sodass global verteilte Engineers kollaborieren können. „Immersive Technologien bieten unseren Teams völlig neue Werkzeuge, um Konzepte frühzeitig erlebbar zu machen, zu diskutieren und zu testen“, betont Schmitt, „Der jederzeit verfügbare Zugang zu aktuellen Entwicklungsständen, das gemeinsame Erleben von Funktionen und die Interaktion mit den Produktdaten anstelle von Präsentationen sorgt für maximal kundenorientierte Entwicklung.“ Nicht zuletzt werden dadurch Prototyping-Prozesse beschleunigt und Fehler in einem frühen Entwicklungsstadium minimiert.

Vor allem aber eröffnen sich neue Entwicklungsmöglichkeiten, etwa für die Bereiche Crash-Simulation, 3D-Engineering oder generatives Design. „Konstrukteure und Entwickler müssen nicht jede denkbare Variante durchrechnen oder simulieren“, erklärt Möring, „Sie müssen den Werkzeugen relevante Randbedingungen und Zielgrößen wie Werkstoff, Gewicht, Lastfälle, Fertigungsverfahren oder Kosten vorgeben – cloudbasierte Entwicklungswerkzeuge nutzen dann verfügbare Rechenleistung, um jeweils das optimale Design in Bezug auf definierte Zielgrößen zu finden.“ Es landen beispielsweise ein Dutzend praktikable Vorschläge auf den Rechnern der Ingenieure, wie Bauteile konstruiert sein sollten, um möglichst leicht, stabil und ressourcenschonend zu sein. Insgesamt sieht Möring im cloudbasierten Engineering einen entscheidenden Schlüssel dazu, Fahrzeugentwicklungszeiten deutlich zu senken.

„Hardware first“ war einmal

Was in einer softwaregetriebenen Fahrzeugwelt auch dringend nötig ist. „Viele ehemals mechatronische Systeme, wie Bremsen oder Türsteuermodule, enthalten immer mehr Software“, sagt Continental-Experte Schmölders, „Mehr als hundert Steuergeräte im Fahrzeug sind aber heute nicht mehr beherrschbar.“ Daher gehe seit einigen Jahren der Trend zum Zusammenfassen von Funktionalitäten in leistungsfähigen Steuergeräten. Zonen-Controller oder High Performance Controller vereinten viele Funktionen auf einer Hardware.

Schmölders: „Dies wiederum erhöht die Softwarekomplexität in diesen Controllern. Komponenten mit erhöhten Anforderungen an funktionale Sicherheit laufen parallel mit sogenannten Komfortfunktionen.“ Und die dürfen sich nicht negativ beeinflussen. Das zu verhindern steht auf der Prio-Liste im Engineering mittlerweile ganz oben. Sicherheit wird von Anfang an mitgedacht und implementiert. Auch hierin spiegelt sich der fundamentale Wandel in der Fahrzeugentwicklung - weg von „Hardware first“ hin zu „Software first“.

Warum Gen AI das Engineering boosten wird

Dabei wird KI dem Engineering durch automatisierte Prozesse beim Coden, der Simulation und im Testing künftig verstärkt unter die Arme greifen. Davon ist Mark Woods, Chief Technical Advisor EMEA des Softwareunternehmens Splunk, überzeugt: „Das Engineering steht vor einem umfassenden Wandel und wird sich durch generative KI deutlich beschleunigen“, sagt er. Etwa, wenn KI-Tools bei der Materialauswahl, Leichtbauoptionen und Strukturdesigns helfen, indem sie passende Vorschläge nach vorher definierten Kriterien unterbreiten und diese bewerten.

„Designs lassen sich so bereits in einem sehr frühen Stadium des Konstruktionsprozesses optimieren,“ erklärt Woods, „womit sich die Abhängigkeit von zeit- und kostenintensiven Tests verringert.“ Für ihn wie für alle Branchenbeobachter ist klar, dass generative KI im Engineering ein Gamechanger sein wird - von Crashtests über Aerodynamik bis hin zu Fahrerassistenzsystemen und Systemsicherheit. Berührungsängste erblickt Woods jedenfalls nicht: AI und Engineering scheint ein Paar zu sein, dass sich gesucht und gefunden hat.

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