Frau Levy, Sie haben im Mai die Rolle als CEO der 42 Schulen in Wolfsburg und Berlin übernommen. Wie kamen Sie zu der neuen Position?
Vorher war ich lange Zeit Senior Director of Operations bei CIEE, einer Organisation für internationalen Studentenaustausch und zwischendurch habe ich für eine norwegische Bildungstechnologiefirma gearbeitet. Deshalb wollte ich auch weiterhin in einer Position arbeiten, die internationale Bildung und Technologie vereint. Ende 2023 kamen dann ein paar Leute aus meinem Bekanntenkreis auf mich zu und haben mich auf die Stelle bei 42 hingewiesen. Im Anschluss war ich bei einem Networking-Event in Berlin, wo ich auch nochmal gesehen habe, dass ein neuer Direktor oder eine neue Direktorin gesucht wird. Nachdem ich die Info also aus unterschiedlichen Quellen gehört hatte, dachte ich: Dann ist es vielleicht Schicksal.
Ob beim CIEE oder auch bei der 42 arbeiten Sie in enger Näher zur nächsten Generation an Fachkräften, die von der Automobilbranche händeringend erwartet wird. In der Industrie wird sich häufig die Frage gestellt, wie es gelingt, Talente für das eigene Unternehmen zu begeistern und dort zu binden. Welcher Ansatz ist hierfür eine geeignete Basis?
Fachkräftemangel ist wirklich ein sehr großes Thema in Deutschland. Man hört ja immer, dass aktuell rund 150.000 Fachkräfte in der deutschen IT-Landschaft fehlen und sich diese Zahl noch deutlich erhöhen wird. Deshalb ist es wichtig, dass wir über alle Industrieebenen hinweg nach Wegen suchen, neue Talente zu binden. Ich denke, diese nächste Generation an Fachkräften legt enorm viel Wert auf Flexibilität, einschließlich der Hybrid- und Remote-Working-Optionen. Außerdem kriegen wir positives Feedback für unsere diversen Studierendengruppen. Deshalb glaube ich, dass es auch für die Unternehmen wichtig ist, nach neuen Talenten aus unterschiedlichen Altersgruppen und Ländern zu suchen. Das tut allen gut.
Hands-on-Ansatz erhöht Erfolgschancen
Denken Sie, diese neuen Fachkräfte können die Innovationskraft und -geschwindigkeit der Automobilindustrie verbessern?
Ich glaube auf jeden Fall, dass unsere Studierenden frischen Wind in die Industrie bringen. Wir hören auch in den Gesprächen mit unseren Partnern, dass sie die Ideen und das praxisorientierte Arbeiten unserer Studierenden schätzen. Letzteres lernen sie viel durch die Zusammenarbeit in Teams und das Peer-to-Peer-Learning, auf das wir setzen. Deshalb gewinnen unsere Teams häufig Hackathons und andere Wettbewerbe. Ihren Erzählungen zufolge erleben sie oft, dass die Teams der größeren Firmen oft erstmal einen halben Tag lang überlegen, wie beispielsweise ein Konzept aussehen könnte. Unsere Studierenden legen einfach los und bringen diesen Antrieb mit in die Unternehmen.
Wie gehen Sie sicher, dass dieses peerbasierte Lernmodell und der dazugehörige Lehrplan langfristig erfolgreich bleiben und sich weiterentwickeln?
Unser Kerncurriculum kommt direkt aus Paris. Von dort aus startete die 42-Schule im Jahr 2013 und verfügt mittlerweile über 56 Niederlassungen in 32 Ländern weltweit. Deshalb ist das Curriculum zu Beginn immer gleich, egal wo. Eine dieser wichtigen Grundlagen ist beispielsweise C++. Diese Basis ermöglicht es den Studierenden, andere Programmiersprachen noch schneller zu lernen. Solche Denkansätze unterscheiden uns von einem Bootcamp. Bei uns lernen die neuen ITler nicht nur zwei Monate lang Python, sondern sie erarbeiten sich eine starke Grundlage für eigenständiges, innovatives Denken. Zusätzlich bieten wir unterschiedliche Spezialisierungen an: Cybersecurity, KI und Mobilität zum Beispiel. Diese sind meiner Meinung nach eine sehr sinnvolle Ergänzung zum Kernstudium. Wenn die Studierenden sich für etwas besonders interessieren, können sie sich hier in Wolfsburg oder flexibel an anderen Standorten genau in den jeweiligen Bereichen weiterbilden.
