Mercedes CLA im chinesischen Stadtverkehr
Autonom durch den Ameisenhaufen
In Peking fährt der Mercedes CLA autonom im Stadtverkehr.
(Bild: Mercedes-Benz)
Trotz verschärfter Regeln nach einem tödlichen Xiaomi-Unfall bleibt urbane Assistenz in China gefragt. Mercedes setzt deshalb im neuen CLA auf den nächsten großen Schritt Richtung Autopilot.
Es ist mal wieder die Hölle los in Shanghais Finanzdistrikt. Denn es ist Viertel nach Feierabend und millionenfach stauen sich die Büroarbeiter nach Hause. Und als wäre damit auf den bisweilen achtspurigen Straßen rechts des Huangpu Rivers nicht schon genug los, flitzen auch noch tausende Scooter kreuz und quer durch den Verkehr, fliegende Händler verkaufen von ihren Wagen herunter das Abendessen to go und Heerscharen von Fußgängern wuseln auf ihrem Weg zu Bussen und Bahnen. Spaß macht das Autofahren hier keinem.
Außer Gaolei Shi. Der Ingenieur sitzt wenige Monate vor der chinesischen Markteinführung in einem Mercedes CLA und das Grinsen in seinem Gesicht wird immer breiter. Denn wo andere nur mühsam den Überblick behalten, der Puls und mit ihm der Stresslevel steigt, lehnt er sich entspannt zurück, hält das Lenkrad nur noch mit den Fingerspitzen fest und testet hier im Business District Pudong ein Assistenzsystem, das den elektrischen Hoffnungsträger zum City-Champion in China machen soll. „Navigation Assisted Driving“ heißt die Vorstufe zum Autopiloten, die Mercedes mit dem CLA in China einführt und damit selbst dem wildesten Gewusel den Schrecken nehmen will.
Während sich die Schwaben bei uns vor allem auf die Autobahn fokussieren, ihren Drive Pilot mittlerweile für freihändiges Fahren bis Tempo 95 freischalten und damit der Konkurrenz in München und Ingolstadt vorausfahren, liegt das Augenmerk in Asien auf dem Stadtverkehr: „Hier in den Städten spielt die Musik,“ sagt Mercedes-Mann Shi, „hier sind die Menschen am meisten unterwegs und hier brauchen sie die größte Unterstützung. Der Verkehr zwischen den Metropolen interessiert die Chinesen dagegen kaum.“
Mercedes’ Navigations-Offensive in Chinas Megastädten
Damit steigt Mercedes in eine Arena, in der sich nach der Überzeugung vieler Experten neben dem Infotainment, der Digitalisierung und natürlich der Elektrifizierung das Wohl und Wehe der Autohersteller in China entscheiden wird. Denn wo der Stadtverkehr komplexer und oft auch chaotischer ist als irgendwo sonst auf der Welt, wo die Straßen auf zwei, drei Ebenen übereinander geführt werden und sich dutzende Fahrzeugkategorien den knappen Verkehrsraum teilen müssen, ist Unterstützung womöglich nötiger als auf der deutschen Autobahn.
Allerdings hat die Euphorie der Entwickler im Frühjahr einen großen Dämpfer erfahren, als im März der vielgelobte Xiaomi SU7 auf einer Level2-Fahrt in einer Baustelle in eine Betonbarriere krachte und drei junge Menschen ums Leben kamen. Weil der Unfall große Aufmerksamkeit erregte und lange Diskussionen nach sich zog, hat das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie die Zügel angezogen, den Herstellern irreführende Marketingversprechen wie "selbstfahrend", "autonomes Fahren", "intelligentes Fahren" und "fortschrittliches intelligentes Fahren" untersagt und zudem der gängigen Praxis, die Kunden zu Beta-Testern zu machen und Fehler mit allzuvielen Updates zu korrigieren, Einhalt geboten.
