Digital Car

Wie die Autoindustrie das HMI neu ausbalanciert

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BMW ix3 Cockpit
Große Displays und immer digitale HMI-Elemente, wie unter anderem im neuen BMW ix3, prägen viele Cockpits, doch sorgen häufig auch für Abstriche in der intuitiven Bedienbarkeit des Fahrzeugs.

Riesige Displays galten als Zukunft des Autos. Heute zeigt sich: Fahrerinnen und Fahrer wollen Knöpfe zurück, Intuition und Sicherheit rücken in den Fokus. Zulieferer wie Kostal und Preh entwickeln hybride HMI-Konzepte für die nächste Digitalära.

In den letzten Jahren schien die Devise in der Automobilindustrie zu lauten: mehr Displays, größere Screens, mehr digitale Funktionen. Die ersten Jahre des Digital Car waren geprägt von einer regelrechten Display-Euphorie. Hersteller wie Tesla setzten mit großflächigen Touchscreens Maßstäbe, die Nachahmer fanden. Zunehmend hielten riesige Bildschirme Einzug in die Cockpits und Touch-Gesten ersetzten physische Bedienelemente. Aber ähnlich wie in der Küche, in der man irgendwann steht und sich fragt, ob der Toast wirklich unbedingt mit dem WLAN vernetzt sein muss, scheint es, als wäre auch die Digitalisierung des Fahrzeuginnenraums etwas über ihr Ziel hinausgeschossen.

„Audi verzichtet insgesamt zunehmend auf klassische Schalter: Selbst die Licht-, Spiegel- und Zentralverriegelungsfunktionen sind in berührungsempfindliche Flächen im Türbereich integriert, die sich im Test als unpräzise und fummelig erwiesen. Die kapazitiven Tasten am Lenkrad folgen demselben Prinzip – wenig fühlbar, schwer treffsicher zu bedienen“, kritisiert Redakteur Timo Gilgen in einem seiner neuesten Fahrberichte für die automotiveIT und trifft damit wahrscheinlich einen wunden Punkt, denn für viele Fahrerinnen und Fahrer sind Bedienungstiefe, Menükomplexität und Ablenkung während der Fahrt zu einem echten Problem geworden.

Auch Branchenexperten sehen inzwischen einen Wendepunkt. Zwei Zulieferer, Kostal und Preh, geben im Rahmen der IAA Mobility 2025 in München Einblicke, wie sich Human-Machine-Interfaces (HMI) weiterentwickeln und warum die Zukunft nicht im Entweder-oder von Screen oder Knopf liegt, sondern im Sowohl-als-auch.

So eng hängen HMI-Elemente & Cybersecurity zusammen

Die Digitalisierung beginnt lange vor der Fahrt. Kostal setzt daher auf neue Zugangsverfahren, basierend auf auf Ultra-Wideband (UWB) und Bluetooth Low Energy, bei denen das Smartphone den klassischen Autoschlüssel ersetzt. Senior Director R&D Comfort Controls Andreas Pirchner betont: „Typische Angriffe, etwa Relay-Attacken, bei denen sich jemand in die Kommunikation zwischen Schlüssel und Fahrzeug einbringt, um die Datenübertragung abzufangen, funktionieren hier nicht mehr. Denn mit unserem System kann zusätzlich die Position des Smartphones überprüft werden. Nur wenn sich der Fahrer direkt vor der Tür befindet, öffnet sich das Fahrzeug.“ Diese neue Lösung verdeutlicht: Mit der Digitalisierung hat man das Fahrzeug angreifbarer gemacht. Cybersecurity ist damit kein Nebenschauplatz mehr, sondern ein wichtiger Teil jeder HMI-Architektur.

Ausschlaggebend für die Sicherheitsanforderungen an digitale Lösungen seien unter anderem die vorhandenen Schnittstellen, die Einbindung in die Fahrzeugarchitektur und die Möglichkeiten für Software- oder Over-the-Air-Updates. „Wenn Produkte flashbar sind, also wenn Software nachträglich eingespielt werden kann, steigen die Sicherheitsanforderungen deutlich“, so der Kostal-Manager. Um Risiken zu bewerten, führt Kostal sogenannte TARAs (Threat Analysis and Risk Assessments) durch. Dabei werde überprüft, wie leicht ein Angreifer über bereitgestellte Schnittstellen Zugang erhalten könnte und welche Folgen ein solcher Zugriff hätte. Besonders bei Bedienelementen am Lenkrad, etwa für das ACC (Adaptive Cruise Control), gelte höchste Vorsicht: „Wenn ich da eine Software drin habe, dann möchte ich nicht, dass irgendjemand anders außer mir selbst die Steuerung übernimmt.“

Sicherheit bedeutet im automobilen HMI-Kontext auch Bedienbarkeit. Je komplexer, desto größer die Ablenkung vom Verkehr. Pirchner weist auf kommende Euro-NCAP-Bewertungen hin, die Punktabzüge für schwer erreichbare Kernfunktionen vorsehen: „Wenn ich anfangen muss erstmal komplex im Menü irgendwo meine Sitzverstellung zu finden oder meine Klimabedienung zu machen, lenkt mich das vom eigentlichen Fahrgeschehen ab“, betont er. Bedienlogik, Haptik und Cybersecurity bilden damit eine gemeinsame Achse für die nächste Digitalisierungsstufe. Pirchner verweist zusätzlich auf die Rolle ikonischer Bedienelemente. Displays allein würden Cockpits homogenisieren, während haptische Elemente in der Lage seien Markenidentität zu transportieren.

Was ist EuroNCAP und was schreibt es zum HMI vor?