Was ist C++ ?
C++ ist eine von der ISO genormte Programmiersprache, die im Jahr 1979 als Erweiterung der Programmiersprache C entwickelt wurde. Sie zeichnet sich durch eine hohe Performance aus, da sie direkten Zugriff auf Hardware und Speicher ermöglicht und sich besonders für rechenintensive Anwendungen eignet. Die Sprache unterstützt sowohl prozedurale als auch objektorientierte Programmierung, was sie für eine Vielzahl von Anwendungsbereichen wie Systemprogrammierung, Spieleentwicklung, KI oder eingebettete Systeme prädestiniert. Zudem erlernen Entwickler durch diese Kombination ein breites Spektrum an Techniken und Denkmustern, die auch in anderen Sprachen wie Java oder Python relevant sind.
Weibliche Führungskräfte setzen wichtiges Zeichen in der IT
Stehen die 42-Schulen oder auch Sie als Direktorin aktuell vor Herausforderungen?
Natürlich wollen wir noch weiter wachsen. Wir wollen mehr Studierende aufnehmen können und auch einen größeren Frauenanteil erreichen. In Berlin haben wir schon einige weibliche Talente mit an Board, aber in Wolfsburg könnten wir uns dahingehend noch entwickeln. Hier habe wir hingegen mit 29 Jahren ein relativ hohes Durchschnittsalter, demnach auch einen gewissen Diversitätsfaktor. Der Campus in Berlin ist etwas größer und kann daher mehr Studierende gleichzeitig ausbilden. Das liegt unter anderem am größeren Einzugsgebiet und natürlich an Berlins hoher Attraktivität als Studentenstadt. Die Studierenden kommen gern in die Stadt für das Studium an der 42-Schule und gehen danach vielleicht andere Wege in anderen Städten. In Wolfsburg herrscht eine etwas bodenständigere Atmosphäre – es ist ruhiger und familienorientierter.
Momentan scheint der Frauenanteil in IT-bezogenen Führungsrollen zu steigen - dafür sind Sie und beispielsweise Volkswagens IT-Vorständin Hauke Stars oder die neue Mercedes-CIO Katrin Lehmann gute Beispiele. Was glauben Sie, woran das liegt?
Dass es mehr Frauen in Führungspositionen im Bereich IT gibt, ist ein Fortschritt – auch wenn er leider langsam voranschreitet. In den letzten Jahrzehnten studieren immer mehr Frauen, weil sie sich bemühen, Familie und Beruf zu vereinen. Ich selbst habe zwei Töchter im Teenageralter, und es ist mir wichtig, ihnen als Vorbild zu zeigen: Du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst. Frauen in Führungspositionen sind in Deutschland und den USA noch immer eine Minderheit, besonders in der Politik. Jede Frau, die eine solche Position übernimmt, setzt ein wichtiges Zeichen: Traut euch – ihr schafft das! Mit weiblichen Vorbildern wächst die Akzeptanz, und irgendwann brauchen wir keine Quote mehr, weil der Anteil ausgeglichener ist. Ideal wäre es, wenn wir in fünf Jahren gar nicht mehr darüber reden müssten. Das muss erst in die Köpfe der Menschen: Frauen in Führungspositionen sind äußerst wertvoll. Diversität bringt andere Perspektiven, und das ist wichtig, denn lange Zeit waren es nur Männer, die Systeme und Entscheidungen geprägt haben. Weibliche Perspektiven bereichern diese Strukturen, genauso wie andere Nationalitäten wichtig sind, um vielfältige Blickwinkel einzubringen. Unterschiedliche Führungsstile sind ebenso bedeutsam. Ein langsameres, abwägendes Vorgehen wird manchmal missverstanden, weil man eher einen dominanten, schnellen Stil gewohnt ist. Aber oft ist es effektiver, erst verschiedene Meinungen zu hören, bevor eine Entscheidung getroffen wird.
