Stefan Bratzel

Die deutschen Autobauer seien beim Connected Car immer noch stark, konstatiert CAM-Leiter Bratzel im Interview, doch die Konkurrenz schlafe nicht. (Bild: facesbyfrank)

Herr Bratzel, die Innovationen in den Zukunftsfeldern Vernetzung, Interfaces und autonomes Fahren haben sich in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Gleichzeitig geht die Innovationsstärke vor allem der traditionell starken deutschen OEMs kontinuierlich zurück. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Egal ob Vernetzung, autonomes Fahren oder digitale User Experience – diese Zukunftsthemen sind bei den Automobilherstellern in den vergangenen zehn Jahren auf der Agenda ganz weit nach vorne gerückt. In den letzten zwei bis drei Jahre stellen wir jedoch fest, dass die Zahl der CC-Innovationen ein Plateau erreicht hat oder sogar leichte Rückgänge zu verzeichnen sind. Das liegt daran, dass in vielen Bereichen über die gesamte Breite der Hersteller die „Low Hanging Fruits“ mittlerweile geerntet sind.

Was meinen Sie damit konkret?

Auf allen Technologiefeldern gab es am Anfang die Vorreiter, die mit neuen Technologien als erstes auf den Markt gekommen sind, dahinter folgen die Fast Follower und die Nachzügler. Bei vielen technologisch vielleicht nicht allzu herausfordernden Themen sind die Unternehmen jetzt auf ähnlichem Niveau. Hinzu kommen beispielsweise beim autonomen Fahren die – wie ich es nenne – die „Mühen der Ebenen“: Das Level 2 beziehungsweise 2+ ist weitestgehend in der Breite angekommen, da stellen wir nur noch wenig Innovationsdynamik fest. Dafür ist der nächste Schritt auf Level 3 und 4 nochmal eine enorme Anstrengung, bei der wir wieder deutlich mehr Innovationen erleben werden. Dafür braucht es dringend eine Überarbeitung der Fahrzeugarchitekturen, um beispielsweise mittels Over-the-Air-Updates bestimmte Funktionen in dem Bereich on Demand zu realisieren.

Die großen Gewinner dieses Jahr kommen aus den USA und Asien. Trend oder Momentaufnahme?

Erstmal sei klar betont: die deutschen OEMs sind immer noch stark beim Connected Car. Doch relativ gesehen holt Konkurrenz aus anderen Teilen der Welt spürbar auf. Chinas Hersteller bringen schon seit einigen Jahren stetig mehr Innovationen hervor, aber auch die USA holen nach einer Schwächeperiode wieder auf. Das liegt natürlich vor allem an Tesla, das in den letzten Jahren immer vorne mit dabei ist, aber auch alte Schwergewichte wie Ford oder GM machen ihre Hausaufgaben. Hinzu kommen einige Neuankömmlinge in der Branche wie Lucid, Rivian, Nio oder Aiways, die die Etablierten in den nächsten Jahren immer stärker herausfordern werden.

Wie in jedem Jahr sind auf der Seite der Verlierer beziehungsweise der Low Performer viele traditionsreiche OEMs wie Hyundai oder Stellantis. Besonders augenfällig ist aber der Absturz von BMW. Wie lässt sich das erklären?

BMW ist eigentlich immer unter den Top 5 der Branche, was die CC-Innovationen anbelangt, im letzten Jahr noch auf Platz drei. Der kleine Durchhänger dieses Jahr ist vor allem mit der geringen Weltneuheitenstärke und wenig absoluten Neuheiten zu erklären. Für mich ist das eine reine Momentaufnahme, wenngleich auch für BMW die Konkurrenz immer härter wird. In der Vergangenheit haben die Münchner bei vielen Themen die Geschwindigkeit gesetzt, da müssen sie wieder hin, das sollte der Anspruch eines Premium-OEMs sein.

Connected Services spielen nicht nur im CCI-Ranking eine immer wichtigere Rolle, auch die OEMs versprechen sich viel von vernetzten Dienstleistungen. Kann ein Hersteller künftig am Autofahrer selbst mehr verdienen als am Auto?

Das Zukunftsversprechen dieser daten- und softwaregetriebenen Dienste ist eine besonders gute Rendite. Um diese einzufahren, braucht es auf der einen Seite neue Fahrzeugarchitekturen und auf der anderen Seite entsprechende digitale Ökosysteme. Dafür müssen die Hersteller schnellstmöglich die Voraussetzungen schaffen, was alles andere als trivial ist – verfolgen Sie doch nur mal die aktuellen Nachrichten (lacht). Einige Autobauer, darunter Volkswagen oder Tesla, haben sich im Bereich der Connected Services schon ein kleines Portfolio aufgebaut. Aber das ist erst der Beginn einer datengetriebenen Wertschöpfung, die in den nächsten Jahren zur vollen Entfaltung kommen wird.

