Illustrierte Fahrzeugentwicklung

Die beiden Welten der agilen Softwareentwicklung und die meist noch klassisch funktionierende Fahrzeugentwicklung zusammenzubringen, ist eine der wichtigsten Herausforderungen in der Automobilindustrie. (Bild: Andreas Croonenbroeck, Mercedes-Benz, Gorodenkoff/iStock)

Der Weg in der Entwicklung des Automobils der Zukunft lässt sich mit wenigen Worten skizzieren: von Hardware first zu Software first. So lauteten die Worte von VW-Entwicklungsvorstand Thomas Ulbrich anlässlich der Neuausrichtung der Technischen Entwicklung (TE) in Wolfsburg Anfang März. Das Auto werde immer mehr zum elektrisch angetriebenen Softwareprodukt, bekräftigte der VW-Manager, demnach müsse sich auch die Entwicklung in allen Dimensionen wandeln. Es gibt momentan kaum ein drängenderes Projekt in der Automobilindustrie. Kaum ein OEM, der sich nicht die Umwälzung der Fahrzeugarchitektur in Richtung softwaredefinierter Wertschöpfung auf die Fahnen geschrieben hat. Und doch scheint nicht immer eindeutig, wohin der Weg in der Fahrzeugentwicklung eigentlich führen soll – vor allem, was interne Prozesse, Strukturen und Hierarchien betrifft.  

Software krempelt die Entwicklung um

Das Problem für einige über Jahrzehnte gewachsene und in den Strukturen teils extrem differenzierte Autokonzerne lässt sich am Beispiel der Entwicklung und an den Akteuren, die an der Konzeption vernetzter und softwarebasierter Fahrzeugarchitekturen beteiligt sind, illustrieren. Zur klassischen Elektrik/Elektronik-Entwicklung (E/E) gesellen sich durch den stärkeren Fokus auf Software, autonomes Fahren und Connectivity nun auch die IT und dezidierte Softwareentwicklungseinheiten, wie sie beispielsweise Volkswagen mit der Softwaretochter Cariad geschaffen hat.

„Das Spektrum der Fahrzeugentwicklung im Umfeld des Software-defined Car erstreckt sich von der Embedded-Entwicklung bis Big Data und künstliche Intelligenz und ist damit so groß wie nie zuvor“, weiß Martin Ober, Geschäftsbereichsleiter Automotive & Manufacturing beim Beratungsunternehmen MSG. Im Dreiklang IT, Software und E/E ermögliche die IT hauptsächlich die Konnektivität mit der Cloud, den anderen Fahrzeugen und den Infrastrukturen. Die Hauptaufgabe von E/E besteht dem Branchenexperten zufolge darin, eine sinnvolle Architektur zu entwerfen, so dass der Datenfluss sicher und optimiert erfolgen kann. „Software schließlich bringt diese beiden Welten zusammen,“ resümiert Ober. So zumindest die Idealvorstellung.

Rolle der E/E-Entwickler verändert sich stark

Einer, der den Wandel des Autos als ein Vehikel mit überschaubarer Anzahl an Elektronikkomponenten hin zum funktionsorientierten Connected Car mitgemacht hat, ist Volkmar Tanneberger. Der Branchenkenner war zwischen 2006 und 2017 Leiter der E/E-Entwicklung der Marke Volkswagen. „Die E/E war früher ein wenig das ungeliebte Kind, wir waren die Paradiesvögel in der Technischen Entwicklung, die immer dann gerufen wurden, wenn elektronische Komponenten auch anderer Fachbereiche im Systemverbund nicht funktionierten“, erinnert sich Tanneberger. „Damals setzten sich die Führungsebenen in Autokonzernen vor allem aus Mechanikern oder Maschinenbauern zusammen, die mit Themen wie Software eher fremdelten.“

Mittlerweile hätten alle Fahrzeughersteller begriffen, dass Software und Elektronik die Zukunft sind. Mechanisch orientierte Komponenten aus dem Innenraum wie Bedienelemente oder Sitze würden als Commodity wahrgenommen, der Fokus richte sich richtigerweise auf die in Teilen wettbewerbsdifferenzierende Software im Fahrzeug, erklärt der Experte.