Das Euro NCAP (European New Car Assessment Programme) ist ein unabhängiges Bewertungsprogramm zur Sicherheit von Neuwagen in Europa. Seit 1996 vergibt es Sternebewertungen („Star Ratings“) und beeinflusst nicht nur Verbraucherverhalten, sondern auch Designentscheidungen und Sicherheitsstandards in der Automobilindustrie. Mit neuen Protokollen, die ab Januar 2026 gelten, führt Euro NCAP erstmals konkrete Prüfverfahren für Human-Machine Interfaces ein. Grundlegende Funktionen wie Blinker, Warnblinkanlage, Scheibenwischer oder die Hupe müssen physische oder taktile Bedienelemente aufweisen – also Knöpfe, Hebel, Schalter oder Drehregler. Darüber hinaus werden Bedienbarkeit, Positionierung und Rückmeldung von Bedienelementen stärker bewertet.

Vom Screen-Rausch zur Balance aus Hybridlösungen

Auch beim Zulieferer Preh sieht man die Grenzen der Voll-Digitalisierung erreicht. Senior Account Manager und Kundenexperte Steffen Reich berichtet: „Aus unserer Wahrnehmung ist es so, dass der Endkunde mit der Menge an reinen Touchdisplays und der intuitiven Erreichbarkeit von Untermenüs zunehmend Schwierigkeiten hat. Speziell während der Fahrt, etwa auf der Autobahn, stellt die Ablenkung von der Straße ein echtes Sicherheitsrisiko dar. Eine Kombination aus traditionellen HMI-Elementen, wie etwa einem Drehsteller, und großen Displays bietet einen deutlichen Mehrwert. In diese Richtung gehen auch unsere eigenen Konzepte und Gespräche mit den Kunden.“ Zudem beleuchtet der Preh-Manager einen weiteren Aspekt. Die Außenkarosserien neuer Modelle würden sich durch den Trend zur Aerodynamik zunehmend ähneln, sodass klassische Abgrenzungen nach außen verloren gingen. Eine Differenzierung der Fahrzeuge werde daher künftig noch stärker im Innenraum stattfinden.

Für OEMs stellt sich gleichzeitig die Kostenfrage. Unterschiedliche Zielgruppen, ob demographisch oder kulturell gemessen, verlangen nach verschiedenen Bedienkonzepten, doch jedes zusätzliche Cockpit-Layout bedeutet höheren Aufwand. „Hersteller können aus Kostengründen nicht für jede Käuferschicht unterschiedliche Designs entwickeln. Sie sind also gezwungen, Kompromisse zu finden. Diese Kompromisse bestehen darin, eine einheitliche Design-, Form- und Funktionssprache zu entwickeln, die möglichst vielen Kunden gerecht wird.", schildert Reich. „Wer gerne per Sprachassistenz interagiert, soll diese Chance im Auto bekommen. Gleichzeitig muss es aber für denjenigen, der Sprache nicht nutzen möchte oder kann, etwa als Familienvater mit zwei unruhigen Kindern auf der Rückbank, die Möglichkeit geben, dieselben Funktionen direkt über die Mittelkonsole zu bedienen." Für die Automobilhersteller ergibt sich also die Notwendigkeit hybrider und adaptiver Konzepte.

Lenkrad mit integrierten Touch- und Drucktasten von Preh, präsentiert auf der IAA 2025 als Beispiel für hybride HMI-Lösungen im Fahrzeugcockpit.
Eine Lenkradlösung mit integrierten Touch- und Drucktasten, wie Preh sie für Lucid produziert, eignet sich zum Beispiel durch ihren Mangel an herkömmlichen Tasten möglicherweise nicht für alle Zielgruppen.

Solche hybriden Konzepte vereinen im Idealfall haptische Orientierung mit digitaler Flexibilität. Kostal etwa entwickelt Schalter mit verdeckten Funktionen („Secret Tilit“), die erst bei Bedarf sichtbar werden. Solche Konzepte eröffne zusätzlich neue Geschäftsmodelle: „Function on Demand“ macht Features sichtbar, sobald sie via Software freigeschaltet werden. Für Hersteller bedeute das die Möglichkeit, Fahrzeuge nach Auslieferung flexibel aufzuwerten.

Der Sweetspot liegt beim HMI in der goldenen Mitte

Die zweite Welle der Digitalisierung im Auto ist demnach weniger von Showeffekten geprägt. Stattdessen rücken Bedienbarkeit, Sicherheit und Differenzierung stärker in den Vordergrund. Reine Touchflächen stoßen dabei an ihre Grenzen, klassische Bedienelemente gewinnen wieder an Bedeutung. Sie gelten nicht als Rückschritt, sondern als Teil hybrider Bedienkonzepte, die digitale und haptische Elemente miteinander verbinden.

Für Hersteller wird es damit zur Aufgabe, Intermodalität ernst zu nehmen. Unterschiedliche Altersgruppen, Märkte und Kulturen erwarten Lösungen, die sich flexibel kombinieren lassen und sowohl vertraute als auch neue Bedienweisen berücksichtigen. Human-Machine-Interfaces entwickeln sich auf diesem Wege zu einem zentralen Unterscheidungsmerkmal im Wettbewerb. Ob Knopf, Drehsteller oder Display – entscheidend ist, dass jeder Kunde ein Interface vorfindet, das zu seinen Erwartungen passt. Die Herausforderung der Branche besteht darin, diese Vielfalt zu vereinen und dabei ein Fahrerlebnis zu schaffen, das intuitiv, sicher und unverwechselbar bleibt.