Stichwort Erfolgswahrscheinlichkeit: Versprechen vernetzte Dienste kurzfristig größeren Kundennutzen und damit auch schnell verdientes Geld?

Wenn die Hersteller eine entsprechende Hardware-Architektur aufgebaut haben, können sie sukzessive über den Fahrzeuglebenszyklus entsprechende Dienste ausrollen und dann auch relativ schnell davon profitieren. Wir haben festgestellt, dass es viele Services mit einem moderaten bis hohen Kundennutzen bei gleichzeitig relativ niedrigen Kosten für den OEM gibt. Das liegt daran, dass vieler dieser Dienste softwaredefiniert sind und sich bei entsprechender Hardwarekonfiguration leicht ausrollen lassen. Zugleich existieren solche mit einem eher geringen rationalen Nutzen, die aber vielleicht eine Marke emotional aufladen und somit ebenso für die Hersteller interessant sein könnten. Tesla ist in dieser „Cheap Thrills Area“ Pionier.

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Der Connected-Car-Innovation-Studie (CCI) ist ein jährlich durchgeführtes Branchenbarometer, das die Leistungs- und Innovationsstärke von 28 weltweiten Automobilherstellern in den Bereichen vernetztes Fahrzeug und vernetzte Dienstleistungen sowie deren Marktstärke anhand verschiedener Indikatoren empirisch erhebt und vergleichend darstellt. Basis der Studie von automotiveIT, dem CAM und dem Partner Cisco ist die Innovationsdatenbank des Center of Automotive Management (CAM). Alle Rankings, Fakten und Hintergründe sowie das Gesamtergebnis der CCI-Studie lesen Sie im exklusiven Summary oder der Langfassung, die hier zum kostenlosen Download zur Verfügung stehen. Basis der Studie ist die Innovationsdatenbank des Center of Automotive Management (CAM).

Welche technologischen und strategischen Kompetenzen sollte ein Hersteller aufbauen oder bereits haben, um bei software- und datengetriebenen Geschäftsmodellen und neuer Konkurrenz aus der Tech-Welt mithalten zu können?

Für das Software-defined Car braucht es auch das „Software-defined Thinking“. Dazu gehört für mich die zentrale Erkenntnis, dass Time-to-Market in naher Zukunft viel wichtiger sein wird als früher. Für viele Player in der Autobranche reift gerade die Erkenntnis, dass für dieses Rennen Partner aus der Big-Data- und Tech-Welt unerlässlich sind, sonst verpasst man den Anschluss. Das ist für die Autobauer natürlich ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite greifen ihnen die Kooperationspartner in Sachen Schnelligkeit unter die Arme, andererseits profitieren sie auch selbst, wenn Systeme wie beispielsweise Android Automotive Einzug ins Fahrzeug halten – und sie damit langfristig das digitale Ökosystem im Auto dominieren. Deswegen haben sich ja einige OEMs – alle voran die deutschen – für den Weg entschieden, verstärkt eigene Kompetenzen aufzubauen, um nicht in eine zu starke Abhängigkeit von den Googles und Apples dieser Welt zu geraten.

Zum Schluss der Blick in die Glaskugel: In zehn Jahren wird ein Auto ein vollvernetztes und automatisiertes Software-Produkt sein, das nahtlos in das digitale Ökosystem des Nutzers integriert ist. Doch welches Logo wird auf der Motorhaube prangen: das von Google oder das von Volkswagen?

Google wird es wohl egal sein, ob das eigene Logo auf der Motorhaube zu sehen ist, denen geht es eher um die inneren Werte (lacht). Im Ernst: die Kernfrage für die Automobilbauer wird in den nächsten Jahren sein, ob es ihnen gelingt, sich zu einer echten Software-defined-Car-Company zu wandeln und entsprechende Wertschöpfung zu erzielen. Dieses Zielbild haben alle erkannt, jetzt geht es um die Execution. In zehn Jahren wird es nicht mehr darum gehen, einfach nur ein Hardware-Paket zu verkaufen, sondern dann beginnt ja eigentlich erst die neue Wertschöpfung.

Zur Person:

stefan Bratzel Profil

Der 1967 in Münzesheim (Baden) geborene Automobilexperte Stefan Bratzel studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und promovierte dort zu den "Erfolgsbedingungen von umweltorientierter Verkehrspolitik". Beruflich folgten Managerpositionen bei Smart, Quam und PTV, ehe Bratzel 2004 als Dozent und Studiengangsleiter für Automotive Management an die private Fachhochschule der Wirtschaft (FHDW) in Bergisch Gladbach wechselte. Im gleichen Jahr gründete er das Center of Automotive Management (CAM), das er bis heute als Direktor leitet.

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