Volkswagen setzt auf Systems Engineering

Ein prominentes Beispiel kommt aus dem Konzern, für den Tanneberger fast zwanzig Jahre lang tätig war. Volkswagen will das Software-defined Car in die Breite bringen und hat dafür nicht nur sein Schnellboot Cariad zu Wasser gelassen, auch die Technische Entwicklung soll auf „Software first“ eingeschworen werden. Für die Gegenwart und Zukunft müsse das Fahrzeug als ein System im gesamten Ökosystem des Kunden betrachtet werden und nahtlos mit sämtlichen Systemen auch außerhalb des Fahrzeugs kommunizieren, heißt es bei VW.

Der neue Entwicklungsprozess werde dafür künftig an die Idee des Systems Engineering anknüpfend auf Funktionen und Systeme, statt auf Bauteile ausgerichtet. Heißt konkret: Ingenieure und Programmierer aus den verschiedenen Fachbereichen müssen in interdisziplinären Teams Funktionen „end to end“ entwickeln – und das Ganze in agilen Sprints, um die Entwicklungszyklen, die in der Softwarewelt gang und gäbe sind, drastisch zu verkürzen.

Konzerntochter Audi hat die Denkweise in Funktionsclustern bereits umgesetzt und hat sich mittlerweile von einer separierten E/E-Entwicklung verabschiedet. Die Entwicklung hochvernetzter Fahrzeugsysteme erfolgt „ganzheitlich und sowohl unter Integration der jeweils erforderlichen Hard- und Softwarekomponenten als auch deren Verifikation und Validierung anhand der zuvor formulierten technischen Anforderungen“, teilen die Ingolstädter mit.

Veränderung der Fahrzeugentwicklung bei VW
Die Bedeutung der Software hat in den letzten Jahren nicht nur bei Volkswagen massiv zugenommen. (Bild: Volkswagen)

Diese konzernweite Neuorientierung zielt in erster Linie auf die Entwicklung von Volkswagens neuer Superarchitektur Scalable Systems Platform (SSP) ab, die 2026 zum ersten Mal bei Trinity – dem zentralen Zukunftsprojekt in Sachen E-Mobility und Vernetzung – zum Einsatz kommen und perspektivisch die E-Plattformen MEB und PPE zusammenführen soll.

Cariad soll als Softwarezulieferer fungieren

Vorbild für die neuen agilen Prozesse und Strukturen in der Entwicklung ist die 2020 ins Leben gerufene Softwaretochter Cariad. Das Unternehmen mit mehr als 4.500 Mitarbeitern dient als Technologiepartner für die Konzernmarken und soll im Kern die wichtigsten Software- und Hardware-Stacks für eine einheitliche skalierbare Softwareplattform, das VW.OS, sowie Funktionen aus den Bereichen autonomes Fahren und Infotainment entwickeln.

Im Konzernverbund ist Cariad damit so etwas wie ein Softwarezulieferer, der „Architekturen und Funktionen freigabefähig an die Marken liefert“, heißt es aus Wolfsburg. Die Integration liegt dann wieder in der Verantwortung der Entwicklungsabteilungen der Konzernmarken. Die Cariad hat sich hierfür ein Betriebsmodell definiert, das die Programmierer befähigen soll, durchgängig software- und produktorientiert zu arbeiten. Damit verabschiede man sich vom traditionellen Wasserfallansatz in der Automobilbranche, betonen die Verantwortlichen.