Auch Shi und seine Kollegen müssen sich deshalb an ein neues Wording gewöhnen und ihr System im CLA für jede Stadt einzeln frei geben lassen, weshalb das „Navigation Assisted Driving“ erst einmal nur im wichtigsten Dutzend der Millionen-Metropolen startet und erst Stück für Stück im ganzen Land ausgerollt wird. Aber das mindert nichts an dem Eindruck, den der Mercedes-Mann bei der Testfahrt in Shanghai damit schinden kann: Per Sprachbefehl gibt er sein Ziel ein, startet die Navigation und aktiviert den bislang noch namenlosen Level2++-Assistenten, sobald er auf öffentlichem Gebiet ist – und hat von da an Pause. Zwar bleibt er in der Verantwortung, muss deshalb die Augen auf der Straße lassen und die Hände bisweilen kurz ans Lenkrad nehmen. Doch alle Fahraufgaben selbst übernimmt der CLA.
MB.OS übernimmt das Steuer
Die auf dem neuen Betriebssystem MB.OS aufgesetzte Elektronik bestimmt das Tempo, hält vor der roten Ampel, fährt an der grünen wieder an, hält den Abstand und wählt den richtigen Kurs. Während es auf der Navikarte aussieht wie auf einem Wimmelbild und man alle anderen Verkehrsteilnehmer erkennt, bremst die Coupé-Limousine für Fußgänger, weicht Rollern und Rädern aus und macht höflich Platz, wenn sich der Nachbar vor den Bug quetscht. Selbst Linksabbiegen klappt, und zwar nicht nur am grünen Pfeil, sondern auch ungeschützt im Gegenverkehr. Und wenn die Navigation zum U-Turn rät, dann sucht sich Shis Dienstwagen dafür die passende Stelle, schlägt einen Haken und fährt ein paar Sekunden später auf der Gegenfahrbahn. Dafür nutzt MB.OS keine zusätzlichen Sensoren und auch keine speziellen HD-Karten. „Sondern uns reicht das Set-Up, das wir in jedem Auto verbauen werden“, sagt Software-Chef Magnus Östberg und zählt auf, wie der CLA seine Welt sieht: Vier Radare und insgesamt zehn Kameras hinter der Scheibe, in den Spiegeln, am Bug und am Heck öffnen der Elektronik die Augen und ermöglichen ein 360-Grad-Panorama, das weit genug reicht, um etwa auf Kreuzungen auch in die Seitenstraßen zu schauen.
Anhalten, abwarten, abbiegen, beschleunigen, und wieder einscheren – all das klappt ohne Risiko und mittlerweile erfreulich harmonisch. Waren die ersten Prototypen vor ein, zwei Jahren noch übervorsichtig und regeltreu wie Fahrschüler in der Prüfung, drängt sich der CLA jetzt schon mal ein bisschen forscher in den Verkehr und erzwingt sich so seine Vorfahrt. Und längst lässt er auch nicht mehr jeden in die Lücke. Ein bisschen Feinschliff noch, Freigaben für mehr als die bislang nur eine Handvoll chinesischer Metropolen und vielleicht irgendwann sogar eine Personalisierung oder zumindest unterschiedliche Profile von „defensiv“ bis „aggressiv“, von „Vorbild“ bis “Rüpel“ – ganz fertig sind Shi und seine Kollegen noch nicht. Und dann müssen ja auch noch die Kaufleute ran, und das System irgendwie einpreisen. Doch Shi ist zuversichtlich, dass sie bis zur Markteinführung des CLA zum Ende des Jahres in China soweit sein werden.
Diese Erfahrung sammelt der elektronische Neuling übrigens nicht nur in Shanghai, das System wird auch außerhalb Chinas an den Start gehen. Für die USA haben die Schwaben schon grünes Licht, sagt Östberg und berichtet auch von Gesprächen mit dem KBA, die durchaus Mut machen. „Theoretisch können wir das in Stuttgart genauso gut wie in Shanghai,“ so Östberg, „und alles, was wir dafür brauchen, hat der neue CLA bereits an Bord.“ Fehlt nur noch der Segen der Behörden.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 12. Mai 2024 und wird seitdem fortlaufend aktualisiert.