Über 42 Wolfsburg
42 Wolfsburg bildet die nächste Generation von Software-Ingenieuren aus. Der pädagogische Ansatz ist speziell: Keine Professoren, keine Klassen, keine Kosten. Letzteres funktioniert vor allem, weil allein Volkswagen elf Millionen Euro für die ersten fünf Jahre beisteuerte. Dazu kommen Gelder von weiteren Sponsoren. Mit einem besonderen Fokus auf Automotive & Mobility Ecosystems bildet 42 Wolfsburg zukünftige Software-Experten für die Automobilindustrie aus. Wolfsburg ist Teil des globalen 42-Netzwerks, mit mehr als 46 Standorten weltweit.
Schon aus weiter Ferne erblickt man die vier Schornsteine. Sie sind Wahrzeichen einer Stadt, die wohl 99,9 Prozent aller Menschen als Erstes mit einem Autobauer in Verbindung bringen. Wolfsburg und VW sind untrennbar miteinander verbunden. Das Stammwerk liegt mitten im Stadtzentrum. An nahegelegen Parkmöglichkeiten mangelt es nicht in der selbsternannten Autostadt. Ebenso schnell wie man diese zu Fuß vom Parkplatz aus erreichen könnte, geht das auch bei einem Gebäude, das sich deutlich von der – sonst eher biederen – Architektur abhebt. Von der Seite betrachtet erinnert das schräg ansteigende Dach an ein Bauwerk, welches man eher von der A7 bei Bispingen kennt. Doch die Verglasung lindert die erste Assoziation an einen „Mikro-Snowdome“ schnell wieder. In den Räumlichkeiten eines ehemaligen Hertie-Kaufhauses befindet sich heute eine Institution, auf der große Hoffnungen der Autoindustrie ruhen – die Programmierhochschule 42 Wolfsburg.
Coden lernen für Jedermann?
Die Hochschule ohne Zulassungsbeschränkungen entpuppt sich jedoch noch vor dem Betreten als Farce. Denn rein kommt hier nur, wer einen entsprechend codierten Chip an den Türsensor halten kann. Aber zumindest, um diesen Chip zu bekommen, gibt es formal keine Einschränkungen. Die Bewerbung für einen der rund 50 Plätze pro Jahrgang steht für alle Menschen offen. Dieser Ansatz ist Teil der DNA der Hochschulen ohne Vorlesungen und Professoren. Wolfsburg ist einer von mehr als 40 Standorten in 25 Ländern – laut eigenen Angaben hat man damit das weltweit größte Lernnetzwerk für Softwareentwicklung geschaffen. Die erste 42-Hochschule entstand im Jahr 2013 in Paris.
Acht Jahre später sorgte die Attraktivität der 42-Idee dafür, dass der Personalmangel in einer anderen, ebenfalls stark vom Fachkräftemangel belasteten Branche wieder ein bisschen größer wurde. Denn im November 2021 entschied sich Heather, die bis dato als Tagesmutter arbeitete, alles auf eine Karte zu setzen: „Ich habe meinen Job gekündigt, bevor ich mich bewarb. Ich habe alles versucht, um einen Platz zu bekommen. Einen Plan B gab es nicht“, erinnert sich die gebürtige US-Amerikanerin. Ihre Risikobereitschaft hat sich ausgezahlt. Heather plant, im Mai 2023 ihr Grundstudium zu beenden. Das anschließende sechsmonatige Vollzeit-Praktikum könnte ihr Start in ein neues Berufsleben werden.
Wer hier nicht redet, lernt kein Programmieren
Läuft alles nach Plan, liegt Heather damit voll im Soll. Denn obwohl es offiziell keine Deadline gibt, soll man das Grundstudium innerhalb von 12 und 18 Monaten bewältigen können. Dabei gilt: Je kommunikativer man ist, umso höher sind die Erfolgsaussichten. Denn anders als an gewöhnlichen Hochschulen orientiert sich der Zeitrahmen nicht an vorgegebenen Kursen oder Vorlesungen. Um die Coding-Aufgaben zu lösen, sind die Studenten gezwungen, untereinander ins Gespräch zu kommen. Peer-to-Peer-Learning heißt das Stichwort. „Dieser Ansatz hat meine Denkweise völlig verändert“, sagt Heather. Sie glaubt jetzt, dass es auch für Unternehmen eine gesündere Denkweise ist, wenn es nicht immer um Wettbewerb geht. „Wenn man sein Team zurücklässt, kommt man nicht weiter“, so die Studentin.