Doch die neuen Prozesse laufen bislang alles andere als reibungslos: Zuletzt wurde immer wieder Kritik laut, zahlreiche Softwareprojekte würden so massiv hinterherhinken, dass Fahrzeugprojekte wie der Porsche Macan, Audis Artemis oder sogar der Trinity deutlich in Verzug gerieten. Zugleich fehlen Volkswagens Softwareschnellboot weiterhin die nötigen Entwickler, um die von Konzernboss Herbert Diess hochgesteckten Ziele in Sachen softwaredefiniertes Fahrzeug überhaupt zu erreichen.

Mercedes siedelt Software-Verantwortung weit oben an

Wie die Volumen-Kollegen aus Wolfsburg will auch Mercedes-Benz ein eigenes Softwarebetriebssystem auf die Beine stellen, das der Komplexität aktueller Fahrzeugarchitekturen den Garaus machen soll. Dafür wurde am Standort Sindelfingen der Electric Software Hub eingerichtet, an dem über 1.000 Entwickler aus 19 funktionsübergreifenden Abteilungen an der softwarebasierten E/E-Architektur für die künftigen Modelle der Schwaben tüfteln.

Dass auch bei Mercedes der Fokus der Fahrzeugentwicklung vollends auf Software liegt, lässt sich auch an einer wichtigen Personalentscheidung ablesen: Im Sommer 2021 kam der Schwede Magnus Östberg zu Mercedes-Benz und sollte als Chief Software Officer die Entwicklung des Betriebssystem MB.OS leiten. Er ersetzte Sajjad Khan, der als CTO die CASE-Themen beim Stuttgarter OEM verantwortete, die nun wiederum direkt bei Entwicklungsvorstand Markus Schäfer angesiedelt sind. An ihn und Konzernchef Ola Källenius berichtet nun Östberg – ein klares Signal in Sachen Software-Ambitionen.

„Källenius hat ein gewaltiges Interesse am Bereich Softwareentwicklung“, bekräftigt Östberg im Interview mit automotiveIT. Dafür müssten Einkauf und Entwicklung übergreifender zusammenarbeiten, in enger Abstimmung mit Schäfer und der gesamten R&D im Unternehmen. „Das Gesamtfahrzeug muss als System funktionieren“, betont der Softwarechef. Um das zu erreichen, arbeiten am neuen Sindelfinger Software-Hub Spezialisten aus zahlreichen Fachabteilungen räumlich eng beieinander. „Wir haben traditionelle Softwareentwickler zusammen mit IT- und Systemmitarbeitern, der Qualitätssicherung oder Mitarbeitern aus mechanisch geprägten Abteilungen, die alle direkt zusammenarbeiten werden“, erklärt Östberg.

Möglich werde dies durch gemeinsame IT-Systeme und einen einheitlichen Datenpool als Basis der Entwicklung. Gleichzeitig will der Schwede durch agile Arbeitsmodelle, einen zeitgemäßen Führungsstil und entsprechende Trainings von vorneherein Silodenken vermeiden. Ein unvermeidlicher Schritt, soll das softwarebasierte Fahrzeug der Zukunft als Gesamtsystem funktionieren.

Gehen alte und neue Entwicklungswelt Hand in Hand?

Branchenkenner Volkmar Tanneberger begrüßt die Fokusverschiebung auf Software, ist aber auch skeptisch, was die neuen Prozesse anbelangt. „Die Frage, wie die agile Softwarewelt mit der klassischen, häufig noch nach dem Wasserfallmodell operierenden Fahrzeugentwicklung zusammengeht, ist noch bei keinem Autobauer hinreichend geklärt.“ So müssten auch weiterhin Steuergeräte mit Freigaben und definiertem Umfang oder bestimmte Funktionen zu einem bestimmten Stichtag geliefert werden. „Kaum ein Kunde würde es akzeptieren, wenn bei Auslieferung bestimmte Funktionen wie Navigation oder das Radio fehlten, weil die Entwicklung im agilen Sprint nicht fertig geworden ist“, sagt Tanneberger.

