Bei Fahrzeug-Präsentationen werden nur allzu gern Superlative bemüht. Nicht anders war dies auch Anfang September so, als Mercedes-Benz seine brandneue S-Klasse in der ebenso neuen Factory 56 in Sindelfingen vorstellte. Mercedes-CEO Ola Källenius sprach vom „digitalsten Auto in der digitalsten Fabrik.“ Gleichwohl scheint eine Besinnung auf die inneren Werte stattzufinden. Schiere Leistungsdaten rücken zugunsten digitaler Cockpit-Angebote in den Hintergrund. Themen wie Bedienlogik, Infotainment oder Haptik nehmen vordere Ränge ein. Die Macher des neuen Topmodells von Mercedes-Benz haben sich diesbezüglich ins Zeug gelegt. Mit der neuen Generation der S-Klasse habe sich der Innenraum vollends zum „Third Place“ entwickelt, einem Refugium zwischen Zuhause und Arbeitsplatz, hört man vom OEM.
Basis für neue Erlebnisse und eine weitere Digitalisierung des Fahrens und Reisens bietet eine neue Architektur mit sehr ruhigen Linien und Flächen sowie die Dominanz großer Bildschirme. Zu den Highlights im Interieur des Top-Modells zählen multimodale Sitze aus eigener Fertigung, für deren optimale Position bis zu 19 Stellmotoren Dienste leisten. Die S-Klasse bietet eine aktive Ambientebeleuchtung, die in die Fahrassistenzsysteme eingebunden ist und Warnungen visuell unterstützen kann. Die Bedienelemente wurden mit Blick auf ein minimalistisches Erscheinungsbild reduziert und eine Instrumententafel entwickelt, bei der sich das Zentral-Display freischwebend anlehnt.
Daimler verbessert das Infotainment
In technischer Hinsicht wurde der von der Marke bereits bekannte Sprachassistent „Hey Mercedes“ soweit verfeinert und mit den entsprechenden Systemen vernetzt, dass beispielsweise eine Sitzposition animiert werden kann, wenn eine Spracheingabe erwartet wird. Neben Details wie einem Air-Balance-Paket mit Ionisator und aktiver Beduftung dürfte vor allem das intuitive Anzeigen- und Bedienkonzept MBUX Beachtung finden. Bis zu fünf große Bildschirme, die teils über OLED-Technologie verfügen, sollen Ansichten der Steuerung von Fahrzeug- und Komfortfunktionen erleichtern.
Das neue 3D-Fahrer-Display ermöglicht auf Knopfdruck erstmals eine räumliche Szenenwahrnehmung via Eye-Tracking. Echte Tiefenwirkung soll erzielt werden, ohne dass es einer speziellen 3D-Brille bedarf. Als Teil des Konzepts hat man den Sprachassistenten dialog- und lernfähiger gemacht, will heißen: per Aktivierung von Onlinediensten in der Mercedes-me-App. Die Macher der S-Klasse sprechen von echtem Multi-Seat-Entertainment: So umfasst das MBUX High-End Fond-Entertainment zwei 11,6 Zoll große Displays mit Touch-Bedienung an der Lehne von Fahrer- und Beifahrersitz. Ein persönliches Profil kann direkt im Fahrzeug erstellt und mit bestehenden Daten des Mercedes-me-Accounts synchronisiert werden.
Porsche bietet Functions on Demand
Alle Sinne ansprechen will man auch bei Volkswagen. Insbesondere im zweiten Elektro-Wurf der Marke VW, dem ID.4. Beim elektrischen Crossover-SUV aus der ID-Familie sprechen die Verantwortlichen mit Blick auf das Interieur von einem „neuartigen Charakter“. Der kompakte E-Antrieb biete Raum für Großzügigkeit – zur Luftigkeit soll die Trennung von Instrumententafel und Mittelkonsole beitragen. Als Sicherheits- und Komfortfeature dient ein Lichtband unter der Windschutzscheibe, das den Fahrer in vielen Situationen mit intuitiv erfassbaren farbigen Lichteffekten unterstützen soll. So hebt es etwa Hinweise von Assistenz- und Navigationssystemen hervor und kündigt Bremsaufforderungen sowie eingehende Telefonanrufe an. Die Sitze tragen das Gütesiegel der Aktion „Gesunder Rücken“. Sie lassen sie sich vielseitig elektrisch einstellen, und für diese Fahrzeugklasse besonders: ihre pneumatischen Lendenwirbelstützen integrieren eine Massagefunktion.
Elektromobilität auf einem höheren Level bietet der Volkswagen-Konzern derzeit in Form des Porsche Taycan. Zum Modelljahreswechsel können die Kunden der Sportwagenmarke nun ein farbiges Head-Up-Display ordern, das wichtige Informationen direkt in das Sichtfeld des Fahrers projiziert. Das Display ist aufgeteilt in einen Hauptanzeigebereich, einen Statusbereich sowie einen Bereich zur Anzeige temporärer Inhalte. Wie sich Aufrüstungen im Abo-Modell umsetzen lassen, zeigt der Sportwagenhersteller mit Functions on Demand. Taycan-Fahrer können verschiedene Komfort- und Assistenzfunktionen je nach Bedarf erwerben, was auch nachgelagert für den Kauf und zur ursprünglichen Konfiguration des Sportwagens funktioniere.
