Not macht erfinderisch, heißt es seit jeher. Der Ideenreichtum, mit dem viele Unternehmen jeglicher Größe während der Coronapandemie dem Ende ihrer Geschäftsmodelle oder zumindest ihrer Produktivität trotzten, war enorm. Das gilt nicht zuletzt für die Autobranche, der die globale Krankheit hart zugesetzt hat und es noch immer tut.
Produktionsausfälle durch geschlossene Werke und zusammengebrochene Lieferketten lassen sich zwar nicht durch gute Ideen retten. Doch es gibt vor allem einen Bereich, an dem sich ein digitaler Hebel ansetzen lässt: die Customer Journey. Nicht wenige würden behaupten, die Digitalisierung des Kundenerlebnisses in der Autobranche ist eine ohnehin überfällige Transformation.
Virtuelle Produktberatung
Die spanische VW-Tochter Seat hat die Zwangspause im vergangenen Jahr genutzt und eine ganze Reihe an Projekten angestoßen, deren Halbwertszeit die der Pandemie überdauern dürfte. Die Spanier starteten in Deutschland im April mit einer virtuellen Produktvorstellung durch den Händlerbetrieb, bei der Kunden Beratungs- und Verkaufsgespräche per Videokonferenz führen können. Die anvisierten Fahrzeugmodelle kann der Berater vor Ort dem Kunden am Bildschirm zeigen.
Da ein neues Fahrzeug auch getestet werden will, sind Probefahrten zudem über einen kostenlosen Bring-und-Hol-Service möglich. „Der Verkäufer trägt bei der Übergabe des Fahrzeugs Handschuhe und Schutzmaske. Bevor der Interessent einsteigt, werden die markanten Stellen im Innenraum mit Desinfektionsmittel gereinigt“, sagt Bernhard Bauer, Deutschland-Geschäftsführer bei Seat. Auch für anstehende Werkstatttermine wurde ein Fahrservice eingerichtet.
Besuch in der digitalen Garage
Ein halbes Jahr später stand die nächste Ausbaustufe der Digitalisierungsstrategie im Vertrieb auf dem Plan: Für Seats Performancemarke Cupra ging die Plattform „Cupra e-Garage am Cap Formentor“ an den Start. Dabei handelt es sich um einen virtuellen Showroom, in dem sich die Nutzer eigene Avatare erstellen und mit anderen in den Austausch treten können – und nicht zuletzt stehen natürlich die Modelle des spanischen Autobauers im Mittelpunkt.
Wenig später wurde aus dem Raum für Markenfaszination auch tatsächlich ein Showroom im wörtlichen Sinne: Cupra-Experten stellen, ausgestattet mit Smart Glasses, dem interessierten Nutzer im virtuellen Verkaufsraum das Wunschfahrzeug vor. So können technologische Features erklärt oder Ausstattungsvarianten bis hin zu Farben virtuell präsentiert werden.
Kommt das Angebot bei den Kunden an? „Das Feedback unserer Kunden ist durchweg positiv: die virtuelle Beratung durch CUPRA Master funktioniert schnell und einfach über ein mobiles Endgerät von quasi überall“, sagt Giuseppe Fiordispina, Marketingleiter bei Seat Deutschland, gegenüber automotiveIT. Daher soll die Garage auch nicht der Performancemarke vorbehalten bleiben: „Um auch Seat-Kunden eine persönliche Beratung während des Lockdowns und darüber hinaus zu bieten, möchten wir so zeitnah wie möglich mit diesem Angebot starten. Wir haben mit unseren Seat-Partnern für dieses Jahr Rollouts geplant.“
Auf der Überholspur durch die Produktion
Die Digitalisierung des Vertriebs ist allerdings nicht der einzige Hebel, um die Customer Experience auf ein neues Level zu heben. „Wir haben gemeinsam mit unseren Kollegen der Produktion und des Vertriebs das sogenannte Fast.Lane Konzept entwickelt und in den Markt gebracht“, sagt Seat-CIO Sebastian Grams im Interview mit automotiveIT. 21 Tage nach Bestellung bekommt der Kunde seinen Neuwagen ausgeliefert. „Das funktioniert nur deshalb, weil wir in der Lage sind, die Logistikprozesse auch die unserer angebundenen Lieferanten vollständig digital auszusteuern“, sagt Grams.
Um das Kundenerlebnis weiter zu steigern und die Faszination für die Marke und das eigene Fahrzeug aufzubauen, wurde von der IT zudem ein Tracking-Tool entwickelt, mit dem der Kunde den Weg seines Autos durch die Fertigung per QR-Code verfolgen kann. „Das ist ein tolles Kauferlebnis, wenn der Kunde den Entstehungsprozess seines Autos miterleben kann“, so Grams.
Seat testet das Tool derzeit in Österreich. Noch zeigen sich auch nur ausgewählte Modelle mit dem Service kompatibel. „Wir arbeiten aber daran, das Angebot sukzessive über unsere Palette auszurollen. Es hängt natürlich auch von unseren an den Lieferanten ab, die vollends digital an unsere Logistik angebunden sein müssen“, erklärt Sebastian Grams. Ein solches Tracking-Tool lässt sich selbstverständlich gedanklich weiterspinnen: So könnte der Kunde vor einzelnen Fertigungsschritten noch Einfluss auf sein Fahrzeug nehmen, etwa um in letzter Sekunde noch eine andere Farbe zu ordern. „Ideen dazu gibt es, aber das haben wir noch nicht realisiert. Das ist gewissermaßen die Königsklasse des Live-Trackings im Fahrzeugbau“, so Grams.