Für den Experten ist daher klar, dass beide Welten, Software und Hardware, in der Entwicklung unbedingt zusammen gedacht werden müssen. „Organisatorisch braucht es beispielsweise in der Gesamtfahrzeugentwicklung oder Qualitätssicherung eine Kontrollfunktion, die aus Kundensicht sicherstellt, dass die verschiedenen Hard- und Softwareversionen, aber auch backendbasierte Onlinedienste sinnvoll gemeinsam funktionieren und abgesichert zur Verfügung stehen“, fordert Tanneberger.

BMW verfolgt Make-or-Buy-Ansatz

Bei Mercedes´ bayerischem Konkurrenten BMW könnte eine solche Aufgabe Christoph Grote zukommen. Der ehemalige Bereichsleiter Elektronik ist seit 2020 Chef der neuen Sparte Digital Car, die die Softwareentwicklung mit der Arbeit der E/E-Abteilung sinnvoll zusammenbringen will. Der Münchner Autobauer kann in Sachen Software durchaus als Early Adopter bezeichnet werden, gründete der OEM schon vor gut zwanzig Jahren am Standort Ulm mit der Car IT GmbH ein Unternehmen, das sich dezidiert auf die Themen Software und IT stürzen sollte.

„Die BMW-Car-IT war und bleibt sozusagen der Nukleus unserer eigenen Softwarekompetenz, von dem ausgehend wir gewachsen sind und hochskalieren konnten, um essenzielle Umfänge früh in Eigenleistung zu entwickeln“, betont Christoph Grote gegenüber automotiveIT. Und dieser Eigenanteil spiegelt sich vor allem im Betriebssystem-Layer der Fahrzeuge des Premiumherstellers wider, der unter Nutzung von Open Source und zugekauften Softwareanteilen inhouse entwickelt wird.

Mittelkonsole in einem BMW
BMW aktualisiert Softwarefeatures seines Operating Systems über Over-the-Air-Updates aus. (Bild: BMW)

Dabei verfolgen die Münchner einen strategischen „Make or buy“-Ansatz, bei dem bewertet wird, welche Softwareanteile einen marktdifferenzierenden Charakter haben und welche nur reine Basisfunktionalitäten wie bei einem Airbagsystem abdecken. In Eigenregie entstand so das Betriebssystem BMW OS, das mit dem Launch des iX im vergangenen Jahr bereits in der achten Generation auf den Markt kam und mit dem i7 seine nächste Iterationsstufe erfahren soll.

Das softwarebasierte Auto braucht Durchgängigkeit

Mit dem zunehmenden Anteil an Software wächst aber auch bei BMW die Komplexität im Fahrzeug. Um diese beherrschbar zu machen, haben die Bayern eine durchgängige Entwicklungsmethodik und Toolchain über alle Softwareprojekte hinweg aufgesetzt. „Mit unserer Toolchain generiert unser weltweites Entwicklerteam heute 90.000 Builds für die gesamte Steuergerätesoftware pro Tag“, erklärt Grote.

Dabei kommt auch dem klassischen E/E-Bereich eine entscheidende Aufgabe zu: „Die E/E-Funktion sichert mehr denn je die digitale Fahrzeugplattform als integralen Bestandteil zukunftsfähig ab und schafft eine Entkopplung der Entwicklungszyklen der schnellen digitalen Umfänge und der Fahrzeugentwicklung.“

Elektronik dürfe dabei keine „Inseldisziplin“ sein, sondern müsse über alle Teildisziplinen gelebt werden, unterstreicht der BMW-Manager. „Gleichzeitig brauchen Elektronik und Software eine starke Führung im Entwicklungsnetzwerk, um Durchgängigkeit zu gewährleisten.“ Eine Durchgängigkeit, die es für die Autoindustrie unbedingt zu erreichen gilt, soll das Auto der Zukunft tatsächlich ein Softwareprodukt werden.

Sie möchten gerne weiterlesen?