Dass Autos die Bedienwünsche ihres Fahrers bereits vorausahnen, wäre ein logischer nächster Schritt im modernen Cockpit. Im Rahmen einer gemeinsamen Entwicklung von Jaguar Land Rover und der Universität Cambridge geht es um das nächste Level der Touchbedienung. Die zum Patent angemeldete Technologie „Predictive Touch“ nutzt künstliche Intelligenz und Sensoren, um das angepeilte Ziel des Nutzers auf dem Touchscreen vorauszuahnen und den Bedienschritt berührungslos auszuführen. Dazu verwendet ein Gesten-Tracker aus der Unterhaltungselektronik bekannte optische oder funkgestützte Sensoren, um kontextbezogene Informationen wie das User-Profil, das Interface-Design und Umweltbedingungen mit Daten etwa eines Eye-Trackers zur Analyse der Blickbewegungen zu kombinieren. JLR zufolge haben Labortests und Versuche auf der Straße gezeigt, dass sich die Interaktion des Fahrers mit der Bedienoberfläche um bis zu 50 Prozent verkürzt.
Übergeben der Fahraufgabe
Gerade wenn es um neue Mobilitätskonzepte und das viel propagierte hochautomatisierte Fahren geht, sind die Denklabore der Zulieferer eine gute Adresse. Dieser Tage stellt Yanfeng Automotive Interiors die jüngste Vision eines Interieurkonzepts vor, das eine ganze Reihe von Projekten der vergangenen Jahre ergänzt. Mit ihrem jüngsten Smart-Cabin-Konzept XiM21 zielen die Interieur-Experten nun vorwiegend auf Benutzererlebnisse und intuitiv steuerbare Funktionen. Auch Wettbewerber Faurecia thematisiert mit dem Cockpit der Zukunft eine nahtlose, vorausschauende Nutzererfahrung: von einer automatischen Erkennung der Insassen über personalisierte Sitz- und Beleuchtungspräferenzen bis hin zu individuellen Klangzonen. Dabei erfolgt die Interaktion mit dem Fahrzeug intuitiv durch Sprache, Gestik oder Berührungen.
Für den Zulieferer zählen dazu multisensorische Wellnessprogramme an Bord, die einen Beitrag zur Entspannung und Revitalisierung der Insassen leisten sollen. Zusammen mit Faurecia trat ZF bereits vor Monaten mit dem Safe Human Interaction (SHI) Cockpit an die Öffentlichkeit. Mit dem Konzept zeigen die Zulieferer Wege, wie sich beim automatisierten Fahren ein Wechsel der Fahraufgabe zwischen Mensch und Maschine komfortabel und sicher gestalten lässt. Oft klaffe eine Lücke zwischen dem potenziellen Sicherheits- und Komfortgewinn durch automatisiertes Fahren und wie sich dieser Fortschritt für den Autonutzer anfühle.
Das SHI-Cockpit soll genau diese Diskrepanz beenden. Dazu setzen die Ingenieure auf eine spezielle Hands On Detection im Lenkrad, das bei möglichem automatisierten Fahrszenen hoch und nach vorne wegfährt, jedoch in Reichweite bleibt. Dank Steer-by-Wire kann das Lenkrad in diesem Fahrmodus stillstehen, anstatt sich weiter mit dem Radeinschlag zu drehen. Gleichzeitig rückt der Sitz nach hinten und unten, neigt sich aber stärker. Hierfür verfügt dieser über einen erweiterten Verstellbereich. Den Wechsel der Fahrverantwortung kommuniziert das SHI-Cockpit nicht nur über die automatische Änderung der Sitzposition, sondern auch über verschiedene Kanäle wie situationsbezogene haptische, optische und akustische Informationen.
Autos werden Ort der Unterhaltung
Die Welt außerhalb des Fahrzeugs tickt schnell. Sehr schnell. Daher sind Gaming und 4D-Kinoerlebnisse weitere Themen auf der Agenda der Interieur-Gestalter. Künftig sollen sich dank zentraler Hochleistungsrechner mit neuen Elektronikarchitekturen Klima- und Audiozonen sowie Bildschirme separat steuern und für jeden Passagier individuell bestimmen lassen, weiß Ralf Drauz, Global Account Director für deutsche OEMs bei Faurecia Clarion Electronics und Geschäftsführer der Clarion Europa, zu berichten. Ein mitfahrendes Kind könne dann beispielsweise auf der Rückbank einen Film schauen, während das andere auf dem Rücksitzmonitor ein Ratespiel spielt, das mit dem Smartphone bedient wird.
Die Erwachsenen bleiben durch die von Kopfhörern bekannte Advanced Noise Cancellation davon ungestört. Dazu bedarf es jedoch einer performanten Infrastruktur. Aktuell wird die Datenmenge über 4G und eine Datenzwischenspeicherung abgebildet. „Um ein anspruchsvolles Spiel zu erleben, ist zudem eine performante Hardware im Fahrzeug notwendig“, sagt Drauz. Mit der Umstellung auf 5G werde sich das nochmal verbessern. Und es werde sogar möglich sein, direkt in der Cloud zu spielen. Die Quadratur des automotiven Interieur-Kreises dürfte sich damit womöglich bald erreichen lassen.