42-Wolfsburg profitiert von Volkswagens Strahlkraft
Wie sieht die aktuelle Zusammenarbeit mit Volkswagen aus?
Unser Vorstand ist stark mit Volkswagen verbunden, da viele Vorstandsmitglieder entweder aktuell bei Volkswagen tätig sind oder zuvor dort gearbeitet haben. Unsere Kooperationen sind themen- und projektbezogen. Besonders im Recruiting-Bereich arbeiten wir viel mit Volkswagen zusammen, etwa bei Karriere-Events und der Ansprache von Schülern. Solche Kontaktpunkte gibt es immer wieder. Aber Volkswagen oder andere Partner legen nicht fest, was wir tun. Eine Kollegin von Volkswagen meinte kürzlich, dass es sinnvoll wäre, die 42 bei Karrieremessen in der Region stärker zu präsentieren – nicht nur, um Talente für Volkswagen zu gewinnen, sondern um zu zeigen, welche Chancen wir in Wolfsburg bieten. 2026 steht zum Beispiel die IdeenExpo in Hannover an, bei der Volkswagen mit einem großen Stand vertreten sein wird, um Schüler anzusprechen. Für uns wäre es finanziell kaum möglich, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Wenn wir von der Strahlkraft der Marke Volkswagen profitieren können, ist das eine große Hilfe. Gleichzeitig arbeiten wir aber auch mit anderen großen Partnern wie der Telekom, Bosch, Lufthansa Industry Solutions, Microsoft und SAP zusammen. Diese Vielfalt an Industriepartnern ist für uns sehr wertvoll.
Volkswagen war auch in der Entwicklung vom SEA:ME-Programm involviert. Wo steht SEA:ME heute?
Das SEA:ME Projekt ist gerade in seinem zweiten Jahr hier in Wolfsburg. In diesem Monat hat der internationale Ableger des eigens entwickelten Lehrplans seine Türen geöffnet. Mit SEA:ME Portugal in Lissabon sehen wir, dass wir hier einen Nerv getroffen haben und bringen den innovativen Peer-Learning-Ansatz in diesem hochspezialisierten Bereich nun auch an andere Standorte.
Starkes Miteinander soll berufliche Nachhaltigkeit ermöglichen
Inwieweit spielen Themen wie Nachhaltigkeit und ethische Verantwortung in der Ausbildung der 42 Schulen eine Rolle?
Besonders interessant in der Automobilindustrie finde ich die Kreislaufwirtschaft. Das Thema bleibt wichtig und entwickelt sich weiter. Wie waren vor kurzem erst am Forschungscampus der Open Hybrid Lab Factory, die in diesem Bereich viel macht. Er wurde mit Fördergeldern aufgebaut und vereint mehrere Bildungseinrichtungen und Industriepartner. Das Konzept ist eine offene, hybride Einrichtung mit Büroräumen und einer riesigen Halle für Forschung und Entwicklung, wo auch Crashtests und Fertigungssimulationen stattfinden. Für uns ist die Open Hybrid Lab Factory eine großartige Inspirationsquelle. Wir planen, Studierenden die Möglichkeit zu geben, die Einrichtung zu besuchen, um direkt vor Ort Eindrücke zu sammeln und Ideen zu entwickeln. Unser Ziel ist es, Nachhaltigkeit und innovative Ansätze noch mehr in unser Bildungskonzept zu integrieren. Es ist uns wichtig, dass Studierende – besonders jene, die sich für die Automobilbranche interessieren – lernen, wie sie nachhaltige Konzepte in ihre Projekte und späteren beruflichen Tätigkeiten einbauen können. Was die berufliche Nachhaltigkeit angeht, wollen wir Studierende nicht für einen Arbeitsmarkt ausbilden, in dem keine Nachfrage nach ihren Fähigkeiten besteht. Daher arbeiten wir eng mit den Städten und Industriepartnern zusammen, um eine realistische Vorstellung zu geben, was Absolventen und Absolventinnen erwartet. Bei 42 Wolfsburg hatten wir im Jahr 2022 eine einhundertprozentige Jobvermittlungsrate, die jedoch aufgrund der Marktdynamik nicht für immer garantiert werden kann. Daher ist es entscheidend, den Studierenden realistische Erwartungen zu vermitteln. Unsere Botschaft lautet: Wir öffnen Türen, aber die Studierenden müssen ihren Weg selbstständig gehen. Wir wählen Menschen zudem nicht primär nach ihren Lernergebnissen aus, sondern nach ihrer Teamfähigkeit und ihrer Bereitschaft, sich auf die Dynamik des Lernprozesses einzulassen. Studierende, die sich als Einzelkämpfer verstehen oder denken, über allem zu stehen, passen nicht zu unserer Ausbildungskultur. Diese Werte fördern auch berufliche Nachhaltigkeit, da ein gesundes Miteinander später entscheidend für den Erfolg im Berufsleben ist.