Quereinsteiger-Lebensgeschichten, wie die von Heather gibt es an der Programmierhochschule Wolfsburg 42 reichlich. Die Mehrheit der angehenden Softwareentwickler hat keinerlei Vorerfahrungen im Coden. So war es auch bei Aleksandr. Der knapp zwei Meter großgewachsene Russe studierte Mathematik in Moskau, arbeitete als Wirtschaftsanalytiker. Doch seine eigentliche Leidenschaft galt schon immer der Raumfahrt. „Also habe ich viele Kurse und Lektionen ausprobiert, um das Programmieren zu lernen. Nichts hat geholfen. Dann wollte ich es noch ein letztes Mal versuchen.“ Und dieser letzte Versuch endete bei 42 Moskau. Im Oktober 2022 zog es Aleksandr dann nach Wolfsburg.
Automotive-Themen sollen das Profil von 42 Wolfsburg schärfen
Der Grund war die Aussicht, Teil des ersten Jahrgangs des SEA:ME-Projekts werden zu können. Hinter dem etwas sperrigen Namen – Software Engineering Automotive & Mobility Ecosystems – verbirgt sich ein zwölfmonatiger Kurs, aus dem hochqualifizierte Softwareentwickler für den Mobility-Bereich hervorgehen sollen. Kein Wunder, dass eine der Schirmherrinnen der Wolfsburger Schule Volkswagens IT-Vorständin Hauke Stars ist.
Längst haben die großen Unternehmen das Potenzial dahinter entdeckt. Firmen wie Microsoft, Google und Volkswagen finanzieren das Konzept der Schule. Dadurch zahlen die Studenten keine Gebühren, die Räumlichkeiten in Wolfsburg sind an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr geöffnet. Bis zu 1.800 Studenten können an den 42-Standorten in Deutschland – neben Wolfsburg gibt es noch Berlin und Heilbronn – zeitgleich das Programmieren lernen.
Max Senges im Podcast Nagel/Tiedemann
Das Piscine zeigt, wer wirklich geeignet ist
Um erfolgreich zu sein, geht es von Beginn an voll zur Sache. „Man weiß einfach nicht, was man tun soll. Man muss einfach fragen und es herausfinden und vor allem niemals aufgeben“, fasst Heather ihre ersten vier Wochen bei 42 Wolfsburg zusammen. Im Piscine – zu Deutsch Schwimmbad – zeigt sich, wer den 42-Weg wirklich mitgehen kann und vor allem will. Es hätten sehr viele Leute aufgegeben, aber „wenn man sich wirklich auf die Dinge konzentriert, bei denen man versagt hat, kann man eine Menge lernen“, sagt die 44-Jährige. Den Sprung ins kalte Wasser gemeinsam er- und überleben – das ist der Hintergedanke beim Piscine.
Was ist das Piscine?
Das Piscine (vom französischen Wort für "Schwimmbad") ist die letzte Phase vor der vollen Aufnahme in das 42-Wolfsburg-Programm. Sie dauert vier Wochen und dient dazu, die Grundlagen des Programmierens mit Gleichgesinnten zu erlernen. Das Piscine soll als eine Chance dienen, die Leidenschaft für das Erlernen der Softwareentwicklung im Kontext der von 42 Wolfsburg geförderten Kultur der Zusammenarbeit zu entdecken.
Doch selbst wer die vier Wochen erfolgreich gemeistert hat, kann sich danach nicht zurücklehnen. „Ich hatte vorher Probleme, mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen. Um den Stoff aber zu verstehen, muss man andere Leute fragen“ sagt Aleksandr. Dieses Modell sei hilfreich, auch um später schneller in höhere Positionen im Job zu kommen. Es gehe nicht nur um Programmierkenntnisse, sondern auch um Kommunikationsfähigkeiten.
Für die zweifache Mutter Heather stehen vor allem Selbstdisziplin und Selbststrukturierung im Fokus. Man müsse wirklich motiviert und entschlossen sein und mindestens ein oder zwei Jahre durchhalten können. Es sei eine Frage des Lernstils. „Wenn jemand das Gefühl hat, dass er bereit ist, sein Lernen selbst in die Hand zu nehmen, sollte er es hier versuchen.“