42-Schulen fokussieren individuelle Bildungswege
Welche langfristigen Ziele verfolgen Sie durch die Entwicklung der 42-Standorte in den nächsten fünf Jahren?
Wir wollen die Zahl unserer Studierenden kontinuierlich steigern und unsere Kapazitäten voll ausschöpfen, um möglichst vielen Menschen den Zugang zur Tech-Welt zu eröffnen. Unser langfristiges Ziel ist es, dass die Leute beim Hören von 42 sofort an eine innovative Tech-Bildungsinstitution denken, die für Qualität und eine einzigartige Ausbildungsmethode steht. Ein Hindernis, das wir überwinden möchten, ist das fest verankerte deutsche Bildungsdenken. Oft erleben wir, dass junge Menschen begeistert zur Tür hereinkommen, während ihre Eltern skeptisch sind, weil die Ausbildung bei uns kein Bachelor-Zertifikat bietet. Hier fehlt noch das Verständnis dafür, dass jemand mit einem bunten Bildungshintergrund und nachweislicher Motivation wertvoll ist – auch ohne klassischen Abschluss. Doch in Bereichen wie dem öffentlichen Dienst stoßen unsere Absolventen und Absolventinnen noch auf starre Einstiegsbedingungen, da sie ohne Bachelor nicht in die Tarifstruktur passen. Dies nimmt der deutschen Wirtschaft enormes Potenzial, und wir hoffen, dass sich das langfristig ändert. Ein Schritt in diese Richtung ist, Partnerschaften mit Universitäten aufzubauen, um duale Studienmöglichkeiten anzubieten. So könnten Studierende ohne vorherige akademische Ausbildung parallel zu 42 noch einen Bachelor an einer Hochschule absolvieren. Wir möchten Menschen ein breites Spektrum an Möglichkeiten bieten, je nach ihren individuellen Bedürfnissen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass wir alle lebenslang Lernende werden müssen. Die Zeiten, in denen man einmal studiert und dann bis zur Rente arbeitet, sind vorbei. Die technologische Entwicklung bringt stetig neue Anforderungen, und bei 42 fördern wir diese Bereitschaft, lebenslang zu lernen.
Zur Person:
Als CEO von 42 Berlin und 42 Wolfsburg fördert Stephanie Levy internationale Tech-Ausbildung von über 750 Studierenden und baut langfristige Partnerschaften mit der Industrie auf. Zuvor war sie General Manager DACH bei Inspera, einem EdTech-Unternehmen, und leitete die Geschäftsentwicklung in der DACH-Region. Davor war sie Senior Director of Operations bei CIEE und betreute globale Praktikumsprogramme in bis zu 30 Standorten. Levy hat einen Executive MBA von der EDHEC Business School Paris mit Fokus auf digitale Transformation sowie einen Master of Arts von der Universität der Künste Berlin. Außerdem hat sie einen Master of Science von der University of Tennessee, USA. Als deutsch-amerikanische Staatsbürgerin konzentriert sie sich auf interkulturelle Zusammenarbeit, Innovation und Nachhaltigkeit.